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Angriff auf allen Ebenen

Revolutionäre Jugendgruppen melden sich zu Wort: Proteste gegen Polizeigewalt in den USA radikalisieren sich und fordern »etablierte« Bürgerrechtsbewegung heraus

Von Jürgen Heiser *

Die Widerstands- und Protestbewegung gegen rassistische Polizeigewalt in den USA entfaltet derzeit große Potentiale, wie der Aktionstag am Samstag mit einer Beteiligung Hunderttausender Menschen gezeigt hat. junge-Welt-Kolumnist Mumia Abu-Jamal brandmarkte in dieser Zeitung am Montag die Gewalttaten weißer Polizisten als »Terrorismus« und verwies darauf, dass sich das Verhältnis von Polizei und Justiz zur schwarzen Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten grundsätzlich nicht verändert hat.

Verändert hat sich aber noch etwas anderes nicht: Die Entwicklung oppositioneller Bewegungen verläuft nicht ohne Widersprüche und nicht ohne Ringen um die richtige Strategie und Taktik. Das war schon in den 1960er Jahren so, als die überwiegend auf Ausgleich mit dem weißen Establishment ausgerichtete Politik der schwarzen Bürgerrechtsbewegung praktische Kritik von jungen radikalen Kräften wie der 1966 gegründeten Black Panther Party (BPP) erfuhr.

Nicht anders ist es heute. Wie die Internetplattform The Root nach der zentralen Demonstration »Gerechtigkeit für alle« am Samstag meldete, werfen junge Aktivisten aus Ferguson dem von Al Sharptons »National Action Network« (NAN) und der »National Urban League« (NUL) geführten Bündnis vor, sie als Repräsentanten der Jugendbewegung gegen Rassismus daran gehindert zu haben, auf der Kundgebung in Washington D.C. zu reden.

Der Vorwurf lautet, Al Sharpton und andere etablierte Bürgerrechtler distanzierten sich faktisch von der revolutionären Jugendbewegung, die seit den tödlichen Schüssen auf Michael Brown im August in Ferguson die Initiative in die Hand genommen hat, indem sie sie nicht zu Wort kommen ließen. Johnetta Elzie, eine der führenden Sprecherinnen der Bewegung in Ferguson und St. Louis, erklärte gegenüber The Root, ihr und anderen jungen Aktivistinnen hätten Offizielle der NAN den Zugang zum Mikrophon verweigert. Sie seien in die Hauptstadt gekommen, so die 25jährige, um gemeinsam den Protest in die Öffentlichkeit zu tragen, »und nicht um hören zu müssen, dass wir einen VIP- oder Presseausweis brauchen, und schließlich zurückgewiesen werden«. Als sie zur Bühne gelangen wollten, hätten NAN-Ordner ihnen gesagt, ohne VIP- oder Presseausweis dürften sie da nicht hin, so Elzie. Als sie gesehen hätten, dass außer den Eltern von Michael Brown niemand aus Ferguson eine Chance bekommen würde zu reden, so die Aktivistin Erika Totten, hätten sie beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, »wie wir das immer tun«. Schließlich seien sie doch auf die Bühne gelangt, das Mikrophon sei aber sofort abgestellt worden. Totten, die im Internet auf Fotos zu sehen ist, wie sie mit Ordnern um das Mikrophon ringt, erklärte gegenüber dem Nachrichten- und Dokumentarkanal The Real News.com: »Wir waren es doch, die in Ferguson und D.C. und New York auf die Straße gegangen sind, wir haben mit dem Aufstand angefangen!«

Auch ein Vermittlungsversuch von Reverend Al Sharpton half nichts. »Wir sind doch nicht hier, um die hohen Tiere zu markieren«, lautete seine Mahnung auf der Bühne. »Reicht den Brüdern und Schwestern, den jungen Leuten aus Ferguson die Hand!« Auch aus der Menge wurden die Aktivistinnen aus Ferguson unterstützt. »Lasst sie reden! Lasst sie reden!« Doch vergeblich. An diesem Tag sprachen nur die etablierten Redner der Bürgerrechtsbewegung. Für The Root Anlass, daran zu erinnern, dass auch schon die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre mit den Widersprüchen ihrer reformerischen und revolutionären Flügel leben musste. Wofür Martin Luther King einerseits und Malcom X andererseits gestanden hätten, seien jedoch »zwei extreme Standpunkte ein und desselben Kampfes« gewesen.

Für Johnetta Elzie sind jedenfalls die Zeiten, in denen nach rassistischen Gewalttaten einfach zur Tagesordnung übergegangen werden konnte, vorbei. »Wir bauen unsere Bündnisse aus, und es passiert im Moment dauernd etwas«, sagte sie The Root. »Wir arbeiten daran, Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen, die uns unser Versammlungsrecht nehmen wollen« so Elzie. »Das braucht alles Zeit, aber wir greifen auf allen Ebenen an.«

* Aus: junge Welt, Dienstag, 16. Dezember 2014


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