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Ukraine: Sorgen um die EU-Perspektive

Vorerst konzentriert man sich auf die "eigenen Hausaufgaben"

Am 29. Mai haben die Franzosen, am 1. Juni 2005 die Niederländer in Volksabstimmungen sich gegen die EU-Verfassung ausgesprochen. Dass dies sehr stark auch die Ambitionen der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der EU beeinflussen kann, zeigt der folgende Beitrag des Ukraine-Experten Manfred Schünemann, den wir der Website des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. entnommen haben. (www.vip-ev.de)



Von Manfred Schünemann

Offiziell kommentiert man in Kiew die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden gelassen. An der eigenen Orientierung auf einen möglichst raschen EU-Beitritt ändere sich nichts, betonen Regierungsvertreter. Doch ist man sich der Rückwirkungen des Bebens Im Westen auf die eigene Perspektive durchaus bewusst.

So bekräftigte Vizepremier Oleg Rybatschuk am Rande einer Ukraine-Konferenz in Berlin zwar den Kurs seiner Regierung auf EU-Mitgliedschaft, deutlicher als in der Vergangenheit verwies er allerdings darauf, dass man sich in den nächsten Jahren auf die Erledigung der »ukrainischen Hausaufgaben« konzentrieren wolle, um die Beitrittskriterien zu erfüllen.

Keine Frage, dass solches Herangehen von deutschen Politikern begrüßt wird. Denn es erlaubt ihnen, einer klaren Entscheidung über die Aussichten der Ukraine auszuweichen. CDU-Politiker Volker Rühe wiederholte bei der Konferenz zwar, dass jedes europäische Land das Recht habe, EU-Mitglied zu werden, sofern es Grundwerte und -anforderungen erfülle. Weitergehende Zusagen vermied er aber ebenso wie eine Klärung der Widersprüchlichkeit dieser Position im Hinblick auf die Türkei. Zwar will Rühe keine neuen Grenzen in Europa, aber eine Mitgliedschaft Russlands in EU und NATO schloss er kategorisch aus. Zugleich betonte er mit Blick auf Russland das geostrategische Interesse des Westens an einer starken, unabhängigen Ukraine, was ukrainische Regierungsvertreter sichtlich erfreute.

In einem Gespräch mit ND beteuerte der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Prof. Dr. Serhij Farenik, die neue Staatsmacht ordne »ihr ganzes Tun und Handeln dem Hauptziel unter, beschleunigt europäische Herangehensweisen und europäische Standards im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich durchzusetzen«. Vorrangige Aufgaben seien der Ausbau des Rechtsstaates, die Gewährleistung der Medienfreiheit und die Vorbereitung der im März 2006 bevorstehenden Parlamentswahlen. Überdies müsse man die »eigenen Hausaufgaben« - effiziente Bekämpfung der Korruption und Ausbau der breiten Unterstützung des Integrationskurses durch die Bevölkerung in allen Landesteilen - konsequent fortsetzen. »Bis zum Ukraine-EU-Gipfel im Herbst müssen bereits konkrete Ergebnisse bei der Umsetzung dieser Prioritäten des Aktionsplanes vorzuweisen sein, um der Entschlossenheit der Ukraine, auf dem Wege der europäischen Integration voranzukommen, Nachdruck zu verleihen«, sagte Farenik.

Befragt nach dem Verhältnis der Ukraine zu Russland, bekräftigte der Diplomat den ukrainischen Willen, die Einbindung der Ukraine in den von Russland initiierten Gemeinsamen Wirtschaftsraum (GWR) ausschließlich auf die Mitgliedschaft in einer Freihandelszone zu beschränken. »Jede höhere Integrationsstufe im Rahmen des GWR wäre mit der Umsetzung des europäischen Integrationskurses unvereinbar.«

In diesem Kontext stehe auch das Bemühen, die einseitige Abhängigkeit der Ukraine von Energieträgerlieferungen aus Russland zu überwinden. »Mit diesem Ziel«, so Botschafter Farenik, »wurden bereits Verhandlungen mit Kasachstan, Turkmenistan, Aserbaidshan, Libyen und anderen Staaten aufgenommen.« Großen Wert lege die Ukraine in diesem Bereich auch auf die Kooperation mit Deutschland. Der kürzlich mit der Deutschen Bank vereinbarte Kreditrahmen in Höhe von zwei Milliarden Euro biete gute Voraussetzungen für die Beteiligung deutscher Unternehmen am Ausbau und der Modernisierung des Energiekomplexes der Ukraine.

Gearbeitet werde an einem gemeinsamen Konzept, Erdgas aus Turkmenistan nach Europa zu transportieren. Das war auch Gesprächsgegenstand während des Deutschlandbesuches von Präsident Juschtschenko Anfang März. Mit der Bundesregierung und deutschen Unternehmen wurde ein Expertentreffen zu diesem Thema vereinbart, um der Schaffung eines internationalen Erdgaskonsortiums neue Impulse zu geben. Die ukrainische Seite betonte ihr Interesse, dass sich an einem solchen Konsortium auf paritätischer Basis nicht nur die Ukraine, Russland und Deutschland, sondern auch andere Staaten des EU- und des GUS-Raumes beteiligen.

Zur innenpolitischen Bilanz der neuen Führung seines Landes sagte der Botschafter: »Die reformorientierten Aktivitäten der Regierung in den ersten Monaten ihrer Amtszeit waren vorrangig auf die soziale Ausrichtung des Staatshaushaltes 2005 und auf die Neugestaltung der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Wirtschaft konzentriert.« Das Hauptergebnis der bisherigen Bemühungen bestehe in einer Veränderung der politischen Atmosphäre, des politischen Klimas in der Ukraine. »Dadurch sind Bedingungen entstanden, einen nationalen, demokratischen Konsens in der Gesellschaft zu erreichen«, meinte Farenik und nannte dies die »wichtigste Voraussetzung für ein verbessertes Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und mehr Offenheit bei der Suche nach Lösungen für die Probleme des Landes.«

Der Artikel erschien auch im "Neuen Deutschland" vom 11./12. Juni 2005

Quelle: www.vip-ev.de


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