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EU ist für Kiew strategische Wahl

Außenminister Kostyantyn Gryshchenko will »adäquate Schritte« sehen

Von Detlef D. Pries *

Für die Ukraine ist die »Östliche Partnerschaft«, mit der die EU sechs östliche Nachbarstaaten an sich binden will, ohne ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive zu eröffnen, keine Alternative zu einer Vollmitgliedschaft. Das machte Außenminister Kostyantyn Gryshchenko am Mittwoch in Berlin deutlich.

Er müsse diplomatisch antworten, denn er sei schließlich der Außenminister, sagte Gryshchenko auf die Frage nach seiner Meinung zur »Östlichen Partnerschaft«. Die diplomatische Antwort lautete also: »Wir nehmen sie ernst, weil Sie sie ernst nehmen.« Das war an die Adresse der EU-Kommission und der »Altmitglieder« der Union gerichtet und sollte heißen: Wir machen da mit, geben uns aber nicht damit zufrieden. Ohne die Ukraine sei eine europäische Einigung nicht möglich, betonte der Minister, der Konstantin Grischtschenko genannt wurde, als er noch in Diensten des sowjetischen Außenministeriums stand. Nach einer ersten Amtszeit von 2003 bis 2005 ist der 57-jährige gebürtige Kiewer als Kostyantyn Gryshchenko seit März dieses Jahres wieder Chef des diplomatischen Dienstes der Ukraine.

Auf dem Heimweg von Brüssel nach Kiew machte er am Mittwoch in Berlin Station und hielt im Europäischen Haus einen Vortrag über »Die Ukraine und die Europäische Union: für eine neue Etappe der Zusammenarbeit«. Die EU sei für sein Land die »strategische Wahl«, betonte der Minister. Selbst gemeinsame Unternehmungen mit Russland müssten »EU-kompatibel« sein, versuchte er Zweifler zu beruhigen, die jede Verbesserung der ukrainisch-russischen Beziehungen seit dem Amtsantritt des Präsidenten Viktor Janukowitsch im März als Abwendung des Landes von »Europa« beargwöhnen. Immerhin, gab Gryshchenko zu bedenken, sei Russland für die Ukraine der größte Exportmarkt, auch wenn der Außenhandel mit der EU den mit dem Nachbarn im Norden inzwischen übertrifft.

Gryshchenko nannte Gesetze, mit denen Kiew in den vergangenen sieben Monaten langjährigen Brüsseler Forderungen entsprochen habe. Dies sei möglich gewesen, weil Präsident und Parlamentsmehrheit in der Ukraine endlich wieder mit einer Stimme sprechen, weil politische Stabilität herrsche. Damit entkräftete der Minister zugleich die Kritik an der faktischen Rückkehr der Ukraine zum Präsidialsystem, die durch ein Urteil des Verfassungsgerichts kürzlich bestätigt wurde. Die Richter hatten eine Verfassungsänderung, die 2006 in Kraft getreten war und die Macht des Präsidenten begrenzte (seinerzeit war das Viktor Juschtschenko), für ungültig erklärt. Man habe schließlich gesehen, welches Chaos in den vergangenen fünf Jahren geherrscht habe, erinnerte Gryshchenko an den Dauerstreit zwischen Juschtschenko, dem Parlament und der damaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.

Die Ukraine mache also ihre Hausaufgaben, Integration sei aber keine Einbahnstraße, mahnte der ukrainische Chefdiplomat. Man erwarte »adäquate Schritte« der EU. In der Ukraine versteht man darunter vor allem Visafreiheit für die eigenen Landsleute. Ergebnis des EU-Ukraine-Gipfels am 22. November sollte nach Kiewer Vorstellungen die Unterzeichnung eines entsprechenden »Maßnahmenplans« sein, wenngleich es bis zur Fußball-EM 2012 wohl nicht zur Aufhebung der Visapflicht kommen wird. Die stärksten Gegner eines solchen Plans vermutet man übrigens in Berlin, obwohl Gryshchenko eingangs gesagt hatte, der kürzeste Weg der Ukraine nach Brüssel führe über Berlin.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Oktober 2010


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