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"Die Verfassung ist Makulatur"

Wie weiter nach den Protesten und Ausschreitungen in Ferguson? Amy Goodman von "Democracy Now" im Gespräch mit Osagyefo Sekou und Jelani Cobb


Die polizeilichen Todesschüsse auf den Afroamerikaner Michael Brown bleiben ungesühnt. Darren Wilson, der weiße Polizist, der den unbewaffneten 18jährigen Teenager am 9. August 2014 in Ferguson, Missouri, mit sechs Schüssen getötet hatte, wird sich dafür nicht vor Gericht verantworten müssen. In den USA kam es nach dieser Entscheidung vom Montag zu Demonstrationen und Ausschreitungen. junge Welt dokumentiert leicht gekürzt ein Gespräch, das Amy Goodman für das progressive Internetportal »Democracy Now« am Dienstag mit Osagyefo Sekou, Pfarrer der Baptistengemeinde in Jamaica Plain, Massachusetts, und Jelani Cobb, Professor für Geschichte und Leiter des Instituts für Afrikanische Studien an der University of Connecticut, führte.

Reverend Sekou, wir stehen hier vor dem Clayton Courthouse im Nachbarvorort von Ferguson, in dem die Grand Jury in den letzten Monaten getagt hat. Das Gerichtsgebäude wird »Justice Center« genannt, also »Zentrum der Gerechtigkeit«. Was sagen Sie dazu?

Osagyefo Sekou: Gemessen an dem hohen Grad von Repression und dem undemokratischen Handeln von Staatsanwalt und Gouverneur, ist dieser Name unangemessen. Die jungen Leute hier wurden vom Staat auf allen Ebenen verraten. Als die West Florissant Avenue letzte Nacht brannte, ging auch die Demokratie in Flammen auf. Die Verfassung ist nur noch Makulatur. Die jungen Leute wurden von einem Polizeisystem in die Ecke gedrängt, das sie seit vielen Jahren schlecht behandelt. Die Wut, die wir gestern nacht und heute erlebt haben, ist die Antwort auf die Entfremdung, die junge Leute hier empfinden, und ihre begrenzten Möglichkeiten, ihre demokratischen Rechte auszuüben.

Was hat denn hier letzte Nacht gebrannt und was nicht? Auf der South Florissant Avenue stand die Nationalgarde Gewehr bei Fuß. Es gab gepanzerte Fahrzeuge, automatische Waffen. Sie stellten sich den Demonstranten entgegen. Aber auf der West Florissant Avenue, wo sich die vornehmlich von Schwarzen betriebenen Geschäfts- und Gewerbegebäude befinden, war die Nationalgarde nicht zu sehen. Als wir Monate zuvor hier waren, durfte man auf der Straße nicht einmal wenden. Die hatten die Gegend völlig dichtgemacht. Aber gestern abend konnten wir völlig ungehindert in die West Florissant Avenue hineinfahren. Leute zerschlugen Schaufenster und setzten Gebäude in Brand. In dem Teil Fergusons, in dem die Schwarzen leben, war weit und breit keine Nationalgarde zu sehen, richtig?

Sekou: Ja. Ich war über zwei Stunden dort und war Augenzeuge, dass die Feuerwehr nicht im Einsatz war und die Polizei sich sehr nachlässig verhielt. Sie haben zwar Tränengas verschossen, aber die Situation war ein leuchtendes Beispiel für die ethnische Spaltung in Ferguson, in St. Louis und im ganzen Land. Das Problem, um das es hier immer schon ging, beschränkt sich nicht auf den Tod von Mike Brown. An jedem Tag wird in den USA ein schwarzes oder braunes Kind oder Jugendlicher Opfer willkürlicher Gewalt des Staates, und an jedem dieser Tage muss eine Mutter die Beerdigung ihres Kindes vorbereiten - eigentlich ein Klagelied auf diese Demokratie!

Jelani, ich traf Sie auf der South Florissant, wo sich das neugebaute Ferguson Police Department befindet. Was war dort los?

Jelani Cobb: Davor hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Gegen alle Hoffnungslosigkeit hofften die Leute immer noch, es käme zu einer Anklage gegen Darren Wilson. Sie mussten sich langwierige und beleidigende Ausführungen von Staatsanwalt Bob McCulloch anhören, bevor er endlich damit herausrückte, dass es keine Anklage geben würde. Es war augenblicklich zu spüren, wie die Gefühle aufwallten. Die Polizei bildete sofort einen Kessel um die Leute. Kurz darauf tauchten gepanzerte Fahrzeuge auf, und eine beträchtliche Zahl bewaffneter Polizisten marschierte in Formation auf - einige mit gezogenen Waffen. Tränengasgranaten wurden verschossen. Die Polizei hatte die Leute also auf der South Florissant Avenue eingekeilt. Aber im schwarzen Teil, auf der West Florissant Avenue, war kaum Polizei zu sehen. Am frühen Abend hatten wir die Ankündigungen von Gouverneur Jay Nixon und von Francis Slay, Bürgermeister von St. Louis, gehört, die Polizei würde »zurückhaltend« vorgehen. Das hörte sich so an, als hätten sie endlich kapiert, dass die Einwohner hier wie Menschen behandelt werden wollen. Aber später sahen wir dann, welcher Art diese »Zurückhaltung« war. Gemeint war eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem, was im schwarzen Teil von Ferguson passierte, und eine übermäßige Wachsamkeit im weißen Teil des Ortes.

Martin Luther King sagte am 14. März 1968: »Ich werde mich heute abend nicht vor Sie hinstellen und die Unruhen verurteilen. Das wäre in meinen Augen moralisch unverantwortlich, wenn ich nicht gleichzeitig die unerträglichen Lebensbedingungen verurteilen würde, die in unserer Gesellschaft bestehen. Es sind diese Verhältnisse, die Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie keine andere Möglichkeit haben, Aufmerksamkeit zu erzeugen, als sich an gewaltsamen Rebellionen zu beteiligen. Das ist die Sprache derer, die sonst kein Gehör finden.« So weit Martin Luther King, drei Wochen bevor er in Memphis, Tennessee, am 4. April 1968 ermordet wurde. Reverend Sekou, Ihr Kommentar dazu?

Sekou: Das trifft genauso auf die heutige Lebenslage der jungen Leute zu. In den letzten hundert Tagen haben wir von ihnen immer wieder zu hören bekommen, dass sie bereit sind zu sterben, weil es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnte. Das Schulsystem, der Präsident, Gouverneur Nixon, Polizeichef Thomas Jackson und das Wahlsystem - von allen wurden die Leute hier verraten. Ihre Möglichkeiten sind extrem begrenzt. Das Schulsystem ist heruntergekommen, wirtschaftlich haben sie keine Chance. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, müssen sie mit ansehen, wie ihr Bruder, ihr Sohn viereinhalb Stunden tot auf der Straße liegengelassen wird. Ihre Seelen sind mit Wunden übersät, und so sehen sie sich in einer Situation, in der die Zerstörung von Besitz der einzige Weg zu sein scheint, ihre Wut loszuwerden, weil man ihnen keinen anderen Ausweg lässt. Und der Präsident mahnt zur Ruhe, hat aber gleichzeitig nicht genug Macht, um Darren Wilson und andere gewalttätige Polizeikräfte zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist eine Schande, wie diese Nation mit den am meisten gefährdeten Jugendlichen in unserem Land umgeht.

Wie steht es um die Untersuchung, die US-Justizminister Eric Holder wegen der Verletzung von Bürgerrechten gegen Darren Wilson eingeleitet hat?

Cobb: Vom früheren Bürgermeister von New York City, Rudy Giuliani, war zu hören, die Leute machten deshalb Randale, weil sie keinen Respekt vor der Demokratie und dem Leben und Besitz ihrer Mitmenschen hätten. In Wahrheit verhält es sich aber genau andersherum. Montag nacht kam es zur Rebellion, weil die traditionellen Mechanismen der Demokratie versagt haben. Die Gewalt war ja eine Ausnahme. Es gab ein paar kleinere Scharmützel, aber größtenteils haben die Leute ihre Wut im Zaum gehalten, weil sie hofften, dass das Rechtssystem im Fall von Michael Brown Abhilfe schaffen würde. Aber genau das ist nicht passiert. Erst dann nahmen die Leute Zuflucht zur Gewalt. Es ist schwer zu sagen, ob es eine Anklage wegen Verletzung der Bürgerrechte gegen Wilson geben wird, weil ihm konkret nachgewiesen werden müsste, dass er rassistische Motive hatte oder dass Mr. Brown absichtlich seine Bürgerrechte vorenthalten wurden. Ich bin nicht sehr optimistisch.

Sekou: Über hundert Tage waren die Leute hier friedlich. Sie haben dem System eine Chance gegeben, aber das System hat ihnen das Herz gebrochen. Statt diese jungen Leute zu dämonisieren, sollten wir sie feiern. Sie haben die Verfassung mit Leben erfüllt und Raum dafür geschaffen, dass die Nation eine Chance bekommt, ihre niedergeschriebenen Grundsätze zu verwirklichen.

Übersetzung: Jürgen Heiser

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. November 2014


Blockaden in 170 US-Städten

Von Jürgen Heiser **

Die Auseinandersetzungen in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri um den Verzicht auf Anklageerhebung gegen den Polizisten Darren Wilson wegen der Ermordung des Teenagers Michael Brown halten die USA zunehmend in Atem. Während Gouverneur Jay Nixon die Zahl der Nationalgardisten auf über 2.000 Mann verdreifachte, skandierte eine Menschenmenge vor der Polizeizentrale der Kleinstadt: »Wir sind nicht der Feind, wir wollen nur Gerechtigkeit.« Landesweit trugen in der Nacht zum Mittwoch Tausende ihren Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung auf die Straße. Letzte Meldungen von CNN sprechen von 170 Städten in 30 US-Bundesstaaten, in denen mit Solidaritätsdemonstrationen und vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams Gerechtigkeit für Michael Brown und ein Ende der rassistischen Polizeigewalt gefordert wurden. Dieser Aktionstag war seit Wochen für den Tag nach der Bekanntgabe der Jury-Entscheidung geplant. Am Dienstag zeigte sich die Mobilisierungskraft des Netzwerks, das seit den tödlichen Schüssen im August landesweit organisiert wurde. Wie in New York City, wo Tausende erfolgreich die Uferstraße East River Drive und die beiden Nadelöre Queens-Midtown- und Lincoln-Tunnel blockierten, legten auch in anderen Städten Demonstranten vor allem den Verkehr lahm.

Der Todesschütze Wilson erklärte unterdessen, er bedauere den Tod Browns, würde aber erneut so handeln. Er habe um sein Leben gefürchtet und »nur seine Arbeit getan«, sagte er dem TV-Sender ABC. Er habe ein reines Gewissen.

Die Eltern von Michael Brown reagierten mit Entsetzen auf das Fernsehinterview. Wilsons Äußerungen über die von ihm abgegebenen tödlichen Schüsse auf ihren Sohn würden »alles nur noch schlimmer machen« und seien »so respektlos«, sagte Browns Mutter Lesley McSpadden am Mittwoch der »Today Show« im Sender NBC. Die Darstellung des Polizisten sei unglaubwürdig. Der Vater Michael Brown Senior nannte die Version des Polizisten »verrückt«. Erstens sei sein Sohn stets respektvoll mit der Polizei umgegangen, sagte er. »Zweitens, wer würde bei vollem Verstand auf einen Polizeibeamten zustürmen, der seine Waffe gezogen hat?«

US-Präsident Barack Obama verurteilte die Gewalt in Ferguson und mahnte zur Zurückhaltung. Es gebe »keine Entschuldigung« dafür, Gebäude und Fahrzeuge anzuzünden, Eigentum zu zerstören und »Menschen in Gefahr zu bringen«. Die Krawalle seien »kriminelle Akte«. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Er habe »kein Verständnis für Menschen, die ihre eigenen Gemeinden zerstörten«.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. November 2014


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