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Juschtschenko rief die Abgeordneten auf, das Land nicht zu "zerreißen"

Ukraine: Intransparenz, Korruption - und eine Dauerstaatskrise

Die Krise in der Ukraine ist weit davon entfernt, behoben werden zu können. Gerade scheiterte Präsident Viktor Juschtschenko mit seinem Versuch, einen ihm gewogenen Ministerpräsidenten, Juri Jechanurow, vom Parlament wählen zu lassen.

Im Folgenden dokumentieren wir die neuesten Nachrichten zur Staatskrise in der Ukraine sowie einen aktuellen Kommentar dazu von Karl Grobe (Frankfurter Rundschau). Den Anfang macht indessen ein Leserbrief des Russland- und Osteuropa-Experten Kai Ehlers an die Frankfurter Allgemeine Zeitung, worin er zu einem vor kurzem erschienenen Artikel Stellung nimmt. Der Leserbrief ist auch verständlich (und obendrein sehr informativ), wenn man den kritisierten Beitrag nicht kennt.



Ukraine – ein erstaunliches Kunststück!

Ein Leserbrief an die F.A.Z.

Sehr geehrte Redaktion, seit Jahren lese ich, obwohl kein Freund konservativen Denkens, mit sachlichem Gewinn die F.A.Z. Sie können das praktizierte Leser-Demokratie nennen. Die Aufmachung Ihres Artikels von ihrem Autor Konrad Schuller hat mich jedoch trotz allem verblüfft: Musste man aus den Kopfzeilen des Artikels erwarten, eine Kritik derer zu lesen, die die "Orangene Revolution" in der Ukraine als "Machenschaft des Westens" betrachten, wurde man beim Lesen des Textes von einer Einsicht in eben diese Machenschaften nach der anderen geführt. Akribisch Weise werden all die Instrumente der gezielten Einflussnahme aufgezählt, vor allem die US-amerikanischen, denen die orangenen Revolutionäre ihren Sieg zu verdanken haben: die 18,3 Millionen Dollar für „Wahlbezogene Programme“ im Jahr 2004, die Interventionen der OSZE- wie insbesondere auch der diversen US-Stiftungen, NGOs usw., besonders das „Freedom House“, die „Eurasia Foundation“, die von des US-Milliardärs Soros finanzierten Institute etc. pp. Ich muss das hier nicht alles wiederholen. Sachlich zutreffend werden die Scheinargumente der Akteure dieser Institutionen zurückgewiesen, man habe ja nur die Demokratiebewegung unterstützt und es sei kein Zentrum der Einflussnahme erkennbar, das berechtige, von gesteuerten Machenschaften zu sprechen. Es war natürlich ein Zentrum der Einflussnahme erkennbar und dieses wird von Herrn Schuller nach Abwägung aller Pros und Contras der Akteure auch richtig benannt, wenn er schreibt: "Wenn auch eine westliche Verschwörung zum Sturz des Regimes im Sinn einer einheitlich handelnden Gruppe nicht erkennbar ist, so gibt es doch einen losen Personenverbund mit gemeinsamen Zielen und der Kontrolle über beträchtliche Mittel." Die Rede ist, wie erwähnt, immerhin von 18,3 Millionen offiziell deklarierter Gelder, nicht gerechnet die inoffiziell geflossenen Mittel.

Blicke man in die Publikationen aus diesem Kosmos, schreibt Herr Schuller weiter, dann werde deutlich, "dass es hier um mehr geht als nur um eine strikt unparteiliche, rein legalistische 'Stärkung der Demokratie'. Freedom House etwa verbreitet mit entwaffnender Offenheit Konzepte für einen Tyrannensturz durch einen 'gewaltlosen Konflikt' und bringt Oppositionelle aller Kontinente zusammen, um entsprechende Strategien zu entwickeln." Nach dieser Einschätzung zitiert Herr Schuller aus dem Programm dieses Hauses: "Streiks, Reden, Untergrundpresse und -radio, Umzüge, öffentliche Versammlungen, Boykotts sowie soziale, wirtschaftliche, politische und legale Verweigerung" würden als Methoden des Kampfes erörtert. "Viele dieser Gruppen", schreibt Herr Schuller, " waren schon in Georgien und beim Sturz Slobodan Miloŝevićs in Serbien aktiv. Man hat Erfahrung und gibt sie weiter.“

Herr Schnuller bilanziert: Amerika besitze neben seinen Streitkräften noch ein zweites Instrument zur Entmachtung von Diktatoren, das quer durch die Parteien verankert sei, sich von Steuermitteln nähre und mit privaten Stiftungen internationalen Organisationen und ausländischen Regierungen zusammenarbeite und er zitiert Jennifer Windsor, die Exkutivdirektorin des Freedom House mit den Worten: „ Breite Kampagnen auf ziviler Basis haben die größere Aussicht, demokratische Ergebnisse zu erzeugen, als Militärinterventionen oder gewaltsame Aufstände. Außerdem kosten sie weniger.“

„Die stolzesten Trophäen dieser Methode“, so Herr Schuller schließlich“, waren bisher die Tyrannenstürze von Serbien und Georgien. Erst im Winter 2004 aber, während das amerikanische Militär, der Hauptkonkurrent in der Branche ‚Demokratieexport’, im Irak immer noch die täglichen Opfer zählte, ist das Meisterstück hinzugekommen: die Orangene Revolution.“

Hier soll nicht die Frage erörtert werden, wie stabil die Verhältnisse waren, die man in der Ukraine hergestellt hat. Darauf geben die neuesten Turbulenzen um die von Präsident Juschtschenko entlassene Regierung eine unmissverständliche Auskunft. Ich möchte nur meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, wie aus einer solchen unzweideutigen Analyse der der westlichen, speziell US-amerikanischen Intervention wie der des Herrn Schuller, die jeder linken US-Kritik Ehre machen würde, in der Ankündigung des Artikels und offenbar auch im Verständnis des Autors ein Beweis dafür werden kann, dass „keines der für diese These vorgebrachten Argumente einer Überprüfung an den Orten des Geschehens stand“halte. Wie ist das möglich, wo doch der Artikel von Beweisen nur so strotzt? Ist die zivile Intervention mit einem konzertierten, strategisch angelegten und finanziell massiv ausgestatteten Interventionsprogramm für den „Export von Demokratie“ keine „Machenschaft des Westens“? Und haben den „Machenschaften“, die man besser und richtig Interventionen nennt, denn nicht militärische Mittel beiseite gestanden? In Afghanistan? Im Kosovo? Schließlich auch im Kaukasus, wo die Präsenz der US- und NATO-Truppen als mögliches Hintergrund-Szenario, als „erstes Instrument“, wie Herr Schuller es nennt, eben bereitgestellt ist? Am Ende, scheint es, ist die fulminante Uminterpretation der Schullerschen Analyse sogar nicht einmal nur ein journalistischer Trick und ich muss mich bei der Redaktion für den anfänglichen Verdacht der unsauberer journalistischer Arbeit entschuldigen; der Autor selbst scheint die Interventionsstrategie à la Freedom House und Co nicht nur für zulässig, sondern auch noch für demokratisch zu halten. Was würde er wohl sagen, wenn – sagen wir – Russland, China, Indien oder die Türkei das gleiche Recht der Intervention für Ihre Sicht der Dinge und für die Ausweitung ihres politischen Einflusses einsetzten? Da wird, wenn man nicht von bewusster Vernebelung reden möchte, doch wohl mit sehr ungleichen Maßstäben gemessen. Dem Frieden und der Demokratie dient dieser Interventionismus jedenfalls nicht; er ist nur die andere Seite der US-Militärpolitik.

Kai Ehlers

Von Kai Ehlers ist vor kurzem erschienen:

RUSSLAND AUFBRUCH ODER UMBRUCH? ZWISCHEN ALTER MACHT UND NEUER ORDNUNG: GESPRÄCHE UND IMPRESSIONEN
Verlag Entwürfe/Pforte, 8,-- Euro
Im Buchhandel, beim Verlag www.pforteverlag.de oder bei direkt bei Kai Ehlers zu bestellen: info@kai-ehlers.de


D i e n e u e s t e n M e l d u n g e n a u s d e r U k r a i n e

Jechanurow im Parlament vor der Abstimmung
Juri Jechanurow, Kandidat für den Posten des Premiers der Ukraine, verspricht im Falle seiner Bestätigung auf diesem Posten die Regierung zu zwei Dritteln zu erneuern.
"Die Regierung wird zumindest zu zwei Dritteln erneurt", zitiert die Agentur Nowosti-Ukraina die Worte von Jechanurow aus seiner Ansprache im ukrainischen Parlament.
"Auf Vorschlag der Fraktionen haben wir praktisch bereits die Zusammensetzung der Regierung", betonte der Kandidat für den Posten des Regierungschefs und fügte hinzu, dass es in der neuen Regierung keine Menschen geben werde, die Systembusiness betreiben.
Nowosti, 20.09.2005

Abstimmungsniederlage im Parlament
Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko hat eine schwere politische Niederlage erlitten: Knapp zwei Wochen nach der Auflösung der Regierung lehnte das Parlament in Kiew den vom Staatschef eingesetzten neuen Ministerpräsidenten Juri Jechanurow ab. Der 57-Jährige verpasste wegen vieler Enthaltungen die erforderliche Mehrheit um drei Stimmen. Juschtschenko hatte die Abgeordneten zuvor aufgerufen, sich nicht "in Intrigen zu stürzen" und das Land nicht zu "zerreißen". Die entlassene Ministerpräsidentin Julia Timoschenko warf dem Präsidenten vor, nichts gegen Korruption in seinem Umfeld getan zu haben.
Lediglich 223 von 450 Abgeordneten stimmten für Jechanurow; das erforderliche Quorum lag bei 226 Stimmen. Zum Ausgang der Abstimmung äußerte sich Juschtschenko zunächst nicht. Er könnte Jechanurow dem Parlament nun entweder erneut vorschlagen oder einen neuen Kandidaten auswählen. Bis dahin leitet Jechanurow die Regierungsgeschäfte kommissarisch weiter. Juschtschenko hatte die Regierung von Julia Timoschenko wegen Korruptionsvorwürfen vor eineinhalb Wochen entlassen. Seine ehemalige Verbündete der "orangefarbenen Revolution" verkündete daraufhin ihren Bruch mit dem Lager von Juschtschenko.
Vor der Abstimmung hatte Juschtschenko vor dem Parlament gesagt, es gehe nicht um das Schicksal Jechanurows, sondern um das der Ukraine. Gemeinsam mit dem Parlament wolle er für Stabilität sorgen. Bei ihrer Entscheidung müssten die Abgeordneten "nationale Interessen" berücksichtigen. Jechanurow sagte, er wolle für eine Stabilisierung der Wirtschaft sorgen. Gleichzeitig versprach er eine "transparente" Arbeit der Regierung; es werde "keine Experimente" geben.
Juschtschenko habe nichts gegen Korruption in seinem Umfeld getan, sagte Timoschenko. Sie glaube nicht, dass er sich von seinen Vertrauten trennen werde, da er auch familiär eng mit ihnen verbunden sei. Auch glaube sie nicht daran, dass eine strafrechtliche Verfolgung des Präsidenten möglich sei.
AFP, 20.09.2005

Juschtschenko: "Ich schließe niemanden aus"
Der ukrainische Staatspräsident Viktor Juschtschenko will nach der gescheiterten Ministerpräsidentenwahl mit allen Parteien über eine Regierungsbildung sprechen. Auch die von ihm entlassene Exregierungschefin Julia Timoschenko, seine einstige Gefährtin bei der «orangenen Revolution» vor acht Monaten, sei eingeladen. «Ich schließe niemanden aus», sagte Juschtschenko am Mittwoch.
Timoschenko forderte er in Anspielung auf den gemeinsamen Kampf auf, «das Kriegsbeil zu begraben und nicht unsere Ideen vom Unabhängigkeitsplatz zu verletzen - weil wir damals zusammen gestanden haben und den Präsidenten, nicht den Ministerpräsidenten, gewählt haben».
Die von ihm am 8. Juli als Ministerpräsidentin entlassen Timoschenko signalisierte ihre Gesprächsbereitschaft. «Ich bin bereit, mich mit ihm heute zusammen zu setzen und schlage vor, wir bündeln unsere Kräfte und bilden eine neue Regierung», sagte sie.
AP, 21.09.2005

Timoschenko ist bereit, Juschtschenko gemeinsame Bildung einer neuen Regierung der Ukraine vorzuschlagen
Die Expremierministerin der Ukraine Julia Timoschenko erklärte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz, dass sie bereit sei, dem Präsidenten der Ukraine Viktor Juschtschenko vorzuschlagen, gemeinsam eine neue Regierung zu bilden.
In dieser für das Land schweren Zeit sei sie bereit, "dem Präsidenten der Ukraine erneut den Rücken zu stärken".
Timoschenko sagte ferner, dass sie bereit sei, Juschtschenko vorzuschlagen, alle Kränkungen zu vergessen und sich "um ein Jahr zurückzuversetzen".
"Ich will ihm erneut vorschlagen, unsere Kräfte zu vereinigen. Ich bin bereit, mich mit dem Präsidenten persönlich, aber nicht mit seiner Umgebung an den Verhandlungstisch zu setzen", sagte Timoschenko.
Sie meint, dass es notwendig sei, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, um eine Koalitionsregierung zu bilden.
"Sieben Monate vor den Parlamentswahlen kann die Ukraine einen politischen Kampf nicht vertragen. Die neue Regierung muss aus Profis, aus Vertretern aller politischen Kräfte gebildet werden", erklärt die Expremierministerin.
Zugleich sagte Timoschenko: Wenn der Präsident ihr nicht entgegenkommend die Hand reicht, so werde sie nicht zum Schaden des Präsidenten handeln.
Timoschenko bemerkte, dass in ihrer Regierung nicht alles glatt gegangen sei. "Besonders in den ersten Monaten, später hatte sich die Situation verbessert", behauptet die Expremierministerin.
Auf einige negative Aspekte eingehend, auf die sie als Oppositionelle stößt, sagte sie, dass gegen sie ebenso wie zur Zeit des "Kutschmismus" Repressalien organisiert würden. Dabei ging sie nicht näher auf die Formen und Methoden dieser Repressalien ein.
Nowosti, 21.09.2005

K o m m e n t a r

Abgelehnt
Der amtierende ukrainische Regierungschef ist im Parlament durchgefallen. Es fehlten nur drei Stimmen zur erforderlichen absoluten Mehrheit - aber knapp daneben ist auch vorbei. Jurij Jechanurow kann sich zwar nochmals zur Wahl stellen, fürs erste aber hat der Kandidat des Präsidenten eine Schlappe hinnehmen müssen.
Für Präsident Viktor Juschtschenko ist der Schlag schmerzhafter. Sein Plan für den Übergang bis zur Verfassungsreform und zur Parlamentswahl im kommenden März geht nicht mehr auf. Ein Sachwalter- und Experten-Kabinett ohne Zuordnung zu Parteien und Strömungen funktioniert nicht. Der Präsident erntet nun, was er mit dem Rauswurf der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gesät hat, und steht ohne politische Kleider da.
Die Timoschenko-Partei votierte nicht für den Nachfolger. Ihre Verbündeten im Nein sind die Kommunisten und die Anhänger des Machtblocks, den das Volk im Dezember abgewählt hat. Julia Timoschenkos Block stellt sich als Erbe der Orange-Revolution dar, die anderen Nein-Sager sind gerade das nicht. Juschtschenko wittert hinter der Absage an Jechanurow ein organisiertes Komplott gegen die Ukraine. Das zeugt von einem überentwickelten politischen Geruchssinn. Das unfeine Aroma entstammt dem Zerfallsprozess der revolutionären Koalition, die Juschtschenko selbst recht mutwillig zertrümmert hat.
Karl Grobe

Aus: Frankfurter Rundschau, 21. September 2005


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