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Blind für die Klasse

Vorabdruck. Bei der US-Präsidentenwahl war die soziale Herkunft der Wähler zentral für ihr Votum. Die hat die Demoskopen allerdings nicht interessiert

Von Ingar Solty *

Pünktlich zur Leipziger Buchmesse erschien von Ingar Solty das Buch »Die USA unter Obama«. Aus diesem Anlaß veröffentlichte die junge Welt einen Auszug aus dem letzten Kapitel »Die politische Soziologie der Wiederwahl von Obama und die Perspektiven der zweiten Amtszeit«. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Auszug.

Sowohl für die Auseinandersetzungen zwischen dem Establishment der Republikaner und deren rechtem Parteiflügel als auch für die Hegemoniekämpfe in Obamas zweiter Amtszeit ist der Kampf um die Deutungshoheit der Wahlen 2012 entscheidend. Die Hauptnarration ist, überraschend einheitlich auf der Establishment-Rechten und der gemäßigten Linken, daß die Republikaner aufgrund des demographischen Wandels verloren haben. Diese politisch-soziologische Analyse ist jedoch oberflächlich und rassisiert, ethnisiert und kulturalisiert ein sozioökonomisches Phänomen. Die ethnische und Rassenfrage ist (und war schon immer) in erster Linie eine Klassenfrage. Aus diesem Grund lohnt es sich, die zentrale Wahlnarration einer eindringlichen Ideologiekritik zu unterziehen (…).

Minderheiten und Klasse

Schon seit den frühen 2000er Jahren geistert das von dem demokratischen Parteistrategen Ruy Teixeira und von dem Journalisten John B. Judis geprägte Wort der »entstehenden demokratischen Mehrheit« (…) durch die USA. Diese setze sich aus den Jungwählern unter 30 (19 Prozent der Wähler 2012/60 Prozent für Obama), Frauen (53/55 für Obama), Schwarzen (13/93), Latinos (10/71), Gewerkschaftshaushalten (18/58) sowie Asiaten (3/73), Konfessionslosen (12/70) und sexuellen Minderheiten (5/76) zusammen.

Angesichts der Tatsache, daß die Demokraten in fünf der letzten sechs Präsidentschaftswahlen (1992, 1996, 2000, 2008, 2012) die absolute Mehrzahl der Stimmen, den »popular vote«, gewonnen haben, hat der Begriff der »entstehenden demokratischen Mehrheit« viel Zugkraft erlangt. Die Wahlbeobachter machen nun viel Aufheben um das sogenannte Demographieproblem der Republikaner. So gewann Romney zwar die Stimmen von 59 Prozent aller Weißen. In dieser Wählergruppe lag er in allen Staaten mit Ausnahme von Massachusetts, Iowa, Connecticut und New Hampshire vorne. 2012 waren jedoch nur noch 72 Prozent aller Wählerinnen und Wähler weiß. Der Hintergrund ist die entsprechend veränderte Bevölkerungsstruktur: Hatten 1960 noch 85 Prozent der Bevölkerung weiße Hautfarbe, gilt dies 2011 nur noch für 63 von Hundert. Für 2050 prognostizieren Demographen, daß die weiße Bevölkerung mit 47 Prozent in der Minderheit sein wird. Bis dahin soll aufgrund von Trends bei der Einwanderung und den Geburtenraten der Anteil der Latinos bei 29 Prozent (1960: 3,5, heute 17) und der der Schwarzen bei 13 (1960: 11, heute 12), der der Asiaten bei 9 Prozent (1960: 0,6, heute 5) liegen.

Nach den Wahlen war deshalb von einem »demographic shellacking« der Republikaner die Rede. (…)

Unter der Annahme, daß sich diese Entwicklungen verstetigen werden, gibt es jetzt schon Prognosen, daß aufgrund der starken Zuwanderung und höheren Geburtenraten von Latinos nicht nur demokratische Wahlsiege im (…) entscheidenden Swing-Staat Florida mittelfristig die Regel werden könnten, sondern auch die bislang stark republikanisch geprägten Staaten Arizona und sogar Texas bald zu Swing-Staaten werden könnten. Die Washington Post kommentierte das mutmaßliche Demographieproblem der Republikaner nach den Wahlen mit den Worten: »Die Republikaner haben eine riesiges Latinoproblem (…). Die Republikanische Partei kann nicht einfach sieben von zehn Latino-Wählern verlieren und glauben, so noch Siegeschancen bei den nationalen Wahlen von 2016, 2020 und darüber hinaus zu besitzen.«

Entsprechend haben auch die republikanischen Parteieliten die Latinofrage auf ihre Agenda für die Wahlen 2014 und 2016 gesetzt. Der Parteistratege David Frum vertrat nach den Wahlen die These, daß die Republikaner durch die Latinofrage zerstört worden seien. Kalifornien könne als Vorbild für die gesamtamerikanische Problematik dienen. Schließlich war Kalifornien mit Barry Goldwater und Ronald Reagan einst die Keimzelle der Neuen Rechten, die von hier aus ihren zwei Dekaden währenden Siegeszug ins Weiße Haus begann, und ist heute bei Präsidentschaftswahlen einer der zuverlässigsten demokratischen Staaten (…). Entsprechend scharfe Töne waren deshalb aus dem Parteiestablishment zu hören: Carlos Gutierrez, Handelsminister unter Bush und immerhin Vorsitzender des Romney 2012 Hispanic Steering Committee, sagte nach der Wahl, Romney habe mit seiner Politik die Latinos »zu Tode erschreckt«; und Lindsey Graham, republikanischer Senator aus South Carolina, forderte Romney auf, »die Grube nicht noch weiter auszuheben«, da sich die Partei »aufgrund ihrer Rhetorik« bereits in einer »Todesspirale mit den Latino-Wählern« befände. Romney hatte zuvor in einer Rede vor seinen Spendern erklärt, Obama habe die Wahl gewonnen, weil er Latinos, Schwarze, Frauen und Jugendliche mit »Geschenken« wie »kostenloser Gesundheitsversorgung« oder der »Amnestie für die Kinder von Illegalen« bestochen habe.

In und außerhalb der Partei wurden deshalb viele Stimmen laut, daß der nächste Republikaner eine Frau oder ein Latino sein müsse, als sei das Problem lediglich die Verpackung und nicht der Inhalt. Immer wieder genannt wurde der rechte Exilkubaner Marco Rubio.

Die innerparteiliche Diskussion, die über solche taktischen Kurzschlüsse hinausgeht, stellt dagegen stets die Einwanderungspolitik in den Mittelpunkt. In den USA arbeiten mittlerweile geschätzte elf Millionen Zuwanderer ohne reguläre Arbeitspapiere. Die Mehrheit davon stammt aus Zentral- und Lateinamerika (v.a. Mexiko) und ist im Agrarsektor (Erntehelfer, fleischverarbeitende Industrie) und in der Bauwirtschaft, aber auch in der Gastronomie und im Pflegebereich beschäftigt, in der Regel zu Bedingungen der Überausbeutung (…). Der Grund für die Entfremdung der neuen Einwanderer von den Republikanern sei, so die Erzählung, deren Opposition zum DREAM-Act, mit dem die Demokraten das Problem beheben wollen, indem den arbeitenden Zuwanderern die Möglichkeit eines regulären Einbürgerungsverfahrens geschaffen werden soll. Infolge dessen überschlagen sich seit dem Ende der Wahlen die Mitglieder des transnational-bürgerlichen Republikaner-Establishments mit Vorschlägen für eine Einwanderungsreform. Auch Rubio hat sich kurz nach der Wahl mit einem eigenen Konzept hierzu in Position gebracht.

Diese Debatte läuft jedoch in die falsche Richtung und ist allenfalls nur ein Teil des Problems. Betrachtet man die Exit Polls genauer, dann fällt auf, daß der Unterschied in dieser Frage faktisch nicht wirklich signifikant ist: Zwar sprechen sich 77 Prozent aller Latinos für den DREAM-Act aus, aber das Gleiche gilt auch für 65 Prozent der Gesamtbevölkerung. Angesichts der von der Washington Post einmal auf jährlich 41 Milliarden US-Dollar geschätzten Kosten von Deportationen, wie sie von der radikalen Rechten ernsthaft gefordert werden (und unter Hoover in der letzten Weltwirtschaftskrise tatsächlich schon durchgeführt wurden), sprechen sich nur 28 Prozent der Gesamtbevölkerung hierfür aus und immerhin auch 18 Prozent der Latinos.

Die Ursache für diese Fehlinterpretation ist in der Klassenblindheit der Demoskopen zu suchen, die in den USA nach Wahlgängen nicht einmal Erhebungen über die Art der Beschäftigung – wie z.B. in Deutschland wenigstens entlang der Kategorien »arbeitslos«, »lohnabhängig«, »selbständig« – anstellen. Die bürgerlichen Wahlbeobachter übersehen stets, daß die Frage der Schwarzen und der Latinos und in geringerem Maße auch der Asiaten letztlich eine Klassenfrage ist.

Obama verdankt seinen Wahlsieg ganz eindeutig den unteren Einkommensschichten – und das, obwohl die Wahlenthaltung hier am stärksten ausgeprägt ist. Die höheren Einkommensgruppen gewann Romney. Ein ähnliches Ergebnis ergibt sich auch bei den Senatorenwahlen. Viele der Wählerinnen und Wähler aus den unteren beiden Einkommensklassen sind Schwarze und Latinos. Bei den Schwarzen ist das bekannt (…). Kaum im öffentlichen Bewußtsein ist jedoch, daß nach den offiziellen Angaben des U.S. Census Bureau heute tatsächlich sogar mehr Latinos unterhalb der Armutsgrenze leben als Schwarze. Während sich nur 11,1 Prozent aller Weißen gemäß dem offiziellen Ergänzenden-Armutsindex unterhalb dieser Grenze wiederfinden, gilt dies für 16,7 Prozent aller Asiaten, 25,4 Prozent aller Schwarzen und für 28,2 Prozent aller Latinos.

Die Zuwanderung erfolgt dabei vor allem in die alten darbenden Industrieregionen; auch die Latinos mit Arbeitspapieren kommen als Arbeiter in die (Agrar-)Industrie und den niedrigqualifizierten Dienstleistungssektor. Latinos sind mit 83,7 Prozent entsprechend auch weit häufiger lohnabhängig im Privatsektor beschäftigt als Weiße (78,5); nur ein Bruchteil (5,8) ist selbständig (Weiße: 7,2, Schwarze: 3,8).

Die Tatsache, daß Latinos weit überdurchschnittlich im riesigen US-Niedriglohnsektor beschäftigt sind, läßt sich daran ablesen, daß sie auch deutlich weniger verdienen. Der durchschnittliche Wochenlohn der Latinos liegt nach Angaben des US-Arbeitsministeriums mit 549 Dollar mehr als 40 Prozent unter dem der Weißen (775 Dollar). Bei den Schwarzen sind es mit 615 Dollar mehr als 26 Prozent. Dabei verdienen weiße Frauen durchschnittlich noch mehr als schwarze Männer. Schließlich sind Schwarze und Latinos auch weit überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen (Schwarze: 15,8 Prozent, Latinos: 11,5, Weiße: 7,9). (…)

Ganz entscheidend ist jedoch der folgende, bemerkenswerte Befund der Exit Polls: Von den Latinos mit einem Haushaltseinkommen unter 50000 Dollar stimmten 82 Prozent für Obama, bei den Latinos mit einem Einkommen über 50000 Dollar waren es nur 59 Prozent. Zugleich stimmten Latinos ohne Hochschulabschluß zu 75 Prozent für Obama, Latinos mit Hochschulabschluß zu 62 Prozent. Das heißt: Keine Kategorie – weder Alter noch Geschlecht noch Zustimmung zum DREAM-Act – sagt das Wahlverhalten der Latinos 2012 stärker voraus als die im Haushaltseinkommen und einem niedrigen Bildungsstatus gemessene soziale Lage. Die Tatsache, daß die meisten Wahlbeobachter das Wahlverhalten nicht in bezug zur sozialen Lage der Wählergruppen gesetzt haben, spricht für eine bemerkenswerte Klassenblindheit der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Demokratische Hillbillies

Die seit Jahrzehnten stabile soziale Schichtung der USA bei den Wahlen bleibt erhalten. In den letzten Jahrzehnten gab es viel Literatur über den sogenannten »white working class backlash«. Gemeint ist damit die Verwandlung der Südstaaten von einer weitgehend demokratischen in eine republikanische Machtbastion. Ausschlaggebend war für diese Entwicklung die sogenannte Southern Strategy des Rechtsaußenrepublikaners Barry Goldwater bei den Präsidentschaftswahlen 1964 und von Richard Nixon bei den Wahlen 1968, die die Dominanz der (»Dixie«-)Demokraten in den Südstaaten beendete. Die zugrundeliegende Theorie ist, daß hier eine rassistische Reaktion auf die Desegregation zum Tragen kam, da die Beendigung der Rassentrennung und Schwarzendiskriminierung den auf ihre »Selbstbestimmung« bedachten Südstaaten vom Obersten Gerichtshof aufoktroyiert wurde. Das Bild vom rückwärtsgewandten rassistischen weißen (Land-)Arbeiter ist seither zu einem kulturellen Stereotyp geworden, der noch jeden Horrorfilm aus dem linksliberalen Mittelklasse-Hollywood geprägt hat: Hübsche, weiße, aufgeklärte Collegestudentinnen fahren in die Hügel von West Virginia und werden dort von arm gekleideten, weitgehend zahnlosen Psychopathen verfolgt, denen oft genug Inzucht und Kannibalismus ins Gesicht geschrieben stehen. Die für das arme, weiße Landproletariat üblichen Begriffe sind Redneck, Hillbilly und White Trash. Während es nicht mehr opportun ist, die unteren Klassen als »Neger« oder »Dagos« etc. zu beschimpfen, gehört der Klassismus gegen arme Weiße mittlerweile zum guten Ton noch jedes (üblicherweise demokratisch geneigten) Mittelklasse-College-Studierenden.

Überraschenderweise ist die Anbindung der weißen Arbeiterklasse trotz der klassistischen Vorurteile gegenüber dieser sozialen Gruppe an die derzeit »linke« Demokratische Partei, die von den Republikanern als elitär bekämpft wird, nach wie vor hoch. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2008 bekannten sich insgesamt noch 46 Prozent aller Weißen zu den Republikanern (Demokraten: 44), aber nur 37 Prozent aller Weißen mit einem Einkommen unter 30000 Dollar (Demokraten: 52 Prozent). Bei den Einkommen zwischen 30000 und 75000 Dollar und bei allen Wählern ohne Hochschulabschluß lagen beide Parteien in etwa gleichauf (47 zu 46 bzw. 46 zu 43 Prozent zugunsten der Republikaner). Es waren die Weißen mit einem Einkommen über 75000 Dollar, bei denen ein starker Vorsprung der Republikaner (52 zu 41 Prozent) zu verzeichnen war.

Mit Obama gewann 2012 auch diesmal wieder ein Demokrat bei den Armen mit Einkommen unter 30000 Dollar (63 Prozent, minus zwei Prozent im Vergleich zu 2008) und bei der Einkommensgruppe zwischen 30000 und 50000 Dollar (57 Prozent, plus zwei Prozent im Vergleich zu 2008). Zusammen machen diese beiden Einkommensgruppen 41 Prozent aller Wähler des Jahres 2012 aus. (…) Das gleiche Bild bestätigt sich auch bei den Senatorenwahlen. Demokratische Kandidaten gewannen Mehrheiten in allen Einkommensgruppen unter 50000 Dollar in allen Staaten, in denen es hierzu Erhebungen gibt (…).

Es ist also in den Wahlergebnissen auch regional ein deutliches Klassenungleichgewicht festzustellen. (…) Das Wahlverhalten wird – anders als häufig angenommen – nicht durch die geographische, sondern stark durch die Klassenherkunft bestimmt. Diese Tatsache schlägt sich auch im Alltagsverstand nieder. Die durch ihre Tätigkeit als Pornodarstellerin reich gewordene Jenna Jameson brachte es vor den Wahlen platt so auf den Punkt: »When you’re rich, you want a Republican in office.« (…)

Autoritärer Kulturkampf

Während das Republikaner-Establishment den strategischen Weg zu einem Neoliberalismus unter Verzicht auf einen christlich-rechten Kulturkampf und einen ethnischen Nationalismus zu gehen beabsichtigt, ist auf dem christlich-rechten Flügel der Partei häufig die Position zu hören, daß durch einen »kulturkämpferischen« Autoritarismus (für Schulgebete und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau, geschlechtliche, ethnische und rassische Antidiskriminierungsgesetze, verschärfte Waffenvorschriften, Evolutionstheorie in den Lehrplänen, gleichgeschlechtliche Ehe und Adoption) die mehrheitlich katholisch-wertkonservativen Latinos an die Partei gebunden werden könnten.

Der Autoritarismus funktioniert insbesondere dann, wenn er an die – bei den selbsternannten Leistungsträgern aus dem alten und neuen Kleinbürgertum populäre – marktradikale Sozialstaatsfeindlichkeit und die von ihm propagierte ökonomische Eigenverantwortung und nationalistische Mobilisierung gegen den äußeren Feind andockt. Vom historischen Faschismus über den autoritären Populismus im Thatcher-Großbritannien zeigt die Geschichte, daß die Rechte immer eine schweigende autoritäre Mehrheit für ein hegemoniales Projekt organisieren kann, das z.B. im gegenwärtigen Kontext die »öffentliche Ordnung« gegen linke Occupy-Demonstranten in New York und Oakland, »illegale« Einwanderer in Arizona, terroristische »Schläferzellen«, streikende Lehrer in Chicago oder parlamentsflüchtige Demokraten in Wisconsin herumgruppieren kann. Der überwiegend alt- und neu-kleinbürgerliche Autoritarismus (…) verbindet die Mitte mit der kulturell in der Regel liberal-tolerant und kosmopolitisch orientierten Bourgeoisie zu einer hegemonialen Mitte-Oben-Koalition.

In bezug auf die elektorale Perspektive der migrantischen Arbeiterklasse widersprechen der Hoffnung auf eine solche Autoritarismus-Strategie (…) allerdings die Befunde von Andrew Gelman, Professor für Statistik und Politikwissenschaft an der Columbia University und Autor des Buches »Red State, Blue State, Rich State, Poor State«. In der New York Times hat der Wahlforscher hypothetisch durchgespielt, wie das Ergebnis ausgefallen wäre, wenn nur die Wähler mit einem Einkommen von 50000 Dollar oder weniger hätten wählen dürfen: Obama hätte einen Erdrutschsieg erzielt mit 60 Prozent aller Wählerstimmen (gleiches Ergebnis wie 2008). Wären nur die Wähler mit einem Einkommen von mehr als 100000 Dollar wahlberechtigt, so hätte Romney mit satten 54 Prozent aller Stimmen die Wahl gewonnen. Dabei sind diese Ergebnisse nicht nur stabil, wenn man die Kategorien »Rasse«, »Ethnizität« und »Geschlecht« einfließen läßt. Sie sind auch in den letzten 20 Jahren identisch gewesen. (…)

Interessanterweise sind es wiederum Rechtspopulisten gewesen, die ein – wenngleich auch negatives – Gespür für die Klassendimension der US-Wahlen 2012 entwickelt haben. So legte der bis heute meistgehörte Radiomoderator und republikanische Königsmacher Rush Limbaugh den Finger in die Wunde, als er sagte: »Jetzt kommen die üblichen Verdächtigen und sagen: ›Rush, wir müssen den Latinos und den Minderheiten, den Schwarzen Angebote machen.‹ Ich möchte […] an den Republikaner-Parteitag erinnern: Wir hatten Suzanne Martinez […], Condoleezza Rice […], Marco Rubio. Wir hatten eine Parade an Minderheiten, die erfolgreiche Amerikaner geworden sind […]. Und sie alle haben eine gemeinsame Geschichte: Sie kommen von ganz unten […] und sie haben hart gearbeitet. Ihre Aufstiegsgeschichten haben sie mit viel Stolz erzählt und dabei zu Tränen gerührt. Und es hat nichts gebracht […]. Und es gibt einen Grund dafür […]. Wir sind in der Minderheit […], wir haben das Land verloren […]. Die Romney-Kampagne war der traditionellen amerikanischen Perspektive verpflichtet, was Wohlstand schafft: der alte Kapitalismus, die alten Argumente harte Arbeit, Ausdauer, Eigenverantwortung, Barmherzigkeit, Nachbarschaftshilfe – dafür stand die Romney-Kampagne […]. Dieser Weg zum Wohlstand wurde verlacht […], verworfen. Die Leute, die Obama gewählt haben, glauben nicht mehr an ihn. Sie halten ihn für unmöglich. Sie glauben, die Spielregeln des Systems sind unfair. Sie glauben, das System hat sich gegen sie verschworen. Sie glauben, daß der einzige Weg für sie, eine Chance zu haben, darin besteht, daß jemand kommt, und anderen etwas wegnimmt, um es ihnen zu geben, der Weihnachtsmann.«

Aus Limbaughs Worten spricht die tiefsitzende Frustration, daß im Zuge der globalen Krise und der Entfaltung der Widersprüche des Neoliberalismus die alten autoritären Botschaften aus den 1970er Jahren – gegen die »soziale Hängematte« und die vermeintlich fortschrittshemmenden und inflationsbefördernden Gewerkschaften – in den 2010er Jahren nicht mehr funktionieren. Limbaugh wittert den starken sozialdemokratischen bis antikapitalistischen Zeitgeist und hadert mit ihm. Zugleich ist er jedoch gezwungen, auch hier im klassischen (klein-)bürgerlich-neoliberalen Duktus die Kurve zur Moralisierung gegen eine vermeintliche »Kultur der Abhängigkeit« (»der Weihnachtsmann«) zu bekommen; denn nur die Verurteilung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Wirklichkeiten schützt vor dem Eingeständnis, daß vor dem Hintergrund der auseinanderklaffenden sozialen Schere einerseits und der Prekarisierung der Mittelklassen und insbesondere der Jugend andererseits eine Abkehr vom Neoliberalismus das Gebot der Stunde ist.

Sympathie für Sozialismus

Die Wahrnehmung Limbaughs und anderer Rechtspopulisten wird von zahlreichen Umfragen über die Krisensubjektivität bestätigt. 2009 hatte eine Umfrage des konservativ geneigten Rasmussen-Meinungsforschungsinstitut das bemerkenswerte Ergebnis zutage gefördert, daß nur 53 Prozent aller Einwohner des Herzlands des Kapitalismus und Antikommunismus den Kapitalismus im Vergleich zum Sozialismus für das bessere System halten. 20 Prozent sagten, der Sozialismus sei besser. 27 waren sich unschlüssig. Dabei war die Meinung über den Kapitalismus bei den Erwachsenen unter 30 Jahren faktisch gespalten: 37 Prozent bevorzugten den Kapitalismus, 30 den Sozialismus. Eine neue Umfrage der Forschungsgruppe Pew aus dem Jahre 2011 bestätigte diese Entwicklung: Während insgesamt 50 Prozent eine positive und 40 eine negative Auffassung vom Kapitalismus hatten bzw. 31 eine positive und 60 eine negative Auffassung vom Sozialismus, überwog bei den unter 30jährigen Erwachsenen sogar eine negative Sicht des Kapitalismus (47 zu 46 Prozent) und eine positive Sicht des Sozialismus (49 zu 43 Prozent).

Der Antikommunismus steigt dabei mit jeder Alterskohorte stark an. 72 Prozent bei den über 65jährigen haben eine negative Sicht vom Sozialismus, lediglich 13 Prozent eine positive. Dabei ist die Zustimmung zum Sozialismus und die Ablehnung des Kapitalismus nicht nur eine Klassenfrage: 43 Prozent mit einem Haushaltseinkommen unter 30000 Dollar und noch 27 mit einem Einkommen zwischen 30000 und 75000 Dollar haben ein positives Bild vom Sozialismus, aber nur 22 Prozent aller Personen mit einem Haushaltseinkommen von mehr als 75000 Dollar. Zugleich sinkt die positive Auffassung vom Kapitalismus im selben Maße wie das Einkommen; eine Mehrheit mit einem Einkommen unter 30000 Dollar lehnt den Kapitalismus ab.

Im Hinblick auf die zuvor erörterte Ethnien- und »Rassen«-Frage als Klassenfrage im Wahlverhalten ist dabei ferner zu bemerken, daß vor dem Hintergrund der durchschnittlich schlechteren sozialen Lage von Hispanics und Schwarzen die Ablehnung des Kapitalismus hier besonders groß ist: Im Gegensatz zu den Weißen (55 Prozent positiv, 35 negativ) lehnt eine Mehrheit der Schwarzen (51 zu 41) und eine Mehrheit der Latinos (55 zu 32) den Kapitalismus ab. Eine positive Auffassung vom Sozialismus haben 55 Prozent der Schwarzen (negativ: 36) und immerhin noch 44 Prozent der Latinos (negativ: 49), während bei den Weißen eine negative Auffassung vom Sozialismus deutlich die positive überwiegt (68 Prozent zu 24).

Fällt der Begriff »Kapitalismus« nicht, sondern nur der Begriff »freier Markt«, sehen die Verhältnisse etwas anders aus. Trotzdem ergab eine Umfrage von GlobeScan aus dem Jahre 2010, daß die Zustimmung zum »freien Markt« in den USA heute niedriger ist als in China, Brasilien und Deutschland. Nur noch 59 Prozent aller Amerikaner stimmen »voll« (37 Prozent) oder »eher« (22 Prozent) mit dem im übrigen nicht offen formulierten und die Existenz eines freien Marktes voraussetzenden Satz »The free market economy is the best system« überein, während 20 Prozent mit der Aussage »eher nicht« und weitere 9 mit der Aussage »überhaupt nicht« übereinstimmen. 2002 lag die Zustimmung zur selben Aussage noch bei 80 Prozent.

Natürlich sind Umfragen wie diese lediglich Krisenmomentaufnahmen, die auch davon profitieren, daß die US-Rechte die europäischen Sozialstaaten für sozialistisch hält und den neoliberalen Pragmatiker Obama als »ideologisch verblendeten« Marxisten verteufelt hat. Trotzdem geben sie Ausdruck eines tiefen Krisenbewußtseins in den USA und einer hegemonialen Öffnung für die politische Linke.

Ingar Solty: Die USA unter Obama - Charismatische Herrschaft, soziale Bewegungen und imperiale Politik in der globalen Krise. Argument-Verlag, Hamburg 2013, 344 Seiten, 23 Euro

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. März 2013


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