Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nervenkrieg um Snowden

Asyl in Russland für Stillschweigen? *

Dramatische Wendung im Falle des »Whistleblowers« Edward Snowden. Am Montagnachmittag meldete Interfax, Russlands Präsident Wladimir Putin habe dem früheren US-Geheimdienstler Asyl angeboten. Bedingung sei, dass Snowden aufhöre, den USA mit seinen Enthüllungen Schaden zuzufügen.

Zuvor hatte der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, dem Fernsehsender Rossia 24 gesagt, Putin und sein USA-Kollege Barack Obama hätten FSB-Direktor Alexander Bortnikow und FBI-Chef Robert Mueller angewiesen, »in ständigem Kontakt zu stehen und Lösungen zu finden«.

Noch am Morgen spekulierte die »Iswestija«, der venezolanische Präsident Nicolas Maduro, der am Montag in Moskau eintraf, wolle den IT-Spezialisten womöglich gleich mit nach Venezuela nehmen. Snowden saß derweil angeblich noch immer im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo fest. Seine Weiterreise nach Ecuador sei »schon nahezu hinfällig«, sagte der russische Politologe Michail Beljat. Snowden hatte in Ecuador Asyl beantragt. Zuletzt erklärte der ecuadorianische Präsident Rafael Correa jedoch, er sehe zuvor Russland am Zug. Der Vorsitzende des russischen Präsidentenrates für Menschenrechte, Michail Fedotow, äußerte, Snowden habe im Interesse der Gesellschaft gehandelt, also müsse die Gesellschaft ihn schützen. Die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichte Russland, einen Flüchtling nicht auszuliefern.

Julian Assange, der Wikileaks-Mitbegründer, der seit einem Jahr in Ecuadors Londoner Botschaft festsitzt, wehrt sich derweil gegen Vorwürfe, die Enthüllungen Edward Snowdens oder Bradley Mannings gefährdeten Menschenleben. Weder irgendeine Regierung noch ein einziger US-Regierungsvertreter habe bisher offen behauptet, dass »eine unserer Enthüllungen in den vergangenen sechs Jahren irgendjemandem körperlichen Schaden zugefügt hat«, sagte Assange dem US-Fernsehsender ABC.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 2. Juli 2013


Bundesanwaltschaft schaltet sich ein

Behörde prüft Ermittlungen wegen NSA-Abhöraffäre

Von Fabian Lambeck **


Nun könnte es ernst werden. Wie am Montag bekannt wurde, hat die Bundesanwaltschaft aufgrund der milliardenfachen Datenschnüffeleien der NSA gegen Deutschland einen »Prüfvorgang« eingeleitet. Wie eine Staatsanwältin dem »nd« bestätigte, werte man die »Veröffentlichungen zu Überwachungsmaßnahmen ausländischer Nachrichtendienste« aus.

»Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg«, beschwerte sich Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag. Zuvor war bekannt geworden, dass die gegen die Bundesrepublik gerichteten Schnüffeleien des US-Geheimdienstes NSA offenbar viel weiter gingen bzw. gehen als bislang bekannt. Die dem »Spiegel« vorliegenden Unterlagen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden bestätigen demnach, »dass die US-Geheimdienste mit Billigung des Weißen Hauses gezielt auch die Bundesregierung ausforschen, wohl bis hinauf zur Kanzlerin«. Dieser befreundete Eingriff in ihre Privatsphäre geht Angela Merkel (CDU) dann offenbar doch zu weit. Die Kanzlerin wolle »persönlich« und »sehr ernsthaft« mit US-Präsident Barack Obama über die neuen Vorwürfe reden, so Seibert.

Das Auswärtige Amt bestellte nach Angaben eines Sprechers den US-Botschafter Philip Murphy ein, um über das heikle Thema zu sprechen. Die Bundesanwaltschaft prüft nun, ob sie in der Sache ein Ermittlungsverfahren aufnehmen muss. Sollten sich die Vorwürfe Snowdens bestätigen und der Geheimdienst tatsächlich bis zu 500 Millionen Telefonate, SMS und E-Mails pro Monat aus Deutschland abgefangen haben, könnte die Bundesanwaltschaft wegen Spionageverdachts tätig werden.

»Im Augenblick ermitteln wir aber nicht«, betonte eine Sprecherin der Behörde gegenüber »nd«. Es handele sich lediglich um einen Prüfvorgang. Der Generalbundesanwalt ist laut Gerichtsverfassungsgesetz zuständig, wenn es sich um besonders schwere Straftaten gegen die innere oder äußere Sicherheit handelt. Um zu prüfen, ob dies der Fall ist, »wertet die Bundesanwaltschaft öffentliche Berichterstattung im Hinblick auf ihren gesetzlichen Aufgaben sorgsam aus«, so Staatsanwältin Frauke Köhler gegenüber dieser Zeitung. Dies betreffe auch die aktuellen Veröffentlichungen zu Überwachungsmaßnahmen ausländischer Nachrichtendienste. Zudem sei »in diesem Zusammenhang mit Strafanzeigen zu rechnen«, unterstrich Köhler. Medienberichten zufolge soll die erste Anzeige »gegen Unbekannt« bereits bei der Staatsanwaltschaft im hessischen Gießen eingegangen sein.

Derweil wird immer deutlicher, in welchem Umfang der amerikanische Geheimdienst deutsche Daten abgegriffen haben muss. Laut »Spiegel« habe die NSA an Spitzentagen wie dem 7. Januar 2013 rund 60 Millionen Telefonverbindungen erfasst. Allerdings sollen dabei nicht die Inhalte der Gespräche, sondern lediglich die »Metadaten« gespeichert worden seien. Das heißt, es wurde festgehalten, von welchem Anschluss welche Nummer gewählt worden ist. Das Ganze nennt sich Vorratsdatenspeicherung und ist in Deutschland hoch umstritten. Nach vielen Protesten und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes musste Schwarz-Gelb das entsprechende Gesetz nachbessern. (siehe Kellerbeitrag)

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), ein glühender Befürworter der Vorratsdatenspeicherung, forderte am Montag eine Entschuldigung von den USA. »Wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, dass die Amerikaner die Bundesregierung und deutsche Botschaften ausspioniert haben, wäre eine Entschuldigung unausweichlich«, sagte der Minister zu »Focus Online«.

Währendessen reagierte die EU-Kommission auf die Enthüllungen Edward Snowdens, wonach die NSA in vielen EU-Einrichtungen Wanzen installiert haben soll. In allen genannten Einrichtungen sollen nun Sicherheitskontrollen durchgeführt werden, hieß es am Montag aus Brüssel. Zuvor hatte der britische »Guardian« enthüllt, dass die diplomatische Vertretungen der EU in Washington sowie bei den Vereinten Nationen in New York vom NSA mit Wanzen versehen worden seien. Zudem habe der Geheimdienst das interne Computernetzwerk infiltriert.

Die Aktionen des Geheimdienstes richteten sich auch gegen einzelne EU-Staaten. So spähte die NSA die diplomatischen Vertretungen Frankreichs, Italiens und Griechenlands in Washington und New York aus.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 2. Juli 2013


Oliven im Sternenwind

Snowdens enthüllte Abhörprogramme ***

PRISM: Das Programm sorgt dafür, dass jede Google-Suche, jede Outlook-Mail und jeder Skype-Anruf in Echtzeit beim US-Geheimdienst NSA landet. Dazu muss dieser nicht einmal Kabel anzapfen: Die großen Internetkonzerne wie Google, Microsoft, Yahoo, Facebook und Apple liefern die Daten.

EvilOlive und ShellTrumpet: Bis zu 75 Prozent der Verbindungsdaten weltweit schöpft die NSA mit Hilfe der beiden Programme ab und ersetzt damit das 2011 eingestellte Projekt zur Vorratsdatenspeicherung »StellarWind«. Lieferanten der Daten sind auch »verbündete Regierungen«.

Dropmire: Daten, die jene Verbündeten nicht freiwillig herausrücken, holt sich die NSA unter anderem unter diesem Codenamen für das Anzapfen eines Faxgerätes im Washingtoner EU-Büro. 38 solcher Ziele listen geheime Dokumente auf. Außer in Brüssel sind die Wanzen und Abhörantennen z.B. in den Botschaften Frankreichs, Italiens und Japans versteckt.

Pacnet ist zwar kein Abhörprogramm, aber der chinesische Betreiber von Glasfaserverbindungen machte trotzdem die Bekanntschaft der US-Schlapphüte. Neben Daten aus Forschungseinrichtungen fing die NSA nach den Angaben Snowdens auch in China Hunderte Milliarden SMS ab.

Boundless Informant: Die ebenfalls streng geheime Software hilft der NSA dabei, aus Billionen gesammelten Daten das Wesentliche herauszufiltern und so z.B. Bewegungsprofile über jede beliebige Person zu erstellen. Noch beunruhigender: Nach einem geleakten Ausdruck der Software sammelt die NSA in Deutschland ähnlich viele Daten wie in China oder Irak. Allein 20 Millionen deutsche Telefonanrufe sollen täglich auf NSA-Rechnern landen.

Tempora: Noch übertroffen wird die NSA allerdings vom Geheimdienst seiner Majestät GCHQ. Das Ausmaß des Programmes, das seine Daten aus über 200 angezapften Glasfaserkabeln erhält, wird allein schon durch die Selbstbeschreibung deutlich: »Auswertung der weltweiten Telekommunikation« und »Beherrschung des Internets«.

Fabian Köhler

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 2. Juli 2013




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