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Konjunkturlok USA

Die deutsche Wirtschaft profitiert derzeit enorm von Aufträgen aus den Vereinigten Staaten

Von Jörg Kronauer *

Die Wirtschaftswoche trommelt wieder einmal lautstark für TTIP. »Der Handel mit den USA ist wichtiger denn je«, titelte das Blatt vergangene Woche in seiner Onlineausgabe. Mit der Weltwirtschaft sehe es zur Zeit überhaupt nicht rosig aus: Der globale Handel lahme, sei bereits im April gegenüber dem Vormonat geschrumpft und im Mai erneut um 1,2 Prozent zurückgegangen. China, lange Jahre ein zuverlässiger Wachstumstreiber, erwarte »für dieses Jahr das geringste Wachstum seit einem Vierteljahrhundert«; Brasilien stecke in der Rezession, Russland sowieso. Die Einfuhren der Schwellenländer insgesamt seien im ersten Quartal 2015 »um 4,2 Prozent zurückgegangen«, im zweiten würden sie wohl »noch schlechter ausfallen«, schrieb der Autor. Nun weiß man ja: Die Bundesrepublik lebt vom Export, lässt sich vorzugsweise aus anderen Ländern bezahlen. Wer aber soll blechen, wenn der globale Handel immer weiter abnimmt? Die Vereinigten Staaten. »Die Supermacht agiert einmal mehr als Konjunkturlokomotive«, frohlockte die Wirtschaftswoche: Sie »hält die Weltkonjunktur am Laufen und das deutsche Wirtschaftswunder seit der Finanzkrise am Leben«. Die deutsche Wirtschaft sei daher »gut beraten, ihr Hauptaugenmerk auf die USA zu richten«. Also: TTIP muss her!

Stimmt es, was die Wirtschaftswoche da schreibt – dass die Vereinigten Staaten faktisch das deutsche Wachstum finanzieren? Oder ist ihr Autor womöglich nur einer von Washingtons Lobbyisten? Ein nüchterner Blick auf die trockenen Zahlen zeigt: Der Mann hat vollkommen recht. Bereits von 2010 bis 2014 stiegen die deutschen Ausfuhren in die USA von einem Jahresvolumen von 65,6 Milliarden Euro auf eines von 96 Milliarden Euro an – also um 46 Prozent. Der Trend dauert fort. Unlängst publizierte Daten des Statistischen Bundesamts belegen: Allein in den ersten fünf Monaten 2015 nahmen die deutschen Exporte in die Vereinigten Staaten um 21 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu. Und das Wachstum scheint noch lange nicht am Ende. Wie das Bundeswirtschaftsministerium letzte Woche mitteilte, sieht es auch beim Auftragsbestand deutscher Firmen und damit bei den Lieferungen von morgen sehr günstig aus. Konnten deutsche Unternehmen im Juni einen Anstieg der Bestellungen aus dem Ausland um insgesamt 4,8 Prozent vermelden, so beruhte dieser zu einem guten Teil auf Bestellungen von außerhalb der Euro-Zone: Diese wuchsen um 6,3 Prozent. Maßgeblich verantwortlich dafür: Aufträge aus den USA.

Hintergrund: BDI wirbt für TTIP

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hält das Potential des transatlantischen Markts für noch bei weitem nicht ausgereizt. Nicht nur, dass die US-Wirtschaft weiterhin deutlich stärker wächst als die deutsche und auch in Zukunft gewiss ihre Importe steigern wird. Auch das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP bietet wertvolle Chancen, meint der BDI. So werde immer noch so mancher deutsche Export in die USA durch Zölle verhindert. Unterschiedliche Produktstandards stünden bis heute der Ausfuhr bestimmter Waren in die Vereinigten Staaten im Wege. Und vor allem: Durch die sogenannte Buy-American-Vorschrift »werden nichtamerikanische Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen diskriminiert«, beklagt sich der Wirtschaftsverband. TTIP soll nun »dazu führen, dass europäische Anbieter ihre Angebote in einem fairen Wettbewerb abgeben können, und zwar auf Bundes- wie auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene«. Da sind noch viele fette Geschäfte drin.

Hinzu kommt ein gewaltiges strategisches Potential. USA und EU seien »die beiden größten Wirtschaftsregionen der Welt«, hält der BDI fest: »Sie erwirtschaften zusammen rund 46 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes und sind als Geberländer verantwortlich für 60 Prozent der weltweiten ausländischen Direktinvestitionsbestände.« Will sagen: Wenn Washington und Brüssel bzw. Berlin sich einig sind, kommt in der Weltwirtschaft – noch – niemand an ihnen vorbei. Das kann, das muss man ausnutzen, meint der BDI: TTIP gebe »Europa die Gelegenheit, gemeinsam mit den USA die Globalisierung (...) politisch zu gestalten«. »Ein starkes TTIP« könne »zu einem Vorbild für andere Abkommen« werden – und das »mit unseren Werten und Standards«. Und ist es für die deutsche Wirtschaft nicht weitaus profitabler, wenn die Weltwirtschaft der Zukunft nach transatlantischen Regeln spielt, die ja der Bundesrepublik schon bisher zu beispielloser ökonomischer Stärke verholfen haben? Na also. Deutschland braucht den transatlantischen Markt und TTIP, fordert der BDI. (jk)



Auch die deutschen Investitionen in den Vereinigten Staaten boomen ungebrochen. Für Zahlenfans: Allein in den drei Jahren von 2009 bis 2012 wuchs der Bestand der unmittelbaren und mittelbaren deutschen Direktinvestitionen in den USA laut Angaben der Deutschen Bundesbank von 221 Milliarden Euro auf 266 Milliarden Euro an; das ist mehr als ein Fünftel aller deutschen Direktinvestitionen im Ausland. Und es geht weiter so. Ein paar Beispiele, beinahe willkürlich ausgewählt: Die Ludwigshafener BASF, größter Chemiekonzern der Welt, treibt in den Vereinigten Staaten den Bau einer riesigen Anlage zur Herstellung von Propylen aus Erdgas voran. In den USA sind die Erdgaspreise wegen des Frackingbooms deutlich niedriger als in Europa; BASF will mehr als eine Milliarde Euro in die Anlage investieren – angeblich die größte Einzelinvestition der Firmengeschichte. Bayer CropScience hat für die Zeit von 2013 bis 2016 Investitionen in Höhe von rund 700 Millionen Euro in den USA veranschlagt. Der deutsche Mittelstand lässt sich ebenfalls nicht lumpen. So hat etwa die oberfränkische Rausch & Pausch GmbH (»Rapa«), die Autoteile produziert, Anfang 2014 ein Werk im US-Bundesstaat Alabama eröffnet. Der Grund: Ein wichtiger Kunde, die ZF Friedrichshafen, hat 2013 ein Getriebewerk in South Carolina eröffnet (Investitionsvolumen: rund 450 Millionen Euro). Rapa ist mehr oder weniger mit ihr mitgegangen.

Apropos Kfz-Industrie: Deutsche Autokonzerne haben in jüngster Zeit ebenfalls massiv in den Vereinigten Staaten investiert. Volkswagen etwa hat rund eine Milliarde US-Dollar in sein neues Werk in Chattanooga (Tennessee) gesteckt, das 2011 eröffnet wurde. Anfang des Jahres hat der Ausbau des Standorts für weitere gut 900 Millionen US-Dollar begonnen. Der Grund: Seit sich die US-Wirtschaft nach dem Finanzcrash der Jahre 2007/2008 zu erholen begonnen hat, ist der Kfz-Markt in den Vereinigten Staaten rasant gewachsen – von 2009 bis 2014 um 58,2 Prozent. Wie das Prognoseinstitut »Inovev« kürzlich festgestellt hat, haben davon weit überdurchschnittlich deutsche Konzerne profitiert. VW etwa konnte in den USA in den vergangenen fünf Jahren um ganze 88,7 Prozent wachsen, Daimler um 78,8 Prozent, BMW immerhin noch um 63,8 Prozent. Allerdings ist es für den Absatz in den Vereinigten Staaten günstig, auch dort zu produzieren. Zur jüngsten 900-Millionen-Investition von VW gehört unter anderem der Bau eines Entwicklungszentrums, das speziell auf die Wünsche von US-Kunden zugeschnittene Autos entwerfen soll.

Nebenbei: Die US-Wirtschaft, die letztes Jahr um 2,4 Prozent wuchs und dieses Jahr um gut 3,1 Prozent zunehmen könnte, ist nicht nur individuell für deutsche Unternehmen attraktiv. Blickt man in die Außenhandelsstatistik, dann zeigt sich: Die deutschen Exporte in die USA überstiegen im vergangenen Jahr die Importe von dort um schlappe 47,5 Milliarden Euro; allein in den ersten fünf Monaten 2015 belief sich der deutsche Außenhandelsüberschuss bereits wieder auf gut 21,5 Milliarden Euro. Riesige Summen fließen jährlich aus den Vereinigten Staaten in die Bundesrepublik ab und tragen zum hiesigen Reichtum bei. Die Wirtschaftswoche hat in der Tat recht: Geschäfte mit den USA sind zur Zeit für die deutschen Eliten lukrativer, sprich: »wichtiger denn je«.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 13. August 2015


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