Ein bombensicheres Urteil
Hintergrund. Mehr als zwanzig Jahre nach der Hinrichtung des US-Amerikaners Carlos DeLuna in Texas beweist ein Expertenbericht dessen Unschuld
Von Jürgen Heiser *
In den USA steht die Praxis der Todesstrafe in der öffentlichen Kritik wie nie zuvor in den 36 Jahren seit ihrer Wiedereinführung im Jahr 1976. Jeder Staat der Welt, der die Todesstrafe anwendet, verstößt damit gegen Artikel 5 der von den Vereinten Nationen 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in dem es heißt: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher Behandlung oder Strafe unterworfen werden.« Während bereits eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten die Todesstrafe abgeschafft hat, ist sie in 34 US-Bundesstaaten immer noch Gesetz. Nur noch zwölf praktizieren sie tatsächlich, allen voran Texas, Virginia und Oklahoma. Zuletzt schaffte Connecticut die Todesstrafe im April 2012 ab. Zuvor hatte der Westküstenstaat Oregon im November 2011 ein Moratorium verhängt und alle geplanten Hinrichtungen ausgesetzt, da sie »moralisch verwerflich« seien, so Gouverneur John A. Kitzhaber (Demokratische Partei).
Schon einmal war die Todesstrafe in den USA abgeschafft: Am 29. Juni 1972 hatten die neun Richter des Obersten Gerichtshofs alle dementsprechenden Gesetze aufgehoben. In einer 5-zu-4-Entscheidung über die Klage »408 U.S. 238 (1972)« des Todeskandidaten William Henry Furman gegen den US-Bundesstaat Georgia stellte das höchste US-Gericht fest, die Todesstrafe sei »willkürlich und diskriminierend« und verletze den 8. Zusatz zur US-Verfassung, der »grausame und ungewöhnliche« Strafen verbietet. Die Hohen Richter ließen aber eine Hintertür offen: Würden die Bundesstaaten künftig Gesetze erlassen, die die Verletzung der Verfassung ausschlössen, könne die Strafe wieder eingeführt werden. Entsprechend entschied dasselbe Gericht am 2. Juli 1976, und die Mehrheit der US-Bundesstaaten setzte neue Gesetze und Verordnungen in Kraft.
Unschuldige hingerichtet
Auch wenn der Sieg von 1972 nur ein vorübergehender war, so war er doch zukunftsweisend, denn er war der juristische Ausdruck der gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit. Vor allem begehrten weite Teile der afroamerikanischen, puertoricanischen und mexikanischen US-Bevölkerung gegen Armut und Rassismus auf und kämpften für Bürger- und Menschenrechte.
Durch das in der Rechtspraxis der letzten Jahre zutage getretene Unrecht, vor allem aber durch die wachsende Bewegung der Todesstrafengegner und die zunehmende internationale Kritik ist die vor 15 Jahren noch mehrheitliche Befürwortung der Todesstrafe in der US-Öffentlichkeit nach und nach geschwunden. Heute hat sie einen historischen Tiefpunkt erreicht. Die kritische Haltung reicht bis weit in das bürgerliche Lager der Demokratischen und sogar der Republikanischen Partei hinein und ist Dauerthema in den Medien. Eines der stärksten Argumente ist die große Unsicherheit über die Dunkelziffer der unschuldig Hingerichteten. 59 Prozent der befragten US-Bürger befürchteten nach Angaben des Washingtoner »Death Penalty Information Centers« (DPIC) schon Ende 2009, daß »in den vergangenen fünf Jahren wahrscheinlich mindestens ein unschuldiger Mensch hingerichtet wurde«. Beruht ein Urteil auf einem Justizirrtum, und ist die Strafe gegen einen Unschuldigen erst einmal vollstreckt, so sind Wiederaufnahme des Verfahrens und Wiedergutmachung logischerweise nicht mehr möglich. Dann gibt es neben dem Opfer des Mordes, zu dessen Vergeltung ein Todesurteil ausgesprochen wird, noch ein zweites Mordopfer – das der staatlich angeordneten Hinrichtung eines Unschuldigen.
Einer dieser Fälle machte erst kürzlich international Schlagzeilen. Am 16. Mai 2012 erschien in junge Welt eine Meldung über den Fall der 1983 ermordeten Wanda Lopez. Tatort war ein Tankstellenshop in der texanischen Ortschaft Corpus Christi. Carlos DeLuna, der angebliche Mörder, wurde sechs Jahre danach durch die Giftspritze hingerichtet. Fast 30 Jahre später veröffentlichte nun eine Forschungsgruppe der juristischen Fakultät der New Yorker Columbia University, bestehend aus dem Jura-Professor James Liebman und fünf seiner Studenten, eine umfangreiche Studie über diesen Fall. Darin wird detailliert und mit zahlreichen neuen Sachbeweisen und Zeugenaussagen der eindeutige Nachweis erbracht, daß der 1989 im Alter von 27 Jahren hingerichtete DeLuna nicht der Täter war. Die angehenden Juristen und ihr engagierter Professor haben ihren Bericht unter dem Titel »Los Tocayos Carlos« (»Die Namensvettern Carlos«) parallel im Internet und als Buch an die Öffentlichkeit gebracht. Die renommierte Columbia Human Rights Law Review veröffentlichte den Bericht in der Nr. 3/2012 ihres Periodikums und widmete ihm ein ganzes Heft.
Vor allem in den USA, aber auch international löste der Expertenbericht erneut eine Welle von Artikeln und Diskussionen aus. In seinem Titel ist bereits der wichtigste Hinweis enthalten, der, daß es neben dem hingerichteten Carlos DeLuna noch einen zweiten Carlos gibt, der eine zentrale Rolle in diesem Fall spielt. Dieser Carlos Hernández war schon unmittelbar nach dem Mord an Wanda Lopez und dann im Prozeß gegen DeLuna als der wahre Täter genannt worden. Zur Zeit der Tat war Hernández 28 Jahre alt und wie sein acht Jahre jüngerer Namensvetter Carlos DeLuna US-Bürger mexikanischer Herkunft. Der Liebman-Bericht belegt mit der Qualität einer wissenschaftlichen Studie, daß ethnische Herkunft und damit verbundene äußerliche Merkmale sowie die soziale Stellung von Verdächtigen (geringes Einkommen, Armut, Alkoholismus) die grundlegenden Elemente sind, deren Bewertung durch Polizei, Staatsanwaltschaft, Geschworene und Gericht darüber entscheidet, wer in den USA verhaftet, angeklagt und schließlich zum Tode verurteilt wird, und wer nicht. Insofern ist der Bericht ein Meilenstein analytischer Kritik am generellen Unrecht der Todesstrafe.
Rassistische Ressentiments
Die texanische Hafenstadt Corpus Christi, in der sich der Mord an der alleinerziehenden Mutter Wanda Lopez ereignete, liegt an der Mündung, wo der Nueces River in den Golf von Mexiko fließt. Der Ort mit heute über 300000 Einwohnern wurde nach der Bucht von Corpus Christi benannt, in der eine Expedition des Spaniers Alonso Álvarez de Pineda 1519 am Fronleichnamtag anlandete und ihr zu Ehren dieses katholischen Fests den christlichen Namen verlieh. Die wechselvolle Geschichte des Kolonialstaates Texas als Teil Mexikos und der USA spiegelt sich auch in der Bevölkerungsstruktur der Stadt Corpus Christi wieder, die in etwa der des gesamten Bundesstaates entspricht: Nach den letzten statistischen Erhebungen waren in Texas Ende 2006 48,3 Prozent »Weiße« (US-Durchschnitt: 66,4), 35,7 Prozent »Hispanics« (US-Durchschnitt: 14,8) und 11,4 Prozent »Schwarze« (US-Durchschnitt: 12,3). Der Rest der 4,6 Prozent »Andere« (USA: 6,6) setzt sich zusammen aus Menschen mit vorwiegend indianischer, asiatischer und hawaiianischer Herkunft.[1] In der Tendenz ist der Latino-Anteil seitdem kontinuierlich angestiegen.
Als Erbe der Kolonialgeschichte gehören wie im gesamten texanischen Staat auch die in Corpus Christi lebenden Bürger mexikanischer Herkunft in ihrer großen Mehrheit den ärmeren Bevölkerungsschichten an, die kaum Bildungschancen haben und die insbesondere wegen Alkoholismus und Kleinkrimininalität ständig im Fadenkreuz von Polizei und Justiz stehen. Ressentiments und Vorurteile bestimmen die alltägliche Arbeit der Behörden, die Angehörigen der mexikanischstämmigen Bevölkerungsgruppe nehmen sie als »Ausländer« wahr. Es herrscht großes Mißtrauen: Wer wie ein »Mexikaner« aussieht, ist grundsätzlich verdächtig, und damit ist dann schon »alles klar«, und die Strafverfolgungsbehörden agieren entsprechend.
Der 20jährige Carlos DeLuna paßte genau in dieses Feindbild. Deshalb nützte es ihm wenig, daß er vom Moment seiner Festnahme an bis zu seinen letzten Worten vor der Hinrichtung immer wieder seine Unschuld beteuerte. Liebman und sein Team kamen zu dem Schluß, daß schlampige Arbeit der Ermittlungsbehörden in Kombination mit einer absolut ineffektiven Pflichtverteidigung schließlich verantwortlich für das Todesurteil gegen DeLuna waren. Die ermittelnden Beamten behandelten den Mord an Wanda Lopez als »mißglückten Raubüberfall im ›Hispanic‹-Milieu«. Was da am 4. Februar 1983 geschehen sei, erklärte Professor Liebman gegenüber der Presse, sei jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung »ein klarer Fall« gewesen. »Ich würde sagen, daß durch die Bank Nachlässigkeit vorherrschte«, so Liebmans Kommentar zur Arbeit der Behörden.
Kurz nachdem die 24jährige Tankstellenbedienung Wanda Lopez den Notruf 911 ausgelöst hatte und über Telefon ihre Schreie und ihr Flehen gegenüber dem Angreifer in der Einsatzzentrale zu hören waren, nahmen zwei Zeugen ein Handgemenge von Lopez mit einem Mann im Verkaufsraum der Tankstelle wahr. Ihre nie hinterfragten Aussagen waren später die entscheidenden Argumente der Anklage für die Verurteilung DeLunas. Bei der Befragung durch das Liebman-Team gab einer dieser Augenzeugen an, er könne Latinos nicht voneinander unterscheiden. Die Polizei habe ihm aber gesagt, DeLuna sei in der Nähe verhaftet worden, deshalb habe er ihn auch für die Person gehalten, die er am Tatort gesehen hatte.
Nach Aussage der Zeugen sei der Mörder in Richtung Norden geflohen. DeLuna fand die Polizei hingegen östlich der Tankstelle ein paar Häuserblocks vom Tatort entfernt unter einem Lastwagen versteckt. In seiner Hosentasche befand sich ein gerolltes Bündel Geldscheine von 149 US-Dollar. Die Polizisten brachten DeLuna zur Tankstelle und stellten ihn dem ersten Zeugen gegenüber, einem Kunden, der sich mangels Vergleichspersonen schnell sicher war, er habe beim Tanken gesehen, wie »dieser Mann den Verkaufsraum verließ und ein Klappmesser in seine Hosentasche steckte« (tatsächlich wurde das Mordwerkzeug am Tatort gefunden). Ein zweiter Zeuge, der gerade auf die Tür der Tankstelle zuging, wollte ebenfalls DeLuna als den Täter erkannt haben, der auf Lopez einstach. Für die Ermittlungsbeamten reichte das.
Doch das Forschungsteam um Liebman stellte 29 Jahre später fest, daß DeLuna nur aus einem einzigen Grund sofort zum Täter gestempelt wurde: Weil er dem wahren Täter ähnlich sah und, wie die Zeugen 29 Jahre später zugaben, für sie »alle Mexikaner gleich aussehen«.
Das Team kam zu folgenden zentralen Ergebnissen bei der Untersuchung des Falles: Die Zeugenaussagen widersprachen einander. Ihre Angaben über das Auftauchen des Verdächtigen und die Örtlichkeiten, an denen sie ihn gesehen haben wollen, ließen nur den einen Schluß zu: Daß es sich um mehrere Personen gehandelt haben muß.
Kriminaltechnische Fotos eines blutigen Schuhabdrucks und von Blutspritzern an den Wänden des Verkaufsraums ließen darauf schließen, daß der Täter Blut an Schuhen und Kleidung gehabt haben muß. DeLunas Kleidung war jedoch völlig sauber. Die Staatsanwalt wischte diesen Unschuldsbeweis im Prozeß mit dem lächerlichen Argument vom Tisch, »Regen« habe »diese Spuren von DeLunas Kleidung abgewaschen«.
Staatsanwaltschaft und Polizei ignorierten Hinweise in den Ermittlungsakten, wonach Carlos Hernández, ein Freund DeLunas, öfter mit einem Klappmesser, wie die Zeugen es beschrieben hatten, gesehen und als Täter genannt worden war. Sogar DeLunas Pflichtverteidiger unterließ es, Hernández ausfindig und die große Ähnlichkeit der beiden Namensvettern gerichtsbekannt zu machen.
»Wenn heute noch eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich wäre, dann würden die Geschworenen DeLuna freisprechen«, kommentierte Richard Dieter, Direktor des »Death Penalty Information Center« die Liebman-Studie. Doch damals waren die zuständigen Justizbehörden vom Gegenteil überzeugt. Sie hatten sich ein »bombensicheres Urteil« gezimmert. Weder Staatsanwalt noch der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger schenkten DeLunas Aussage Glauben, er habe von einer Bar auf der anderen Straßenseite aus gesehen, wie Hernández, dessen Messertick er kannte, die Tankstelle betrat. Er, DeLuna, sei dann hinübergelaufen, habe gesehen, wie Hernández auf Wanda Lopez einstach. Als er Polizeisirenen hörte, sei er in Panik weggelaufen und habe sich unter dem Lastwagen versteckt, weil er noch eine Bewährung laufen hatte und nicht mit der Tat in Verbindung gebracht werden wollte. DeLunas größter Fehler nach seiner Verhaftung war, daß er über Monate sein Wissen über Hernández’ Täterschaft für sich behielt, weil er eine Riesenangst vor diesem Mann hatte, der im Stadtteil wegen seiner exzessiven Gewaltausbrüche berüchtigt war.
Staatsanwalt Steve Schiwetz hingegen bestreitet die Forschungsergebnisse des Liebman-Teams. In seinen Augen führen die Wissenschaftler »einen Kreuzzug« gegen die Todesstrafe, wie er dem Houston Chronicle gegenüber erklärte. Der ehemalige Chefankläger gegen DeLuna ist bis heute stolz darauf, daß es ihm damals gelang, die Einlassung des Angeklagten vor der Jury »in Stücke zu reißen«. Für ihn war Hernández nichts als ein Hirngespinst DeLunas, auf den es keinerlei Hinweise gebe, so der Ankläger im Prozeß.
In Liebmans Auftrag fand ein Privatdetektiv in nur einem Tag mehr über Carlos Hernández heraus als die Behörden in Jahren, vor allem über seine kriminelle Vergangenheit. Eine Bewährungsstrafe wegen Gewaltdelikten reihte sich an die andere, immer hatte er sein Messer dabei. Doch im Gefängnis saß Hernández selten. Könnte ein Grund dafür gewesen sein, daß er nachweislich als Informant für die Polizei tätig war? Dem britischen Guardian gegenüber sagte Liebman: »Das Geschehene ist ohne dieses Puzzlestück nicht zu verstehen.« Doch im Juli 1983 warf niemand solche Fragen auf, und DeLuna wurde nach nur sechs Verhandlungstagen von den Geschworenen schuldig gesprochen.
Seine Nähe zum Tatort, seine Bekanntschaft mit dem Täter, sein unklares und deshalb verdächtiges Verhalten, vor allem aber sein Aussehen und seine Herkunft prädestinierten ihn dafür, als schneller Fahndungserfolg verkauft, zur Abschreckung ebenso schnell verurteilt und hingerichtet zu werden. Damit wurde auch der Umstand überdeckt, daß Wanda Lopez bereits zweimal die Polizei angerufen hatte, weil sie sich von einem Mann bedroht fühlte. Doch es ging ja nur um »Hispanics«, deshalb war die Polizei untätig geblieben.
Beweismittel ignoriert
Wären dann nach der Bluttat die Ermittlungen und die Spurensicherung sorgfältig durchgeführt worden und hätte zumindest der Pflichtverteidiger den Hinweis auf Hernández ernstgenommen und verfolgt, dann hätte wenigstens das Leben von Carlos DeLuna gerettet und ein staatlicher Mord verhindert werden können. Statt dessen weist der Bericht des Columbia-Teams allen am Verfahren Beteiligten unzählige Unterlassungen, bewußte und unbewußte Fehlinterpretationen sowie Beweismittelunterdrückungen nach. Diese sind typisch für die meisten der über 140 bekannten Fälle, in denen Todeskandidaten seit 1976 durch erfolgreiche außergerichtliche Nachermittlungen am Ende doch freigelassen werden mußten.
So war bei DeLuna anläßlich seiner früheren Festnahmen wegen Alkoholismus und Einbruchsdelikten nie ein Messer gefunden worden. Anders bei Hernández, über den seine Angehörigen erst in den Interviews des Liebman-Berichts aussagen, das Messer, das er ständig bei sich gehabt habe, sei mit dem Tatmesser aus den Ermittlungsakten identisch. Die Verwandten bestätigten auch die Aussage einer Zeugin, die den Täter als »heruntergekommen« bezeichnet und exakt die Flanelljacke und das graue T-Shirt beschrieben hatte, die Hernández damals immer trug. DeLuna hingegen wurde als jemand beschrieben, der gepflegt war, sich gern schick kleidete, schwarze Stoffhosen und weiße Oberhemden trug – wie bei seiner Verhaftung.
Das Liebman-Team hätte gern auch die damaligen kriminaltechnischen Beweiserhebungen näher untersucht und zog deshalb sogar einen früheren Spezialisten des britischen Scotland Yard hinzu. Aber die äußerst dürftigen Ergebnisse der 1983 erfolgten Spurensicherung ließen noch nicht einmal mehr einen verwertbaren Vergleich der Fingerabdrücke von Hernández mit jenen auf dem Tatmesser zu. Und das, obwohl gegen ihn vor und nach dem Tankstellenmord mehrere Verfahren wegen Gewaltdelikten angestrengt worden waren. Ihn selbst konnte man nicht mehr befragen. Carlos Hernández war schon 1999 an alkoholbedingter Leberzirrhose verstorben, als er eine zehnjährige Haftstrafe wegen versuchten Mordes absaß. Wegen des Mordes an Wanda Lopez ist er nie belangt worden.
Pech für Dina Ybañez, Nachbarin und eines der Opfer von Hernández nach dem Tankstellenmord. Sie überlebte seine Messerattacke nur knapp und behielt davon eine 20 Zentimeter große Narbe auf dem Bauch zurück. Hernández bedrohte sein Opfer, wenn sie zur Polizei ginge, würde er zurückkommen und sie umbringen. Dann tauchte er unter. Dem Columbia-Team gegenüber erklärte Ybañez, diese schwere Verletzung wäre ihr erspart geblieben, hätte man Hernández schon früher dingfest gemacht. Ihr gegenüber hatte er sogar mit dem Mord an Wanda Lopez geprahlt und sich darüber amüsiert, daß »ein Namensvetter, der gar nichts damit zu tun hat«, deshalb im Knast sitze. Aus Angst vor Vergeltung behielt Dina Ybañez das alles auch noch für sich, als sie schon selbst zum Opfer geworden war. Kein Polizist wollte je mehr von ihr wissen. Sie war ja auch nur eine von den »Hispanics«.
Professor Liebman war schon vor zehn Jahren auf DeLunas Fall gestoßen. Beim Studium der Prozeßakten gemeinsam mit Studenten gewann er die Überzeugung, daß DeLuna unschuldig war. Als 2006 erste Forschungsergebnisse der Hochschulermittler in einer dreiteiligen Artikelserie der Chicago Tribune veröffentlicht wurden, meldeten sich mehrere Zeugen, die bestätigten, daß Hernández ihnen gegenüber den Mord an Wanda Lopez zugegeben hattte.
Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 wurden nach aktueller Statistik 1295 Menschen in den USA hingerichtet. Texas, wo die Giftspritze erstmals am 7. Dezember 1982 zum Einsatz kam, führt diese Liste mit 482 Exekutionen an. Laut Statistik saßen am 1. Januar 2012 in den US-Todestrakten 3189 Verurteilte, davon 58 Frauen. »Viele dieser Fälle hat sich bislang niemand genauer angeschaut, und deshalb besteht die Gefahr, daß darunter viele Unschuldige sind«, erklärt Professor Liebman. Das sei »das Risiko, das wir eingehen, solange wir die Todesstrafe haben«. Am Fall DeLuna sei vor allem bedeutend, mit welcher Leichtfertigkeit angeklagt und mit welchem Tempo Verurteilung und Hinrichtung durchgesetzt wurden. Das DPIC verweist deshalb vor allem auf die Gefahr, daß die Todesstrafenbefürworter sich angesichts der vielfältigen Kritik mit ihrem Drängen auf »billigere und schnellere« Verfahren durchsetzen könnten. Solche Vorstöße seien laut Liebman eine »furchtbare und gefährliche Idee«. DeLunas Fall sei »im Tiefflug durch die Gerichte gerast«. Von seiner Verhaftung bis zu seiner Hinrichtung seien nur sechs Jahre vergangen, das sei gerade die Hälfte der Zeit gewesen, die ein Todesstrafenverfahren in den USA im Durchschnitt dauere. »Nur ein sorgfältigerer, also konsequenterweise längeres und damit teureres Straf- und Berufungsverfahren hätte diese Tragödie verhindern können«, zitiert das DPIC Liebman.
Liebmans Warnungen vor Straffung der Verfahren sind aktuell vor allem deshalb wichtig, weil sich unter politischen Entscheidungsträgern die Stimmen mehren, die Todesstrafenpraxis verursache zu hohe Kosten. Die Zahlen dazu hatte das DPIC schon im Herbst 2009 in einer Studie zusammengefaßt. Gründe dafür sind der Studie zufolge vor allem lange Prozesse und der extreme Aufwand für die Verwahrung der Verurteilten in Hochsicherheits-Todestrakten. Das DPIC bezeichnete die Kosten von schätzungsweise 30 Millionen US-Dollar pro Verfahren inklusive Hinrichtung als absurd und forderte einmal mehr die Abschaffung der Todesstrafe. »Im heutigen Wirtschaftsklima ist es nach diesen Zahlen zweifelhaft, daß jetzt noch irgendwo ein Gesetz zur Einführung der Todesstrafe verabschiedet werden könnte«, kommentierte Direktor Richard Dieter die Studie. Mitte April 2012 verabschiedete mit dieser Begründung das Parlament des US-Bundesstaates Connecticut ein Gesetz, das als Höchststrafe anstelle der Todesstrafe lebenslange Haft ohne die Möglichkeit vorzeitiger Haftentlassung festlegt.
Todesstrafe abschaffen
Die Haushaltsfachleute hinter solchen Entscheidungen werden sich auch ausgerechnet haben, daß angesichts des Arbeitsverbots in den Todestrakten ein zu lebenslanger Haft verurteilter Gefangener nicht nur geringere Kosten verursacht, er vielmehr in den Knastfabriken durch die in den USA übliche Zwangsarbeit bezifferbaren Mehrwert schafft. Darauf baut das System des gefängnisindustriellen Komplexes, eines der wenigen wachsenden Wirtschaftszweige der USA, mit seinen weit über zwei Millionen Gefangenen auf. Anders wäre es nicht erklärbar, daß trotz rückläufiger Kriminalitätsrate die Knastpopulation explosionsartig wächst und die Haftstrafen immer länger werden. Davon betroffen sind vor allem junge Schwarze und Latinos, die gleichzeitig von hoher Arbeitslosigkeit geplagt werden, weshalb von »moderner Sklaverei« gesprochen wird.
Richard Dieter vom DPIC ahnte schon 2009, daß das Kostenargument gegen die Todesstrafe insofern nach hinten losgehen kann, als die Widerstände gegen die Abschaffung der Todesstrafe in Bundesstaaten wie Texas weiter sehr stark sein werden und am Ende aus Kostengründen Verfahren und Exekutionen beschleunigt würden, die Todesstrafe vom Grundsatz her aber unangetastet bliebe. Deshalb warnte Dieter vor solchen Sparmaßnahmen, gegen die auch Professor Liebman und sein Team den Fall DeLuna jetzt als abschreckendes Beispiel aufführen. Liebman betont deshalb, die Verfahrensfehler, die zu DeLunas Verurteilung geführt hätten – Irrtümer der Augenzeugen, eine schlechte Verteidigung und Unterdrückung von Unschuldsbeweisen – seien die größte Gefahr, daß weiterhin unschuldige Menschen hingerichtet werden. DeLunas Fall widerlege den Mythos, »daß wir die Todesstrafe durch ›raschere und schmutzigere‹ Hinrichtungen retten können«. Für den Wissenschaftler ist klar: »Die Todesstrafe ist erledigt.« Staaten wie Kalifornien seien zwar bemüht, unter Einsatz großer Anstrengungen und Mittel alles dafür zu tun, sie zu erhalten, sie seien aber gescheitert. Liebmans klarer Rat: »Die einzige Lösung ist, die Todesstrafe abzuschaffen.«
[1] Zitiert nach der demographischen Statisik von Texas; siehe: www.window.state.tx. s/specialrpt/tif/population.html.
Informationen unter: http://deathpenaltyinfo.org/death-row; www.drivemovement.org; DeLuna-Bericht: www3.law.columbia.edu/hrlr/ltc/
* Aus: junge Welt, Mittwoch 6. Juni 2012
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