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Warum Widerstand gegen die Israel-Lobby in den USA nicht länger politischen Selbstmord bedeutet

Von Phyllis Bennis, Washington *

Mit dem Zusammenbruch des ägyptischen Vorschlags für eine Feuerpause setzt sich der Horror von Israels neuestem Angriff auf Gaza fort. Mindestens 185 Menschen sind bereits getötet worden, fast 80 Prozent davon Zivilisten. Beinahe die Hälfte davon sind Frauen und Kinder. Wenigstens siebzig Gebäude wurden gezielt angegriffen und zerstört. Fünf Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge, einschließlich eines Krankenhauses, sind durch Luftschläge beschädigt worden. Es gab einen direkten Luftangriff auf ein Zentrum für Schwebehinderte. Das war eine der von Israel vielgepriesenen „sorgfältig gezielten“ Bombardierungen, verbunden mit der mittlerweile fast ikonischen Botschaft des „Anklopfen auf dem Dach“ durch israelische Bomber – nämlich die kleine Bombe die das Eintreffen von noch viel Schlimmerem signalisiert. Das war kein Zufall. Drei Menschen, zwei Patienten und eine Pflegekraft wurden dort getötet. Und es geht noch weiter.

Und der Kongress – in der Tat fast das ganze offizielle Washington – spricht praktisch mit einer Stimme: wir stehen an Israels Seite. Israel hat das Recht sich selbst zu „verteidigen“. Kein Land würde nur zuschauen und das zulassen. Aber etwas ist anders dieses Mal. Und nicht lediglich, dass der Angriff anders ist und schlimmer. Der Unterschied besteht in dem politischen Umfeld, in dem dieser Angriff stattfindet, insbesondere das politische Umfeld hier in der Vereinigten Staaten. Diejenigen von uns, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, die US-Politik gegenüber dem Nahen/Mittleren Osten zu ändern, sind mit den schlechten Nachrichten täglich konfrontiert: diese Politik hat sich nicht geändert, und Milliarden von Dollars an Hilfsgeldern und unkritische politische, diplomatische und militärische Unterstützung für Israel bleibt konstant.

Aber es gibt auch ein paar gute Nachrichten. Die werden aber nur wahrgenommen, wenn man sich die Zeit nimmt, über die täglichen schlechten Nachrichten hinauszusehen. Die gute Nachricht ist, dass sich der Diskurs dramatisch verschoben hat – in der Mainstream Berichterstattung, in Expertenbeiträgen, in der Pop-Kultur und anderswo. Da sieht es viel besser als jemals zuvor aus. Es stimmt noch nicht alles was sie äußern, aber es ändert sich etwas. Vor zwölf Jahren, während der Belagerung von Arafats Unterkunft in Ramallah und der Umgebung der Geburtskirche in Bethlehem haben wir nicht viele palästinensische Stimmen in der Mainstream Presse vernehmen können. 2006, während Israels Angriff auf Gaza, haben die New York Times und NPR ihre Reporter nicht in das Khan Younis Flüchtlingslager oder nach Gaza-City geschickt. Aber die Berichterstattung begann sich bereits während der Operation „Gegossenes Blei“ zu verschieben, jenem drei-wöchigen Krieg Israels gegen Gaza in 2008-09, und uns wurde damals klar, wie sehr die Änderungen in den Medien die Verschiebung innerhalb des ganzen Diskurse wiederspiegelten. Trotz israelischer Bemühungen, die internationale Presse auszuschließen, berichteten Al Jazeera und andere arabische Kanäle live aus Gaza. Die Times hatte eine hervorragende junge Korrespondentin, Taghreed el-Khodary, die stündlich berichtete. Israel hätte ihr wahrscheinlich nicht die Einreise in den Gaza-Streifen erlaubt, aber man konnte sie nicht aufhalten, sie war bereits dort – geboren und aufgewachsen in Gaza und bei ihrer Familie lebend.

Besonders wichtig waren die bereits allgegenwärtigen Mobiltelefone und Computer, sogar in den verarmten Flüchtlingslagern Gazas. Wenn also die Elektrizität für ein bis zwei Stunden ansprang, war das erste, was die Menschen taten, ihre Geräte aufzuladen, sodass sie ihre Fotos, Videos, Geschichten und ihren Schmerz in die Welt hinaus senden konnten. Das veränderte unser Verständnis darüber, was eine Okkupation bedeutet, was eine Belagerung mit einer Stadt anstellt, wie es aussieht, wenn weiße Phosphorbomben eine Schule treffen.

Diese Botschaften haben nicht Jeden in den USA erreicht, und nicht alle, die sie erreichten, haben ihre Meinung geändert. Aber der neue Diskurs hat in sehr vielen Köpfen Änderungen bewirkt. Umfragen haben zwar nur einen begrenzten Wert – bestenfalls sind sie eine Art Schnappschuss, zeigen nur einen kurzen Augenblick. Aber folgendes verdient unsere Aufmerksamkeit: Es ist der Sommer 2010, Präsident Obama streitet sich mit dem israelischen Premier Netanjahu (was bereits einen Wandel der politischen Grundannahmen widerspiegelt) über die Siedlungen in den besetzten Gebieten. Die Presse behauptet fälschlicherweise, dass die USA Israel unter Druck setze, der aber lediglich aus einer Reihe höflicher Aufforderungen bestand: Bitte stoppt den Bau neuer Siedlungen. Als Israel einige Male nein gesagt hatte, hörten die Aufforderungen auf. Zu diesem Zeitpunkt fragte eine Zogby-Umfrage Menschen danach, welche Aussage über die Siedlungen ihrer Sichtweise entsprechen würde. 63 Prozent der Demokraten – Präsident Obamas eigene Partei und bis vor kurzem die wichtigste Partei für die Unterstützung Israels – wählten die Aussage, die besagte „die israelischen Siedlungen sind auf von den Palästinensern konfisziertem Land erbaut und sollten abgerissen werden, und das Land den palästinensischen Besitzern rückerstattet werden.“ Vielleicht nur ein kurzer Schnappschuss – aber immerhin 63 Prozent!

Organisationen wie die „US-Kampagne zur Beendigung der israelischen Besatzung“ und Jewish Voice for Peace haben diese Verschiebung im Diskurs aufgegriffen und weitergetrieben. Die reale Herausforderung besteht nun darin, wie man diesen Wandel nutzen kann, diese beinahe-Normalisierung einer Kritik an Israel nutzen kann, zur Erweiterung der Arbeit, zum Einbeziehen von Organisationen und Institutionen und – einmal tief durchatmen – sogar von Kongress-Abgeordneten, die sich bisher noch nie mit dieser Sache beschäftigt haben und die immer noch annehmen, es sei politischer Selbstmord, Israel zu kritisieren. Wir wissen jetzt, dass dies sicherlich nicht mehr zutrifft und müssen uns jetzt mit dem nächste, viel schwierigeren Schritt beschäftigen, die Diskursverschiebungen in wirklichen Politikwechsel umzuwandeln. Es gab bei Präsident Obama und seiner ersten Wahl zunächst etwas Hoffnung, insbesondere nach seiner Wahl des politisch unabhängigen früheren Senators George Mitchell als Sonderbotschafter. Aber Mitchell wurde an einer viel zu kurzen Leine geführt, und Obamas Bemühungen in dieser Sache brachen völlig zusammen. Er war nie gewillt, etwas von seinem politischen Kapital einzubringen, um Israel tatsächlich unter Druck zu setzen, den Bau weiterer Siedlungen zu beenden, nie gewillt die 3,1 Milliarden Militärhilfe für Israel zur Disposition zu stellen, nie gewillt davon abzusehen, Israel bei den VN zu schützen, sodass seine Führer für Kriegsverbrechen hätten zur Verantwortung gezogen werden können. Damit müsste Druck anfangen und davon haben wir noch nichts bisher gesehen.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Im Verlauf einer nicht geplanten öffentlichen Diskussion von Obamas Berater Ben Rhodes mit mir in 2011, war es schockierend (vielleicht aber doch auch nicht wirklich überraschend) die profunde Unkenntnis von Rhodes zu erleben, was die israelische Behandlung von Amerikanern angeht, insbesondere die von arabisch-stämmigen Amerikanern. Aber, wie anders, als durch eine tiefgreifende Verschiebung im Diskurs konnten wir uns vorstellen, dass der führende Redenschreiber des Weißen Hauses und stellvertretende nationale Sicherheitsberater sich auf seinem Stuhl auf dem Podium verlegen winden würde, während 300 arabisch-stämmige Amerikaner, zumeist palästinensische Frauen, ihn dafür kritisierten, dass er Israel gewähren ließ mit Milliarden an Hilfsgeldern und einer garantierten Strafverfolgungsfreiheit?

Einige der wichtigsten Verschiebungen hat es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selber gegeben. J-Street (eine liberale pro-israelische, für Frieden durch zwei Staaten eintretende Lobby-Organisation; der Übersetzer) half dabei, das Tabu im Kongress zu brechen. Jewish Voice for Peace spielt eine wesentlich beständigere und bedeutendere Rolle beim Mobilisieren, insbesondere von jungen Juden. AIPAC (American Israel Public Affairs Committee; der Übers.) verfügt immer noch über das Geld um Mitglieder des Kongresses unter Druck zu setzen, kann aber nicht länger behaupten, auch jüdische Wählerstimmen zu beschaffen, weil die jüdische Gemeinschaft dankenswerterweise mittlerweile zutiefst gespalten ist bei Israel betreffenden Fragen. AIPAC repräsentiert nur den rechten Flügel (und deshalb, natürlich, das meiste Geld), J-Street nimmt eine Mittelposition ein und Jewish Voice for Peace bildet den linken Flügel. Die jüdische Gemeinschaft ist einfach völlig neu aufgestellt.

Unsere Bewegung ist noch nicht stark genug, das US-Zulassen des Blutbads in Gaza zu verhindern – aber die Verschiebung im öffentlichen Diskurs stellt einen entscheidenden ersten Schritt dar. Jetzt gilt es unsere eigene Arbeit zu steigern um in diese nächste Phase zu gelangen.

[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]

* Phillis Bennis leitet das „New Internationalism Project“ am Institut für Politikforschung (Institute for Policy Studies-IPS) in Washington und arbeitet für das Transnationale Institut in Amsterdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten und die Vereinten Nationen. Außerdem arbeitet sie eng mit der amerikanischen Friedensbewegung „United for Peace and Justice“ zusammen.

Originalartikel: "Why Opposing the Israel Lobby Is No Longer Political Suicide". In: The Nation, 15. Juli 2014; www.thenation.com



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