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"Wir wissen, dass der Marsch noch nicht zu Ende ist. Wir wissen, dass das Rennen noch nicht gewonnen ist"

Die berühmte Rede von Barack Obama zum 50. Jahrestag der Protestmärsche von Selma nach Montgomery


Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von US-Präsident Barack Obama, die er anlässlich des 50. Jahrestags der Protestmärsche von Selma nach Montgomery am 7. März 2015 auf der Edmund Pettus Bridge in Selma (Alabama) hielt. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.

US-Präsident Barack Obama:

Man hat im Leben nicht oft die Ehre, nach einem seiner Helden das Wort zu ergreifen. Und John Lewis ist einer meiner Helden.

Wenn ich mir vorstelle, wie ein jüngerer John Lewis vor 50 Jahren morgens aufwachte und sich auf den Weg zur Brown Chapel machte, war Heldentum wahrscheinlich das letzte, woran er dachte. Er hatte sich den Tag anders vorgestellt. Junge Menschen mit Bettzeug und Rucksäcken liefen umher. Veteranen der Bewegung unterwiesen Neulinge in der Strategie der Gewaltlosigkeit, in der richtigen Art sich gegen Angriffe zu schützen. Ein Arzt beschrieb, was Tränengas im Körper bewirkt, während die Demonstranten Anweisungen für die Unterrichtung ihrer nächsten Angehörigen notierten. Zweifel, Erwartungen und Angst lagen in der Luft. Die Menschen beruhigten sich mit der letzten Strophe des letzten Liedes, das sie sangen:

„Ob auch die Prüfung lange währt, Gott sorgt für dich, sein Kind!
Bald nimmt er dir, was dich beschwert, Gott sorgt für dich, sein Kind!“


Dann führte John Lewis, der alles im Rucksack hatte, was man für eine Nacht im Gefängnis braucht – einen Apfel, eine Zahnbürste und ein Buch über Staatsführung – sie aus der Kirche hinaus auf eine Mission, Amerika zu verändern.

Präsident Bush, Frau Bush, Gouverneur Bentley, Bürgermeister Evans, [Kongressabgeordnete Terri] Sewell, Reverend Strong, Mitglieder des Kongresses, gewählte Vertreter, Fußsoldaten, Freunde, liebe amerikanische Mitbürgerinnen und Mitbürger:

Wie John bereits sagte, gibt es Orte und Augenblicke in Amerika, in denen über das Schicksal der Nation entschieden wurde. Oft sind es Kriegsschauplätze – Concord und Lexington, Appomattox, Gettysburg. Andere Orte stehen für den Wagemut, der den amerikanischen Charakter auszeichnet – Independence Hall und Seneca Fall, Kitty Hawk und Cape Canaveral.

Selma ist ein solcher Ort. An einem Nachmittag vor 50 Jahren trafen viele Teile unserer turbulenten Geschichte – der Makel der Sklaverei und das Leid des Bürgerkrieges, das Joch der Rassentrennung und die Tyrannei der Jim-Crow-Gesetze, der Tod von vier kleinen Mädchen in Birmingham und der Traum eines Baptistenpredigers – auf dieser Brücke zusammen.

Es war kein Zusammenprall von Armeen, sondern ein Willenskampf, ein Wettkampf um die wahre Bedeutung Amerikas. Dank vielen Männern und Frauen wie John Lewis, Joseph Lowery, Hosea Williams, Amelia Boynton, Diane Nash, Ralph Abernathy, C.T. Vivian, Andrew Young, Fred Shuttlesworth, Dr. Martin Luther King jr. und so vielen anderen konnte die Idee eines fairen und gerechten Amerikas, eines inklusiven und eines großzügigen Amerikas schließlich triumphieren.

Wie so oft im Verlauf der amerikanischen Geschichte können wir auch diesen Augenblick nicht isoliert betrachten. Der Marsch nach Selma war Teil einer größeren Bewegung, die Generationen umfasste, und seine Anführer an diesem Tag reihten sich in eine lange Reihe von Helden ein.

Wir versammeln uns hier, um sie zu feiern. Wir versammeln uns hier, um den Mut ganz normaler Amerikaner zu würdigen, die Gummiknüppel und Schlagstock, Tränengas und trampelnde Pferdehufe ertragen haben; es waren Männer und Frauen, die trotz strömenden Blutes und gesplitterter Knochen ihrem Nordstern treu blieben und weiter Richtung Gerechtigkeit marschierten.

Sie taten, was die Heilige Schrift verlangt: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ In den kommenden Tage kehrten sie immer wieder dorthin zurück. Wenn der Trompetenruf erschallte, der mehr Menschen dazu bewegen sollte, mitzumachen, kamen sie: Schwarze und Weiße, Junge und Alte, Christen und Juden. Sie schwenkten die amerikanische Flagge und sangen die gleichen Lieder voller Glaube und Hoffnung. Bill Plante, ein weißer Journalist, der damals über die Protestmärsche berichtete und heute hier bei uns ist, scherzte, dass die wachsende Zahl der Weißen die Qualität des Gesangs beeinträchtigte. Für diejenigen, die dort demonstrierten, klangen die alten Gospelsongs allerdings nie süßer.

Mit der Zeit schwoll ihr Chor an und erreichte schließlich Präsident Johnson. Er schickte ihnen Schutz, wandte sich an die Nation und wiederholte ihren Aufruf, damit Amerika und die Welt ihn hörten: „We shall overcome.” Der Glaube dieser Männer und Frauen war unglaublich stark – ihr Glaube an Gott, aber auch an die Vereinigten Staaten.

Die Amerikanerinnen und Amerikaner, die diese Brücke überquerten, waren körperlich nicht imponierend. Aber sie gaben Millionen Menschen Hoffnung. Sie waren keine gewählten Amtsträger. Aber sie führten eine ganze Nation an. Sie marschierten als Amerikaner, die Hunderte von Jahren unter brutaler Gewalt und täglich unter unzähligen Erniedrigungen gelitten hatten. Sie wollten keine Sonderbehandlung, sondern lediglich die Gleichbehandlung, die ihnen vor fast einem Jahrhundert versprochen worden war.

Was sie hier getan haben, wird noch lange widerhallen. Nicht, weil der Wandel, den sie angestoßen haben, vorherbestimmt war, nicht, weil ihr Sieg vollständig war, sondern, weil sie bewiesen haben, dass Wandel gewaltlos möglich ist, dass Liebe und Hoffnung Hass besiegen können.

Wenn wir heute ihrer Errungenschaften gedenken, tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass damals viele, die an der Macht waren, diese Protestmärsche nicht gelobt, sondern verurteilt haben. Sie wurden damals als Kommunisten, Halbblut oder Agitatoren von außen, sexuell und moralisch Verkommene und noch Schlimmeres bezeichnet, sie wurden alles genannt, nur nicht bei dem Namen, den ihre Eltern ihnen gegeben hatten. Ihr Glaube wurde infrage gestellt. Sie wurden bedroht. Ihr Patriotismus wurde angezweifelt.

Aber was könnte amerikanischer sein als das, was hier an diesem Ort geschah? Wer könnte die Idee von Amerika besser verkörpern als einfache und demütige Menschen – Unbesungene, Geknechtete, Träumer niedrigen Standes, die nicht in Reichtum und Privilegien geboren wurden, die nicht einer, sondern vielen religiösen Tradition angehören und zusammenkommen, um den Weg ihres Landes zu gestalten?

Was könnte ein größeres Bekenntnis zum Glauben an das amerikanische Experiment sein als dieses? Gibt es eine größere Form des Patriotismus als den Glauben daran, dass Amerika noch nicht fertig ist, dass wir stark genug sind, um selbstkritisch zu sein, dass jede weitere Generation auf unsere Unvollkommenheit blicken und entscheiden kann, dass es in unserer Macht steht, diese Nation neu zu gestalten und unseren höchsten Idealen näherzukommen?

Deshalb ist Selma kein Einzelfall, der aus der amerikanischen Erfahrung heraussticht. Deshalb ist es kein Museum oder statisches Denkmal, das man nur aus der Ferne betrachten sollte. Vielmehr verkörpert Selma ein Bekenntnis, das wir in unseren Gründungsdokumenten niedergeschrieben haben: „Wir, das Volk ... , von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen ...“ „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen worden sind.“

Das sind nicht nur Worte. Dieses Bekenntnis ist lebendig, ein Aufruf zum Handeln, eine Anleitung für das Staatsbürgertum und ein Beharren darauf, dass freie Männer und Frauen in der Lage sind, ihr Schicksal selbst zu gestalten. Für Gründerväter wie Franklin und Jefferson, für Präsidenten wie Lincoln und Franklin Delano Roosevelt, hing der Erfolg unseres Experiments der Selbstverwaltung davon ab, dass alle Bürger für diese Arbeit gewonnen werden können. Und genau das feiern wir hier in Selma. Darum ging es bei dieser Bewegung, dieser einen Etappe unserer Reise in Richtung Freiheit.

Die amerikanische Mentalität, die diese jungen Männer und Frauen dazu bewegt hat, die Fackel aufzunehmen und über die Brücke zu tragen, ist dieselbe Mentalität, die die Patrioten zu einer Revolution anstatt zu Tyrannei bewegt hat. Genau diese Mentalität hat Einwanderer über die Meere und den Rio Grande hierher geführt, die gleiche Mentalität hat Frauen dazu bewegt, das Wahlrecht anzustreben, Arbeitnehmer, sich gegen einen ungerechten Status quo aufzulehnen, und diese Mentalität hat uns dazu bewegt, eine Flagge in Iwo Jima und auf dem Mond aufzustellen.

Diese Vorstellung hatten Generationen von Bürgerinnen und Bürgern, die daran glaubten, dass Amerika immer unfertig sein würde, die glaubten, dass sein Land zu lieben mehr erfordert als es nur zu loben und unbequemen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen. Es erfordert eine gelegentliche Störung sowie die Bereitschaft, sich für das auszusprechen, was richtig ist, und den Status quo zu erschüttern. Das ist Amerika.

Das macht uns einmalig. Das festigt unseren Ruf als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Junge Menschen hinter dem Eisernen Vorhang haben Selma gesehen und eines Tages die Mauer niedergerissen. Junge Menschen in Soweto hörten Bobby Kennedy über Wellen der Hoffnung sprechen und schafften schließlich die Geißel der Apartheid ab. Junge Menschen in Birma gingen lieber ins Gefängnis, als sich der Militärherrschaft zu unterwerfen. Sie hatten gesehen, was John Lewis getan hatte. Von den Straßen in Tunis bis zum Maidan in der Ukraine kann diese Generation junger Menschen aus diesem Ort Kraft schöpfen, wo die Machtlosen die größte Macht der Welt verändern und ihre Führung dazu bringen konnten, die Grenzen der Freiheit zu erweitern.

Sie haben gesehen, wie diese Idee hier in Selma (Alabama) Wirklichkeit wurde. Sie haben gesehen, wie sich diese Idee hier in den Vereinigten Staaten manifestierte.

Aufgrund von Bewegungen wie dieser wurde ein Wahlrechtsgesetz verabschiedet. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Barrieren wurden abgebaut. Die Veränderungen, die diese Männer und Frauen bewirkt haben, ist hier in der Präsenz von Afroamerikanern sichtbar, die Vorstandssitzungen leiten, auf dem Richterstuhl sitzen, die in kleinen und großen Städten in Ämter gewählt wurden, vom Black Caucus im Kongress bis ins Oval Office.

Aufgrund ihres Handelns haben sich nicht nur für Schwarze die Türen für Chancen geöffnet, sondern für alle Amerikaner. Frauen sind durch diese Türen gegangen. Lateinamerikaner sind durch diese Türen gegangen. Amerikaner asiatischer Herkunft, homosexuelle Amerikaner, Amerikaner mit Behinderungen – sie alle sind durch diese Türen gegangen. Ihr Unterfangen gab dem gesamten Süden die Chance, wiederaufzuerstehen, und zwar nicht, indem er die Vergangenheit wiederbelebte, sondern indem er die Vergangenheit überwand.

Was für eine wunderbare Sache, hätte Dr. King vielleicht gesagt. Welch ehrwürdige Schuld wir doch haben. Was uns dazu führt zu fragen, wie wir diese Schuld begleichen können.

Zunächst einmal müssen wir erkennen, dass eine eintägige Gedenkfeier, so würdig sie auch sein mag, nicht ausreicht. Wenn Selma uns etwas gelehrt hat, dann, dass unsere Arbeit nie getan ist. Das amerikanische Experiment der Selbstverwaltung gibt jeder Generation ein Ziel vor, auf das es hinzuarbeiten gilt.

Selma lehrt uns auch, dass wir unseren Zynismus ablegen müssen, um zu handeln. Wenn es darum geht, nach Gerechtigkeit zu streben, können wir uns weder Selbstzufriedenheit noch Verzweiflung leisten.

Erst diese Woche wurde ich gefragt, ob ich meine, der Bericht des Justizministeriums über Ferguson zeige, dass sich in Bezug auf Rassenfragen in diesem Land wenig geändert habe. Ich konnte die Fragen verstehen, der Tenor des Berichts kommt einem leider nur allzu bekannt vor. Er erinnert an die Misshandlungen und die Geringschätzung von Bürgern, die die Bürgerrechtsbewegung ausgelöst haben. Aber ich widersprach der Auffassung, es habe sich nichts geändert. Was in Ferguson geschehen ist, mag nicht einmalig sein, aber es ist nicht mehr endemisch. Es gibt keine Gesetze oder Gewohnheitsrechte mehr, die es zulassen. Vor der Bürgerrechtsbewegung sah das noch ganz anders aus.

Wir leisten der Sache der Gerechtigkeit keinen guten Dienst, wenn wir zu verstehen geben, Vorurteile und Diskriminierung seien unveränderlich, die Kluft zwischen den Ethnien sei ein inhärenter Bestandteil der Vereinigten Staaten. Wenn Sie der Meinung sind, in den letzten 50 Jahren habe sich nichts verändert, dann sollten sie jemanden fragen, der Selma oder Chicago oder Los Angeles in den Fünfzigerjahren erlebt hat. Fragen Sie die Geschäftsführerin, die einst dem Schreibpool zugeteilt worden wäre, ob sich nichts geändert hat. Fragen Sie ihren schwulen Freund, ob es einfacher ist, sich heute in den Vereinigten Staaten stolz zu seiner Sexualität zu bekennen als vor 30 Jahren. Diese Fortschritte, diese hart erkämpften Fortschritte – unsere Fortschritte – zu leugnen, würde uns unserer eigenen Handlungsfähigkeit, unserer Verantwortung, unserer Fähigkeit berauben, alles zu tun, was wir können, um die Vereinigten Staaten zu verbessern.

Ein häufiger gemachter Fehler ist in der Tat, Ferguson als Einzelfall zu bezeichnen, zu behaupten, es gäbe keinen Rassismus mehr, die Arbeit, die Männer und Frauen nach Selma gebracht hat, sei nun abgeschlossen und die verbleibenden ethnischen Spannungen gingen darauf zurück, dass einige die „Rassenkarte“ für ihre Zwecke einsetzten. Wir brauchen keinen Bericht über Ferguson, um zu wissen, dass das nicht stimmt. Wir müssen lediglich unsere Augen, Ohren und Herzen öffnen, um zu wissen, dass die Geschichte der ethnischen Gruppen in diesem Land ihren langen Schatten auf uns wirft.

Wir wissen, dass der Marsch noch nicht zu Ende ist. Wir wissen, dass das Rennen noch nicht gewonnen ist. Wir wissen, wenn wir dieses gesegnete Ziel, alle nach unserem Charakter beurteilt zu werden, erreichen wollen, müssen wir das einräumen, uns der Wahrheit stellen. „Wir sind fähig, eine große Last zu tragen“, schrieb James Baldwin einst, „wenn wir erst erkennen, dass die Last real ist und wir in der Realität ankommen“.

Die Vereinigten Staaten können alles schaffen, wenn sie dem Problem direkt ins Auge blicken. Es ist eine Aufgabe für alle Amerikanerinnen und Amerikaner, nicht nur für einige. Nicht nur für Weiße. Nicht nur für Schwarze. Wenn wir den Mut derer würdigen wollen, die an diesem Tag marschiert sind, dann müssen wir alle dem Ruf folgen, ihre moralische Vorstellungskraft nachzuahmen. Wie sie damals, müssen wir alle jetzt die absolute Dringlichkeit spüren. Wie sie damals, müssen wir alle erkennen, dass Veränderungen von unserem Handeln abhängig sind, von unserer Einstellung, von den Dingen, die wir unseren Kindern beibringen. Wenn wir diese Anstrengungen unternehmen, so schwer es auch manchmal erscheinen mag, dann können Gesetze verabschiedet und Menschen aufgerüttelt werden, dann kann ein Konsens entstehen.

Mit einer solchen Anstrengung können wir gewährleisten, dass unser Strafrechtssystem allen dient und nicht nur einigen. Gemeinsam können wir das gegenseitige Vertrauen stärken, auf dem die Polizeiarbeit beruht – den Gedanken, dass Polizeibeamte Mitglieder der Gemeinschaft sind, für deren Schutz sie ihr Leben riskieren. Die Bürger in Ferguson, New York und Cleveland wollen genau das, was auch die jungen Menschen wollten, die hier vor 50 Jahren marschiert sind - den Schutz des Gesetzes. Gemeinsam können wir gegen ungerechte Urteile und überfüllte Gefängnisse angehen und gegen die kläglichen Umstände, die zu viele Jungen der Chance berauben, Männer zu werden, und unser Land zu vieler Männer beraubt, die gute Väter, Arbeitnehmer und Nachbarn werden könnten.

Mit einiger Anstrengung können wir etwas gegen die Armut tun und Hindernisse für Chancen aus dem Weg räumen. Amerikaner akzeptieren keine Schmarotzer. Sie glauben auch nicht an Ergebnisgleichheit. Aber wir erwarten Chancengleichheit. Wenn wir es ernst meinen, wenn wir nicht nur Lippenbekenntnisse abgeben, sondern es wirklich ernst meinen und bereit sind, dafür Opfer zu bringen, dann können wir gewährleisten, dass jedes Kind eine Ausbildung erhält, die diesem neuen Jahrhundert angemessen ist, die die Vorstellungskraft erweitert, den Blick auf höhere Ziele richtet und diesen Kindern die Fähigkeiten vermittelt, die sie brauchen. Wir können sicherstellen, dass jeder, der arbeiten will, die Würde eines Arbeitsplatzes, einen gerechten Lohn, eine echte Stimme und festere Sprossen auf der Leiter in die Mittelschicht erhält.

Mit etwas Anstrengung können wir den Grundstein unserer Demokratie schützen, für den so viele über diese Brücke marschiert sind: das Wahlrecht. Heute, im Jahr 2015, 50 Jahre nach Selma, gibt es in diesem Land Gesetze, die es schwerer machen, sein Wahlrecht auszuüben. Während wir hier sprechen, werden weitere derartige Gesetzesentwürfe vorgelegt. Das Wahlrechtsgesetz, das Ergebnis von so viel Blutvergießen, so viel Schweiß und Tränen, das Produkt so vieler Opfer ungezügelter Gewalt wird dadurch geschwächt, seine Zukunft erbitterten politischen Streitigkeiten ausgesetzt.

Wie kann das sein? Das Wahlrechtsgesetz war eine der krönenden Errungenschaften unserer Demokratie, das Ergebnis von Anstrengungen der Republikaner und Demokraten. Präsident Reagan unterzeichnete seine Verlängerung in seiner Amtszeit. Präsident George W. Bush unterzeichnete seine Verlängerung ebenfalls in seiner Amtszeit. 100 Mitglieder des Kongresses sind heute zu Ehren der Menschen hier, die bereit waren, zu sterben, um dieses Recht zu schützen. Wenn wir diesen Tag ehren wollen, dann lassen Sie diese 100 Kongressabgeordneten zurück nach Washington gehen und gemeinsam mit weiteren 400 Abgeordneten zusagen, die Wiederherstellung des Gesetzes in diesem Jahr zu ihrer Aufgabe zu machen. So erweisen wir ihm auf dieser Brücke die Ehre.

Natürlich ist unsere Demokratie nicht allein Aufgabe des Kongresses, der Gerichte oder des Präsidenten. Wenn jedes neue Gesetz zur Wahlerschwerung heute kassiert würde, hätten wir hier in den Vereinigten Staaten trotzdem noch eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen freier Staaten. Sich vor 50 Jahren hier in Selma und in einem Großteil des Südens als Wähler registrieren zu lassen, bedeutete, Fragen nach der Anzahl der Gummibärchen in einem Glas oder der Zahl der Seifenblasen auf einem Stück Seife richtig beantworten zu müssen. Es bedeutete, seine Würde zu riskieren – und manchmal auch sein Leben.

Welche Entschuldigung haben wir heute dafür, nicht zu wählen? Wie können wir so sorglos ein Recht aufgeben, für das so viele gekämpft haben? Wie können wir unsere Macht, unsere Stimme bei der Gestaltung der Zukunft der Vereinigten Staaten so vollständig abgeben? Warum zeigen wir auf andere, wenn wir uns die Zeit nehmen könnten, einfach ins Wahllokal zu gehen? Wir geben unsere Macht ab.

Liebe marschierende Mitbürger, in den vergangenen 50 Jahren hat sich Vieles verändert. Wir haben Krieg erlebt und Frieden geschaffen. Wir haben technologische Wunder erlebt, die alle Bereiche unseres Lebens berühren. Wir halten Annehmlichkeiten für selbstverständlich, die sich unsere Eltern kaum hätten vorstellen können. Was sich allerdings nicht geändert hat, ist das Gebot der Staatsbürgerschaft, diese Bereitschaft eines 26-jährigen Diakons, eines unitarischen Pastors oder einer jungen Mutter mit fünf Kindern, zu beschließen, dass sie dieses Land so sehr lieben, dass sie alles tun würden, um sein Versprechen zu verwirklichen.

Das bedeutet es, die Vereinigten Staaten zu lieben. Das bedeutet es, an die Vereinigten Staaten zu glauben. Das bedeutet es, wenn wir sagen, dass die Vereinigten Staaten außergewöhnlich sind.

Denn wir sind aus dem Wandel geboren. Wir haben die alten Aristokratien gebrochen, indem wir erklärt haben, unsere Ansprüche ergäben sich nicht aus unserer Abstammung, sondern aus unserer Ausstattung mit unveräußerlichen Rechten durch unseren Schöpfer. Wir leiten unsere Rechte und Verpflichtungen aus einem System der Selbstverwaltung des Volkes, vom Volk und für das Volk ab. Deshalb argumentieren und kämpfen wir mit so viel Leidenschaft und Überzeugung: Weil wir wissen, dass unsere Anstrengungen etwas bewirken. Wir wissen, Amerika ist, was wir daraus machen.

Sehen Sie sich unsere Geschichte an. Wir sind Lewis und Clark und Sacajawea, Vorreiter, die sich der Herausforderung des Unbekannten gestellt haben, denen Horden von Farmern und Minenarbeitern, Unternehmern und Krämern folgten. Das ist unsere Lebenseinstellung. Das sind wir.

Wir sind Sojourner Truth und Fannie Lou Hamer, Frauen, die ebenso viel konnten wie Männer und einiges mehr. Wir sind Susan B. Anthony, die das System änderte, bis das Gesetz diese Wahrheit widerspiegelte. Das ist unser Charakter.

Wir sind die Einwanderer, die sich auf Schiffen versteckt haben, um in dieses Land zu gelangen, die niedergedrückten Massen, die sich danach sehnten, frei zu atmen – Holocaust-Überlebende, Überläufer aus der Sowjetunion, die „verlorenen Jungen“ aus dem Sudan. Wir sind die hoffnungsvollen Suchenden, die den Rio Grande überqueren, weil wir ein besseres Leben für unsere Kinder wollen. So ist unsere Nation entstanden.

Wir sind die Sklaven, die das Weiße Haus und die Wirtschaft des Südens aufgebaut haben. Wir sind die Farmhelfer und Cowboys, die den Westen erschlossen haben und die zahllosen Arbeiter, die die Eisenbahnschienen verlegt, Hochhäuser gebaut und sich für Arbeitnehmerrechte eingesetzt haben.

Wir sind die GIs mit den jungenhaften Gesichtern, die für die Befreiung eines Kontinents gekämpft haben. Und wir sind die Tuskeegee Airmen, die Codesprecher der Navajo und die Amerikaner japanischer Herkunft, die sogar noch für dieses Land gekämpft haben, als man ihnen ihre eigene Freiheit verweigerte.

Wir sind die Feuerwehrleute, die am 11. September 2001 in die Gebäude rannten, die Freiwilligen, die sich für den Kampf in Afghanistan und dem Irak gemeldet haben. Wir sind die homosexuellen Amerikaner, deren Blut sich auf die Straßen von San Francisco und New York ergoss, ebenso wie das Blut auf dieser Brücke rann.

Wir sind die Geschichtenerzähler, Autoren, Dichter und Künstler, denen Ungerechtigkeit ein Graus ist, die Scheinheiligkeit verachten, die den Stimmlosen eine Stimme geben und die Wahrheiten aussprechen, die ausgesprochen werden müssen.

Wir sind die Erfinder von Gospel, Jazz und Blues, Bluegrass und Country, Hip-Hop und Rock 'n' Roll sowie unseres ganz eigenen Sounds, in dem das ganze süße Leid und die unbändige Freude der Freiheit erklingt.

Wir sind Jackie Robinson, der die Verachtung, die sich gegen ihn richtete, ebenso ertrug wie die Spikes, Stollen und Würfe, die direkt auf seinen Kopf zielten, und die Mannschaft trotzdem zum Gewinn der World Series führte.

Wir sind die Menschen, über die Langston Hughes geschrieben hat: „Wir bauen unsere Tempel für morgen, so stark und mächtig wie wir können“. Wir sind die Menschen, über die Emerson schrieb, dass wir „für Wahrheit und Ehre einstehen und lange leiden“ und „nie müde sind, solange wir weit genug sehen können“.

Das sind die Vereinigten Staaten. Keine vorgefertigten Fotos, keine retuschierte Geschichte, keine lahmen Versuche, einige als amerikanischer zu darzustellen als andere. Wir respektieren die Vergangenheit, verzehren uns aber nicht nach ihr. Wir haben keine Angst vor der Zukunft, wir greifen danach. Amerika ist kein fragiler Gegenstand. Wir sind groß, oder in Whitmans Worten, weiträumig, Vielheiten enthaltend. Wir sind ausgelassen und vielfältig, voller Energie und ewig jung im Geiste. Deshalb konnte jemand wie John Lewis im reifen Alter von 25 Jahren einen so mächtigen Protestmarsch anführen.

Das müssen die jungen Menschen, die heute hier sind und überall im Land zuhören von diesem Tag mitnehmen. Sie sind Amerika. Uneingeschränkt durch Gewohnheiten und Konventionen. Frei von dem was ist, weil sie bereit sind, nach dem zu greifen, was sein sollte.

Überall in diesem Land gibt es erste Schritte zu tun, Neuland zu erkunden, weitere Brücken zu überqueren. Auf Sie, die im Herzen Jungen und Furchtlosen, die vielfältigste und gebildetste Generation unserer Geschichte, wartet unsere Nation – wir werden Ihnen folgen.

Selma hat uns gezeigt, dass Amerika nicht das Projekt einer einzelnen Person ist, denn das mächtigste Wort unserer Demokratie ist das Wort „wir“. „Wir, das Volk.“ „We shall overcome.” „Yes we can.“ Ja, wir schaffen das. Dieses Wort gehört niemandem allein. Es gehört allen zusammen. Oh, welch wunderbare Aufgabe uns übertragen wurde, stets zu versuchen, diese unsere großartige Nation zu verbessern.

50 Jahre nach dem Blutigen Sonntag ist unser Marsch nicht beendet, aber wir nähern uns dem Ziel. 239 Jahre nach der Gründung dieser Nation ist unsere Union noch nicht vollkommen, aber wir nähern uns dem Ziel. Unsere Aufgabe ist leichter geworden, weil bereits jemand die erste Meile zurückgelegt hat. Jemand ist bereits über die Brücke gegangen. Wenn sich der Weg zu mühsam anfühlt, wenn sich die Fackel, die uns übergeben wurde, zu schwer anfühlt, erinnern wir uns an diese ersten Reisenden. Ihr Vorbild wird uns Kraft geben, und wir werden an den Worten des Propheten Jesaja festhalten: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Wir ehren diejenigen, die gelaufen sind, damit wir rennen können. Wir müssen rennen, damit unsere Kinder auffahren mit Flügeln. Wir werden nicht matt werden, denn wir glauben an die Kraft eines großartigen Gottes, und wir glauben an das heilige Versprechen dieses Landes.

Möge Gott die Kämpfer für Gerechtigkeit segnen, die nicht mehr unter uns weilen, und möge er die Vereinigten Staaten von Amerika segnen. Vielen Dank Ihnen allen.

Originaltext: Remarks by the President at the 50th Anniversary of the Selma to Montgomery Marches
Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/



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