Massive Verrohung
Steigende Zahl von Selbstmorden, Gewalttaten und anderen Verbrechen: US-Kriegsteilnehmer sind eine Gefahr für sich und andere
Von Knut Mellenthin *
Im »Krieg gegen den Terror«, vor allem im Irak und in Afghanistan, starben bisher 6300 US-Soldaten. Das sind allerdings immer noch weniger als die 6500 ehemaligen Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte, die allein im vorigen Jahr ihrem Leben selbst ein Ende setzten. Darauf machte Nicholas D. Kristof am 14. April in der New York Times aufmerksam. Nach den ihm vorliegenden Zahlen kommen zur Zeit auf jeden »auf dem Schlachtfeld gefallenen« Soldaten rund 25 Veteranen, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen.
Das klingt auf den ersten Blick erstaunlich, fast unglaubwürdig, ist aber keine ganz neue Erkenntnis. Der US-Sender CBS sprach aufgrund mehrmonatiger eigener Recherchen schon im Februar 2009 von einer »Selbstmordepidemie unter Veteranen« und nannte ähnliche Daten. Auf Basis von 45 der 50 US-Bundesstaaten errechnete CBS eine Zahl von 6256 Veteranen, die sich im Jahr 2005 umgebracht hatten. Damit liege die Selbstmordrate unter ehemaligen Soldaten mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Bevölkerung, stellte der Sender fest. Besonders auffällig sei der Unterschied in der Gruppe der 20- bis 24jährigen, die den Krieg im Irak oder in Afghanistan mitgemacht haben: Ihre Selbstmordrate lag mit bis zu 32 Fällen auf 100000 Personen fast viermal so hoch wie die von Gleichaltrigen, die nicht beim Militär waren.
Soziale Probleme
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage einer britischen Veteranenorganisation aus dem Jahre 2002: Danach hatten sich bis zum damaligen Zeitpunkt mehr Teilnehmer des Falklandkriegs von 1982 selbst umgebracht, nämlich 264, als während der Kampfhandlungen ums Leben gekommen waren (255).
Um ehemalige US-Soldaten mit Selbstmordgefährdung und anderen psychischen und sozialen Problemen zu beraten, hat eine Veteranenhilfsorganisation vor fünf Jahren eine »Crisis Line«, einen per Telefon oder Internet ansteuerbaren Notruf eingerichtet. Er wurde seither mehr als 500000mal in Anspruch genommen. In über 18000 Fällen wurden nach Angaben der Betreiber »lebensrettende Hilfseinsätze« geleistet.
Teilnehmer der Kriege im Irak und in Afghanistan sind weit überdurchschnittlich stark von sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Familienkrisen betroffen. Mindestens 300000 Veteranen leiden unter schweren psychischen Störungen, die als PTSD, »post-traumatic stress disorder«, bezeichnet werden. Die für Veteranen zuständige Regierungsstelle schätzt, daß 30 bis 40 Prozent der Soldaten, die im Irak im Einsatz waren, früher oder später zu PTSD-Patienten werden könnten.
Viele von ihnen stellen eine Gefahr für sich selbst und mehr noch für ihre nähere Umgebung und die Gesellschaft dar. Die Zunahme von Gewalt gegen Familienangehörige – von Kindesmißhandlung bis zum Mord an der Ehefrau – ist eines der häufigsten Symptome. Sorgen bereitet den US-Medien schon seit Jahren auch die steigende Zahl von Gewalttaten und anderen Verbrechen außerhalb der Familie, die durch Veteranen des »Antiterrorkriegs« verübt werden. Typisch ist unter anderem eine erhöhte Aggressivität und Gewaltbereitschaft, die manche Exsoldaten beispielsweise angesichts von Verkehrskontrollen oder Festnahmeversuchen der Polizei sehr schnell zur Waffe greifen läßt. In vielen Teilen der USA gibt es deshalb inzwischen spezielle Trainingsprogramme, in denen Polizisten auf den Umgang mit PTSD-Patienten vorbereitet werden.
Drogen und sexuelle Gewalt
Psychische Störungen und massive Verrohung durch den Krieg zeigen sich auch in den aktiven Streitkräften selbst. Im vorigen Jahr stieg die Zahl gewalttätiger Sexualverbrechen in der US-Armee um 30 Prozent. Opfer sind in erster Linie Soldatinnen zwischen 18 und 21. Seit 2006 beträgt die Zunahme sexueller Gewalttaten in den Streitkräften der offiziellen Statistik zufolge 90 Prozent. Zu diesen Zahlen merkte Verteidigungsminister Leon Panetta im Januar an, solche Übergriffe seien »very underreported«. Soll heißen: Die meisten von ihnen werden gar nicht erst gemeldet.
Bei Gewalttaten von aktiven Soldaten und Veteranen sind häufig neben anderen Faktoren auch Drogen mit im Spiel. Nach Angaben der zuständigen US-Dienststelle haben sich die Fälle des »Mißbrauchs« verschreibungspflichtiger Drogen innerhalb der Streitkräfte von 2002 bis 2005 verdoppelt und zwischen 2005 und 2008 fast verdreifacht. Ein Grund dieser Entwicklung liegt darin, daß in der Army ganz massiv Psychopharmaka und andere Medikamente verteilt werden, die zu Abhängigkeit führen oder zumindest führen können. Im vorigen Jahr wurden nach offiziellen Zahlen rund 360 000 Militärangehörigen solche Mittel verschrieben. Nach Angaben aus Fort Bragg, dem größten Standort der US-Streitkräfte, lag der Anteil der Soldaten, denen Opiate verschrieben wurden, im Jahre 2009 bei 36 Prozent.
* Aus: junge Welt, Montag, 23. April 2012
Statistiken: Gefährlicher als Krieg
Von Knut Mellenthin **
Seit 1992 werden deutsche Soldaten wieder zu Auslandseinsätzen geschickt. Trotzdem hält der schon vorher zu verzeichnende Trend unverändert an, daß immer weniger Bundeswehrangehörige im Dienst sterben oder verletzt werden. Unter den Risiken, denen deutsche Soldaten zum Opfer fallen, sind militärische Gegner eines der geringsten.
Den detaillierten Statistiken auf der Website der Bundeswehr zufolge starben seit deren Gründung im Jahr 1955 rund 3200 ihrer militärischen und zivilen Angehörigen »infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten«. Lediglich 99 von ihnen – knapp 3,1 Prozent alles Todesfälle – verloren ihr Leben bei Auslandseinsätzen, darunter nur 36 »durch Fremdeinwirkung«. Betrachtet man ausschließlich die Todesfälle seit 1992, so entfällt ein Sechstel davon auf Auslandseinsätze. An der Spitze liegen die Missionen in Afghanistan mit 52 und im früheren Jugoslawien mit 46 Toten.
Und die übrigen Sterbefälle »im Dienst«? Allein in den 1960er Jahren, im tiefsten Frieden, waren es 1176. In sieben Jahren jener Dekade starben jeweils mehr als 100 deutsche Soldaten, also mehr als in 20 Jahren Auslandseinsätzen zusammengerechnet. Der Höchststand war 1962 mit 166 Toten erreicht. Dagegen kamen in den Jahren 2009 bis 2011 nur noch jeweils zehn deutsche Soldaten »im Dienst« ums Leben.
Die Bundeswehr schreibt das auffallend starke Sinken der Sterbefälle – wie übrigens auch der Verletzungen – »ständig verbesserten Sicherheitsstandards« zu. Man kann es allerdings auch anders ausdrücken: Die Bedingungen, unter denen in den ersten Jahrzehnten der Bundeswehr Wehrpflichtige gedrillt wurden, waren teilweise unter aller Sau. Mit Leben und Gesundheit der Rekruten wurde in der Ausbildung und bei Manövern Schindluder geschrieben. Symbolisch dafür steht der erste große »Unfall« am 3. Juni 1957, bei dem 15 junge Männer starben, als sie die Iller durchqueren mußten. Der Starfighter, eine höchst fragwürdige Anschaffung, für die der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß verantwortlich war, brachte 116 Piloten den Tod. Von 916 Düsenjägern dieses Typs verlor die Bundeswehr durch Absturz 269, also nahezu ein Drittel.
** Aus: junge Welt, Montag, 23. April 2012
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