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Wut und Verzweiflung in Baltimore

Auf Proteste nach dem Tod eines Schwarzen in Polizeigewahrsam antwortet der Staat - mit Polizeigewalt

Von Max Böhnel, New York *

In den USA ist es wegen eines brutalen Polizeiübergriffs, der mit dem Tod eines jungen Schwarzen endete, erneut zu Protesten gekommen. In Baltimore wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Ein weißer Sarg, Blumengestecke und 3000 Trauergäste am Montag in einer Kirche in Baltimore. Auf einem Banner steht »Black Lives Matter, All Lives Matter« (Schwarze Leben zählen, alle Leben zählen). Unter Trauermusik aus einem Klavier erinnern afroamerikanische Honoratioren an das Leben des jungen Freddie Gray. Der 25-Jährige war eine Woche zuvor an Rückenmarksverletzungen gestorben. Am 12. April war der Afroamerikaner von Polizisten festgenommen und »unter mysteriösen Umständen«, wie es in den Mainstream-Medien heißt, verletzt worden. Der Anwalt der Gray-Familie, William Murphy, sagt in seiner Rede zur Erinnerung an die vielen schwarzen Opfer von Polizeigewalt: »Wir sind auch hier, weil es viele Freddie Grays gibt.« Die US-amerikanische Justiz sei »ausgehöhlt worden«, eine Polizei- und weitere Reformen seien deshalb unabdingbar.

Kaum ist die Trauerfeier beendet, feuern draußen am Nachmittag in Kampfuniformen gekleidete Polizeieinheiten Tränengas auf Demonstranten ab. Es handelt sich überwiegend um afroamerikanische Highschool-Studenten, vielleicht 300, die, obwohl sie gerade auf dem Nachhauseweg sind, trotzdem ihre Wut über den Tod von Freddie Gray nicht verbergen können. »Black Lives Matter« skandieren ein paar Dutzend und auch »Fuck the Police«. Steine fliegen, die Polizisten antworten mit Tränengas und Pfefferspray, die Menge flieht und verteilt sich. Umstehende werden von dem ausbrechenden Chaos mitgerissen. In der Hetzjagd, die sich in den darauf folgenden Stunden anschließt, werden zahlreiche Demonstranten festgenommen. Mehrere Fahrzeuge gehen in Flammen auf, es kommt zu Brandstiftungen, angezündeten Polizeifahrzeugen und vereinzelten Plünderungen von Geschäften. Die Polizei behauptet, mindestens 15 Beamte seien verletzt worden, einer von ihnen sei bewusstlos. Die 600 000 Einwohner fassende Stadt Baltimore, der jüngste Fall von amerikanischen »Unruhen«, steht in der Weltpresse.

Am Dienstag erließ die Bürgermeisterin von Baltimore, Stephanie Rawlings-Blake, für eine Woche ein nächtliches Ausgangsverbot von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens. Zugleich berief der Gouverneur des Bundesstaates Maryland, Larry Hogan, die Nationalgarde mit der Begründung ein, »Plünderungen und Gewalttaten werden nicht toleriert«.

Von wem die Gewalt in den verarmten afroamerikanischen Vierteln der Metropole unweit der US-Hauptstadt ausgeht, darüber berichtete die Tageszeitung »Baltimore Sun« im vergangenen Jahr in mehreren Investigativ-Berichten. Demnach musste die Stadt in den Jahren 2011 bis 2014 Opfern von Polizeiübergriffen laut Gerichtsurteilen eine Entschädigungssumme von insgesamt 5,7 Millionen Dollar auszahlen. Über 100 Menschen seien in dem Zeitraum Gelder zugesprochen worden: »wegen Knochenbrüchen - an Kiefern, Nasen, Armen, Beinen, Fußgelenken - und wegen Kopfverletzungen, Organversagen und sogar Tod, im Zuge fragwürdiger Festnahmen«. Die Dunkelziffer von in polizeilichem Gewahrsam Verletzten und Getöteten liegt erfahrungsgemäß um ein Vielfaches höher, weil zahlreiche Fälle entweder vertuscht oder nie gemeldet wurden.

Wie Freddie Gray am 12. April umgebracht wurde, liegt für viele auf der Hand. Der Vermutung nach stürzten sich mehrere Cops auf ihn, brachen ihm dabei mit den Knien das Rückgrat und schleppten den - per Videoaufnahme dokumentiert - vor Schmerz Schreienden und um ärztliche Hilfe Bettelnden in ein Polizeifahrzeug. Eine Überwachungskamera, die seit Jahren über dem Festnahmeort angebracht ist, soll ausgerechnet dann nicht funktioniert haben. Das behauptet die Polizei.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. April 2015


Zorniger Protest in Baltimore

Unruhen nach Beerdigung von ermordetem Afroamerikaner. Ausnahmezustand verhängt

Von Jürgen Heiser **


Nach zornigen Protesten im Anschluss an die Beerdigung des jungen Afroamerikaners Freddie Gray zogen am Montag dunkle Wolken über Baltimore im US-Bundesstaat Maryland. Sie stiegen von brennenden Streifenwagen, Barrikaden und Gebäuden auf. Gouverneur Larry Hogan verhängte noch am Abend den Ausnahmezustand über die Hafenstadt und sprach von »Gangs und Schurken«, die dafür verantwortlich seien. Hogan meint damit indes nicht die Polizisten, die Freddie Gray bei seiner Festnahme am 12. April das Genick gebrochen hatten, woran er eine Woche später starb. Hogans Kritik galt vielmehr den aufgebrachten schwarzen Bürgern der Stadt, die seit über einer Woche erfolglos für die Verhaftung der uniformierten Täter demonstrieren.

Zur Eindämmung der heftigen Proteste alarmierte Hogan die Nationalgarde und erließ eine Urlaubssperre für alle Sicherheitskräfte. Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake verhängte zusätzlich ab Dienstag abend 22 Uhr (Ortszeit) für zunächst eine Woche eine strikte Ausgangssperre bis fünf Uhr morgens. Außerdem wurden alle Schulen geschlossen.

Von US-Präsident Barack Obama war zum Tode Grays bislang kein Kommentar zu hören. Aber angesichts der Lage in Baltimore, einem Nachbarort der Hauptstadt, meldete sich nun doch das Weiße Haus zu Wort. Wie die International Business Times meldete, traf Loretta Lynch, die neue US-Justizministerin, noch Montag nacht mit Präsident Obama zur Lagebesprechung zusammen. Sie wolle »die Unruhen in Baltimore weiter beobachten«, zitierte sie der Sprecher des Weißen Hauses. Obama hatte zuvor schon ausführlich mit Bürgermeisterin Rawlings-Blake über frühere Demonstrationen gesprochen und ihr »seine volle Unterstützung bei allen Bemühungen, dem Chaos Einhalt zu gebieten«, zugesichert.

Die Bilder stundenlanger Straßenkämpfe zwischen afroamerikanischen Bürgern und Polizeieinheiten in Kampfausrüstung erinnern in der Tat an zahlreiche Proteste gegen Polizeigewalt, die im vergangenen August von Ferguson ihren Ausgang nahmen. Dort war der Teenager Michael Brown durch mehrere Polizeikugeln getötet worden und der Todesschütze straflos davongekommen.

In Baltimore trugen viele Demonstranten T-Shirts mit der aufgedruckten Zahl 300, die daran erinnert, dass in den USA jährlich rund 300 Afroamerikaner Opfer von Polizeigewalt werden. Die zumeist jungen Männer und Frauen sterben in der Regel aus nichtigen Anlässen im Zuge von Polizeikontrollen, in denen sie wegen ihrer Hautfarbe angehalten werden.

Dominique Stevenson von der Stadtteilgruppe »Friends of a Friends« erklärte im US-Nachrichtenprogramm Democracy Now!, der Stadtteil Sandtown-Winchester, aus dem Freddie Gray stammte, weise die höchste Inhaftierungsrate von Maryland auf. »Das ist nicht vom aggressiven Auftreten der Polizei zu trennen«, sagte Stevenson. Außerdem gebe es »keine Jobs und keine ökonomische Entwicklung« in den von Schwarzen bewohnten Vierteln. Diese machten dann »fast 80 Prozent der Insassen in Marylands Knastsystem aus, obwohl unser Anteil an der Bevölkerung bei nur 28 Prozent liegt«.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. April 2015

Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA

Immer wieder kommt es in den USA zu tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze. Beispiele aus den letzten Wochen:

April 2015: Ein weißer Reserveoffizier greift bei einer Razzia in Tulsa (Oklahoma) laut Behörden zur Pistole statt zum Elektroschocker und schießt auf einen Flüchtenden. Das Opfer stirbt in einer Klinik. Die Staatsanwaltschaft spricht von Totschlag. Im selben Monat erschießt ein weißer Polizist in North Charleston (South Carolina) einen ebenfalls flüchtenden, wohl unbewaffneten Schwarzen von hinten. Der auf einem Video festgehaltene Fall löst Empörung aus. Der Beamte wird wegen Mordes angeklagt und entlassen.

März 2015: Ein weißer Polizist erschießt bei Atlanta (Georgia) einen möglicherweise geistig verwirrten nackten Schwarzen, der an Haustüren geklopft haben soll. Laut Polizei lief er auf einen Beamten zu, der zwei Schüsse abfeuerte.

Dezember 2014: Ein schwarzer Familienvater wird in Phoenix (Arizona) nach einer Polizeikontrolle erschossen, weil er seine Hand nicht aus der Hosentasche nehmen wollte. Darin waren Tabletten und keine Waffe.




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