Mit Bush kommen die Raketenabwehr und ein neues Wettrüsten
Wissenschaftler warnen und fordern: Vorrang für die Politik!
In einem Memorandum der Vereinigung Deutscher
                   Wissenschaftler (VDW) warnen führende Vertreter der deutschen
                   Friedensforschung vor den Raketenabwehrplänen der USA. Wir
                   dokumentieren wesentliche Auszüge aus dem Memorandum, das Mitte November 2000 erschienen ist.
Diplomatie Zuerst!
                   1. Unser Anliegen - unser Vorschlag im Überblick
                   Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst-
                   wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems
                   (National Missile Defense, NMD) entscheiden. Wir sind besorgt, dass ein solcher
                   Beschluss zu einer neuen Runde des Wettrüstens führt - und damit weltweit nicht
                   mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schafft. (…) Wir sehen die Gefahr,
                   dass politische Maßnahmen gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins
                   Hintertreffen geraten und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die
                   Proliferation (Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme
                   insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen) wirksam
                   zu bekämpfen. (…) Vor diesem Hintergrund zielt unser Diplomatie
                   Zuerst!-Vorschlag darauf ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des
                   Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den Vorrang
                   einzuräumen. (…)
                   Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre diplomatischen
                   Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das Hauptziel gegenüber
                   der neuen US-Administration und dem neuen Kongress muss es sein, ein
                   Nationales Raketenabwehrsystem wegen der absehbaren negativen Folgen zu
                   verhindern. 
                   Der nach wie vor wichtige Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile
                   Treaty, ABM) muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten,
                   dass die Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens
                   durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der letzten
                   Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen
                   Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre nachhaltig
                   gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen. (…)
                   Zweitens drängen wir im Rahmen der Diplomatie Zuerst!-Initiative darauf, durch den
                   Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische
                   Raketen und Weltraumwaffen eine präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu
                   betreiben. Zu denken ist hier zum einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und
                   Risikominderung wie z. B. die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die
                   getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. (…)
                   Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf, auf
                   diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine Diplomatie
                   Zuerst!-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu starten. Länder wie Iran,
                   Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell nach Süden zu erweiternden
                   "Sphäre europäischer Verantwortung". Eine solche Initiative dürfte insbesondere
                   gegenüber Iran gute Chancen haben, zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. (…)
                  
 2. Lagebericht: stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung
                   Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem Ende des
                   Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite Verminderung der
                   Rüstungspotenziale hat sich in einigen Bereichen deutlich verlangsamt, in anderen
                   ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der amerikanische Senat den
                   Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht ratifiziert, auch die Umsetzung der
                   Chemiewaffen-Konvention kommt nur schleppend voran. (…) Die russische Duma
                   hat zwar den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt
                   und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten gekoppelt. (…)
                   Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur
                   Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln hinzu.
                   (…) Dazu gehören auch die amerikanischen Pläne, ein landesweites
                   Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet das Ende des
                   ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form. Denn sein zentrales
                   Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems und die Vorbereitungen
                   hierfür zu verbieten. (…) Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die
                   Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die
                   Vertragsinhalte gravierend zu verändern. (…)
                   Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden
                   Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden weltweite Folgen
                   haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann. (…) Russland und China
                   haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von
                   Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren Kernwaffenarsenalen
                   gedroht. 
                   Das NMD-Programm, das für die Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat
                   globale Auswirkungen und führte zu einer Belastung der transatlantischen
                   Beziehungen, da die meisten europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben
                   weitgehend ablehnen. Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen
                   betreffen die Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden
                   direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in
                   Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm involviert
                   sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht, dass die
                   Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird. (…)
                 
  3. Nationale Raketenabwehrsysteme: wenig wirksam und doch gefährlich
                   Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen
                   Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung aussehen
                   werden: (…) Im Falle eines umfassenderen und anspruchsvolleren Systems, das
                   stärker als bisher Weltraumkomponenten einschließt, dürften die technischen
                   Schwierigkeiten noch wachsen. In den USA sind bislang bereits deutlich mehr als
                   100 Milliarden Dollar für Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen
                   des Jahres 1983 rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System
                   stationiert. (…) Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen
                   waren nur zwei erfolgreich - und das, obwohl sie unter extrem günstigen
                   Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen
                   tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.
                   Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der NMD-Technologie
                   veranlasste den Präsidenten, seinen Stationierungsbeschluss zu verschieben. (…) 
                   Unabhängig davon, wie erfolgreich die unter der neuen Regierung in Washington
                   durchgeführten Versuche sein werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden
                   Herausforderungen von anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von
                   amerikanischen Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u. a. drei
                   verhältnismäßig einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein
                   Abwehrsystem "überlisten" und "täuschen" lässt. Dies ist deshalb möglich, weil
                   das Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu
                   unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist. (…)
                   China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20
                   Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die US-Raketenabwehrsysteme zum
                   Anlass nehmen, um sein Atomarsenal auszubauen. Denn, so das Kalkül in
                   Beijing, selbst ein begrenztes Abwehrsystem der USA wird die eigenen
                   Nuklearwaffen entwerten. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren
                   nuklearen Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von
                   China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen könnte, ist zu
                   befürchten. (…) 
                
   4. Wesentlich: der Erhalt des ABM-Vertrages
                   Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag aufgekündigt oder
                   beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei Jahrzehnten in Kraft und begrenzt
                   die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr drastisch. (…) Der ABM-Vertrag ist auch
                   unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen ein wesentlicher
                   Baustein im komplizierten Geflecht internationaler Abmachungen zur Abrüstung,
                   Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher
                   weiterhin von substanzieller und politisch-symbolischer Bedeutung. 
                   Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare
                   Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen Verhältnis,
                   sondern auch im Hinblick auf China. (…) Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im
                   Gegensatz zu den Gegnern des ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass
                   Moskau als Reaktion auf ein amerikanisches NMD-System finanzierbare
                   Aufrüstungsmaßnahmen trifft. Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner
                   bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die
                   Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur finanziell
                   erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst problematisch. Sie
                   bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages. Damit wird das in ihm
                   enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen - ein Meilenstein in der
                   Geschichte der Rüstungskontrolle - ausgehebelt.
                   Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere Abkommen
                   entwertet werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einhegen
                   wollen. Angesprochen ist hier insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag.
                   Die zunehmende Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert
                   eine sich verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer Bedeutung (wenn auch in der Diskussion
                   weitgehend ignoriert) ist in diesem Zusammenhang der Ausbau des Nationalen
                   Abwehrsystems mit dem Ziel, Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. (…) Dies bedeutet ein Wettrüsten auch im
                   Weltraum. (…)
                   Zudem könnten weitere Staaten versucht sein - gewissermaßen noch rechtzeitig -
                   in eigene Nuklearpotenziale zu investieren, denn die beste Rückversicherung gegen
                   den Aufbau eines zunächst begrenzten - oder gar nicht - wirksamen
                   Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise nuklearer Abschreckung der
                   Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten. (…)
 
                  
 5. Das vernachlässigte Problem: Aufrüstung durch regionale Abwehrsysteme
                   Es wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausreichend gesehen, dass es sich
                   beim kontroversen National Missile Defense System nur um eine Variante der
                   Raketenabwehr - und damit um eine Form der Aufrüstung - handelt. Erst ab der
                   Jahreswende 1998/99 betonte die Clinton-Administration den Aufbau eines
                   Nationalen Abwehrsystems. Sie tat dies auf Grund des Drucks von Seiten der
                   Republikaner im Kongress. Er war nach dem Test der nordkoreanischen Rakete
                   am 31. August 1998 beträchtlich angewachsen. Bis dahin hatte der Schwerpunkt
                   der Clinton-Administration auf der zweiten Variante, den regional aufzustellenden
                   Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) gelegen. Sie sind gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen ausgelegt. Beide Varianten können nicht isoliert
                   voneinander gesehen werden. Auch mit diesen regionalen Abfangraketen sind
                   perspektivisch beträchtliche rüstungskontrollpolitische Probleme verbunden. Sie
                   betreffen einerseits den ABM-Vertrag (und damit das amerikanisch-russische
                   Verhältnis). Andererseits - und diese Gefahr ist einer der blinden Flecken der
                   Debatte - können sie regionale Rüstungswettläufe anheizen, die Europa (und damit
                   die Bundesrepublik) unmittelbar angehen.
                   Regionale Abfangsysteme (TMD), von denen die Vereinigten Staaten derzeit
                   mehrere entwickeln, verletzen den ABM-Vertrag "im Prinzip" nicht. Denn das
                   Abkommen von 1972 verbietet nur Abwehrwaffen, die sich gegen strategische
                   Trägersysteme mit einer großen Reichweite richten. Allerdings besteht das Manko
                   des Vertrages darin, dass er nicht definiert, was unter "strategisch" zu verstehen
                   ist. In Jahre langen Verhandlungen einigten sich Moskau und Washington im
                   September 1997 auf eine Definition, die die Grauzone teilweise schließt. (…)
                   Insgesamt ist es uns wichtig, festzustellen: (…) Die Aufstellung von taktischen
                   Abwehrwaffen etwa in Asien, im Nahen Osten, Persischen Golf oder in Europa
                   bedeutet ein weiteres Drehen an diesen regionalen Rüstungsspiralen. (…)
           
        6. Notwendig und erfolgversprechend: eine europäische Diplomatie Zuerst!-Initiative
                   Erste Dimension: Vorschläge zur Rüstungsbeschränkung und -verminderung: 
                   Die Europäer sollten die Vereinigten Staaten auf den Erhalt des ABM-Vertrages
                   drängen und auch der neuen US-Administration klar machen, wie wichtig es ist, die
                   europäischen Sicherheitsbelange und die Sorgen Moskaus ernst zu nehmen. Dies
                   heißt auf das NMD-Projekt zu verzichten oder ein System zu entwickeln, das mit
                   dem ABM-Vertrag in seiner jetzigen Form vereinbar ist. Ebenso sollte die
                   Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Lasersysteme unterbunden werden,
                   um nicht einer weiteren Militarisierung des Weltraums Vorschub zu leisten. 
                   Als Basis für entsprechende deutsche und europäische Initiativen bietet sich die
                   1999 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig
                   angenommene Resolution "Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum" an.
             ... Ein Gesamtkonzept
                   vorbeugender Rüstungskontrolle, das die technologische Dynamik in den Blick
                   nimmt und in die Rüstungskontrollbemühungen integriert, erscheint notwendig. Der
                   ABM-Vertrag stellt einen Baustein dieses geforderten neuen Konzepts dar. (…)
          
         Zweite Dimension: Vorschläge zum Ausbau eines internationalen Frühwarn- und
                   Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen:
                   Die Europäer - und damit die Berliner Regierung - sollten bei der Moskauer Führung
                   nicht nur auf eindeutige Abrüstungsmaßnahmen drängen. Darüber hinaus sollten
                   sie - wie auch gegenüber Beijing - entsprechende aktive Schritte für eine
                   entschiedene und konstruktive Nichtverbreitungspolitik einklagen. (…)
                   Zur erforderlichen gemeinsamen Strategie zur internationalen Eindämmung der
                   Raketenproliferation und zur Vertrauensbildung gehören aus unserer Sicht
                   Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenstabilität; gemeinsame Frühwarnsysteme für
                   versehentliche Raketenstarts; die Vorabmeldung von Satellitenstarts und
                   Startanlagen sowie die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Hieran
                   sollten sich weitergehende Maßnahmen anschließen - etwa eine Beschränkung
                   oder gar ein Teststopp bestimmter Raketentypen, oder ein Aufstellungsstopp für
                   neue ballistische Flugkörper. (…)
                  
 Dritte Dimension: Vorschläge zur Einrichtung eines beständigen Dialogforums mit
                   Problemstaaten: 
                   Um in Washington, Moskau und Beijing ernst genommen zu werden, muss sich
                   Europa durch einen eigenständigen, sichtbaren und politisch erfolgversprechenden
                   Beitrag zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Trägersystemen und
                   Sprengköpfen als glaubwürdiger Akteur positionieren. Hier sind die diplomatischen
                   Initiativen Europas gegenüber denjenigen Ländern angesprochen, die in Nordafrika,
                   im Nahen Osten und in der Persischen Golfregion eine Bedrohung darstellen
                   können. Gefragt sind hier langfristige Konzepte im Rahmen einer Diplomatie
                   Zuerst!-Initiative. Sie kann gleichermaßen dazu dienen, das Fernziel internationale
                   Abrüstung fokussiert und kleinschrittig anzugehen.
                   Wir fordern die Bundesregierung und die zuständigen Ausschüsse im Bundestag
                   auf, hier mit einer vorbeugenden Politik aktiv zu werden. Die derzeitigen
                   europäischen Rahmenbedingungen sind für die Entwicklung und die Umsetzung
                   eines solchen Konzepts günstig. Denn mit ihrer Kritik an den amerikanischen
                   NMD-Plänen und mit ihrer geäußerten Besorgnis über weitere globale und
                   regionale Rüstungsschübe gibt es einen großen gemeinsamen Nenner unter den
                   europäischen Regierungen. ...
                  ... 
                   Die europäische Initiative müsste - und könnte - entsprechend zielgerichtet
                   ausgelegt werden.
                   Ihr konzeptioneller Kern ist, dass sie auf einen institutionalisierten Dialog mit
                   diesen Staaten (den oben genannten "Problemstaaten", Anm. Pst) setzt. Deshalb ist es erforderlich, im EU-Rahmen ein hierfür
                   zuständiges Forum einzurichten. (…) Die folgenden Ergebnisse des Dialogforums
                   sind denkbar: 
- In den Problemstaaten könnte die Motivation für einen Verzicht auf
                   relevante Entwicklungen im Bereich von Massenvernichtungswaffen durch attraktive
                   Kooperationsangebote erhöht werden.
 - 
    Anstreben ließen sich im Sinne eines Tauschhandels nachprüfbar begrenzte
                   Reichweiten der Raketen gegen Wirtschaftshilfe oder einen Ausbau der
                   Handelsbeziehungen.
 - 
                   Ein Angebot zur Partizipation an zivilen europäischen Programmen zur
                   Weltraumnutzung könnte den Verzicht auf eigene Anstrengungen zur
                   eigenständigen Entwicklung von Trägersystemen erleichtern, die sich auch
                   militärisch nutzen ließen.
 - 
    Das Angebot zur Kooperation im Bereich regenerativer Energietechnologien
                   könnte mit dem Verzicht auf den Zugriff auf sensitive Nukleartechnologien, die für
                   Atomwaffenprogramme wesentlich sind, gekoppelt werden. (…)
 
                   7. Zukunftsweisend: ein europäisches Engagement für die Umsetzung der Diplomatie
                   Zuerst!-Initiative 
                   Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, dass eine am Primat der Politik
                   ausgerichtete Initiative konzeptionelle Vorteile gegenüber dem Ansatz der USA hat,
                   die mehr und mehr auf technische Lösungen und Waffen setzen, um das Problem
                   der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln in den Griff zu bekommen.
                   Unsere Vorschläge
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setzen auf nicht-militärische Kooperation und Einbindung - und nicht auf
                   Unilateralismus und Ausgrenzung;
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    entwerten gerade nicht die durch die Raketenabwehrpolitik der USA bedrohten,
                   mühsam geschaffenen und über Jahrzehnte am Leben erhaltenen bilateralen
                   (ABM-Vertrag) sowie internationalen Abkommen (Nuklearer
                   Nichtverbreitungsvertrag, Raketentechnologie-Kontrollregime);
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    erweitern die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle durch
                   zusätzliche Initiativen zur präventiven Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf
                   der Erde und im Weltraum, anstatt Aufrüstung zu forcieren;
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    sind insofern selbstbewusst, als sie andere Gewichte als die USA setzen. Und
                   doch sind sie gleichzeitig in hohem Maße bündnisverträglich. Denn die
                   diplomatischen Schritte, die wir am Beispiel Iran vorschlagen, führen die
                   Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea bereits mit Erfolg durch (aber eben auf
                   diesen Einzelfall beschränkt und nicht systematisch und auf breiter Basis). (…)
 
                   Mit seinem Fokus auf den Erhalt existierender Rüstungskontrollabkommen und
                   dem notwendigen Ausbau vor allem präventiv angelegter Maßnahmen übernimmt
                   Europa deutliche Verantwortung in einem Bereich, den die Vereinigten Staaten in
                   den letzten Jahren vernachlässigt haben. Europa wird dabei nicht zum politischen
                   Lückenbüßer, sondern zum konzeptionellen Mitgestalter. ...
                   Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, die derzeitigen günstigen
                   Umstände entsprechend zu nutzen. (…) Die Forderung nach gemeinsamen großen
                   Projekten steht auf der europäischen Agenda, inhaltlich ist sie aber bisher
                   weitgehend leer geblieben. Eine gemeinsame Diplomatie Zuerst!-Initiative könnte
                   der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Façon und Schwung
                   verleihen. Sie würde Europa als eigenständigem und doch kooperationsbereitem
                   Akteur Profil geben, drohende Rüstungswettläufe konstruktiv anzugehen und zu
                   vermeiden.
               
    Unterzeichner:
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                   Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgem. Friedens- und
                   Konfliktforschung (AFK). 
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                   Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher
                   Wissenschaftler (VDW). 
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                   Prof. Dr. Horst Fischer, Ruhr-Universität Bochum.
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                   Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und
                   Konfliktforschung (HSFK). 
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                   Dr. Wolfgang Liebert, Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe
                   Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität
                   Darmstadt. 
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                   Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und
                   Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). 
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                   Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der
                   Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt. 
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                   Dr. Götz Neuneck, Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft,
                   Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), Hamburg. 
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                   Dr. Ulrich Ratsch, Stellvertreter des Leiters der Forschungsstätte der
                   Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Heidelberg. 
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                   Dr. Jürgen Scheffran, IANUS Darmstadt. 
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                   Dr. Herbert Wulf, Direktor des Bonn International Conversion Center (BICC).
 
                    
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