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Ferguson im Fieber

Neue Straßenkämpfe in der US-Kleinstadt *

Wieder verwandeln sich friedliche Proteste in Ferguson in Straßenkämpfe. Die Behörden scheinen überfordert; auch Journalisten geraten ins Visier. Die Kleinstadt kommt nicht zur Ruhe.

Nach dem erneuten Aufflammen von Protesten in Ferguson greift die Nationalgarde hart gegen Demonstranten durch. Mit Tränengas und Blendgranaten gingen die Soldaten in der Nacht zum Dienstag in der US-Kleinstadt gegen Randalierer vor. Mindestens 31 Menschen wurden festgenommen, von denen einige aus New York und Kalifornien in den US-Bundesstaat Missouri angereist waren.

Nach Angaben der Polizei wurden zwei Menschen von bewaffneten Demonstranten angeschossen. Auch Brandsätze seien geflogen. Präsident Barack Obama rief zur Ruhe auf. Die Unruhen wurden vor mehr als einer Woche durch den Tod des unbewaffneten schwarzen Teenagers Michael Brown ausgelöst, der von einem Polizisten erschossen wurde.

Bei ihrer Berichterstattung über die Proteste wurden drei deutsche Journalisten festgenommen. Lucas Hermsmeier von der »Bild«-Zeitung, Ansgar Graw von der »Welt« und Frank Herrmann, der unter anderem für die »Stuttgarter Zeitung« und den österreichischen »Standard« schreibt, kamen ins Gefängnis, wurden aber nach einigen Stunden wieder freigelassen. Auch der Fotograf Scott Olson von der Agentur Getty wurde am Montag in Ferguson festgenommen.

Graw, der wegen der Proteste nach Missouri geflogen war, gehe es gut, aber er sei über das Verhalten der Polizei schockiert, sagte eine »Welt«-Sprecherin. CNN zeigte Bilder eines Fotografen, der nach einem Tränengas-Einsatz verletzt am Boden lag. Zuvor waren Reporter der »Washington Post« und der »Huffington Post« festgenommen worden. Ein Kamerateam von Al Dschasira war nach eigenen Angaben mit Gummigeschossen und Tränengas angegriffen worden.

Die 90-jährige Holocaust-Überlebende Hedy Epstein wurde bei einer Blockade vor dem Büro des Gouverneurs Jay Nixon festgenommen, wie Lokalmedien berichteten. Ein US-Reporter veröffentlichte auf Twitter ein Bild von der Frau, nachdem sie von Polizisten abgeführt worden war. Gemeinsam mit sieben weiteren Demonstranten hatte sie vor dem Gebäude mit einer Menschenkette den Eingang blockiert.

Justizminister Eric Holder sollte an diesem Mittwoch nach Ferguson reisen, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Das Justizministerium und das FBI ermitteln, wie es zu Browns Tod kam. Obama betont das Recht auf friedliche Proteste und warnte: »Es gibt keine Entschuldigung für unverhältnismäßige Härte der Polizei.« Aber auch Angriffe auf die Polizei und Plünderungen seien nicht hinzunehmen.

Die Schulen in Ferguson wurden bis kommenden Montag geschlossen. Die Flugaufsicht FAA ließ den Luftraum über der Stadt für Flüge unterhalb von 900 Metern ebenfalls bis zu diesem Zeitpunkt sperren.

Bei den Randalierern handle es sich um eine »kleine Minderheit von Gesetzesbrechern«, sagte Ron Johnson von der Polizeitruppe Highway Patrol.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 20. August 2014


Prototyp einer Aktivistin

Von Fabian Köhler **

Sind Sie auch manchmal niedergeschlagen, weil der letzte Anti-Nazi-Sitzstreik wieder geräumt wurde, weil das Castor-Plenum erneut in Abstimmungen zu den Abstimmungsmodalitäten unterging und weil der ganze Aktivismus außer blauen Flecken doch nichts bringt? Dann nehmen Sie sich doch ein Beispiel an Hedy Epstein.

Der Aufstieg der heute 90-Jährigen zu einer der engagiertesten politischen Aktivistinnen begann zu einem Zeitpunkt, als die Welt Menschen wie sie am nötigsten hatte. Als jüdisches Kind während des Zweiten Weltkrieges aus Freiburg geflohen, arbeitete sie in einer britischen Waffenfabrik. Die meisten ihrer Angehörigen starben in Auschwitz. Über die Mitgliedschaft in einer Aktivistengruppe linker jüdischer Flüchtlinge landete sie als Übersetzerin bei den Nürnberger Prozessen. Eine Zeit, die sie 60 Jahre später als »Fundament meiner politischen Bildung« bezeichnete.

Wie unzerstörbar dieses Fundament ist, beweist sie seitdem aus ihrer amerikanischen Wahlheimat aus. Als Anwältin und Bürgerrechtlerin vertrat sie Opfer rassistischer Diskriminierung und Vietnamkriegsdeserteure, engagierte sich für sozialen Wohnungsbau und das Recht auf Abtreibung, bis sie 1982 ihr Lebensthema entdeckte. Seit christliche Milizen mit israelischer Unterstützung in Libanon hunderte Palästinenser massakrierten, engagiert sie sich für ein Ende der israelischen Besatzung. Als Vortragsreisende und lebendes Zeitzeugnis zieht sie seitdem durch die Welt und trotzt Festnahmen und Anfeindungen. Zuletzt erregte sie 2010 Aufsehen, als sie mit dem Ziel, die israelische Belagerung zu durchbrechen, an einer der Gaza-Flottillen teilnahm. Am Montag wurde sie einmal mehr verhaftet – nicht in Nahost, sondern an einem Ort, dessen martialische Bilder viele an Szenen aus der Westbank erinnern: Ferguson. Ihr Kommentar dazu: »Ich mache das doch schon seit ich ein Teenager bin. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mit 90 immer noch machen muss.«

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 20. August 2014


Kamera im Knopfloch

Velten Schäfer über eine polizeikritische Initiative in den USA ***

In dem Zukunftsroman »The Circle« nötigt ein Onlinekonzern zuerst Politiker und dann Bürger, stets eine Minikamera zu tragen und deren Bilder ins Netz zu stellen. Korruption und Verbrechen sollen so besiegt werden – eine liberal gemeinte Initiative, die sich zu einer totalitären Logik von »Privatsphäre ist Diebstahl« verdichtet.

Ein Jahr nach dem Buch soll die Knopflochkamera nun für US-Polizisten Realität werden – wenn es nach mehr als 100 000 Unterzeichnern einer Petition geht. Die Intention ist nach dem Polizeimord in Ferguson kritisch: Der nächste Todesschütze könne dann nicht auf Notwehr plädieren.

Das wäre radikaler als die in Deutschland geforderte Kennzeichnungspflicht. Doch würde die Idee gerade deren Befürworter erschrecken. Schließlich würde so auch stets dokumentiert, wer wo auffiel – und wie er dabei aussah. Wer wollte wetten, dass das nicht öffentlich wird? Dass nicht irgendwann eine Videoakte vom Arbeitgeber eingefordert wird?

Die Idee erinnert nicht nur an Russland, wo man sich mit Cockpitkameras wiederum vor Polizeiwillkür schützt. Sie gehorcht der gleichen Logik einer ständigen Pflicht zum Unschuldsbeweis. Geboren werden solche Ideen in einem Umfeld zutiefst zerrütteter Institutionen. Glücklich also das Land, das – noch – nicht auf solche Gedanken kommen muss.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 20. August 2014


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