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Imperium in der Krise

Hintergrund. Mit dem Niedergang der globalen Dominanz der USA verändern sich auch die weltweiten Kräfteverhältnisse zwischen den kapitalistischen Staaten

Von Rainer Rupp *

Am 10. März luden jW und Marx-Engels-Stiftung in die Ladengalerie der jungen Welt zu einer Konferenz unter dem Titel »Aggressiver Euro-Imperialismus« ein. Bei der mit über 70 Teilnehmern gut besuchten Veranstaltung referierte neben Lucas Zeise (siehe jW-Thema vom 22.3.2012), Georg Polikeit (jW-Thema vom 28.3.) und Hannes Hofbauer (jW-Thema vom 10.4.2012) auch der marxistische Ökonom Rainer Rupp. Der folgende Text basiert auf seinen Ausführungen.

Die bereits vier Jahre dauernde ökonomische Krise will nicht enden. Ihre Wurzeln gehen viel tiefer, als die Ammenmärchen von den fehlenden Regularien oder der Gier der Bankster und Heuschrecken weismachen wollen. Man darf nicht bei der Kritik der ­Symptome halt machen. Die eigentlichen Probleme liegen im System des Kapitalismus. Die Vorgeschichte der derzeitigen Krise, die zig Millionen hart arbeitender Menschen in existentielle Nöte gestürzt hat, geht auf das Jahr 1971 zurück. In diesem Jahr wurde der Grundstein für den fundamentalen Umbau der westlichen Finanzwirtschaft gelegt. Sie wurde zu einem Kartenhaus der wunderbaren Geldvermehrung, das im Laufe der letzten Jahrzehnte mit immer neuen Etagen aufgestockt wurde. Bis es 2008 zusammenkrachte.

Das Jahr 1971 leitete die zweite Phase der ökonomischen Entwicklung des Westens in der Nachkriegszeit ein. Alles begann mit der Auflösung des Goldstandards durch US-Präsident Richard Nixon und der Abschaffung des 1944 geschaffenen Bretton-Woods-Nachkriegswährungssystems mit fixen Wechselkursen, das Schritt für Schritt durch die »kontrollierte Desintegration der Weltwirtschaft« ersetzt wurde, wie es Paul Volcker, ehemaliger Chef der US-Notenbank FED, beschrieb.

Diese von Washington dirigierte Umstellung entsprang der Notwendigkeit, die Nachkriegshegemonie der USA aufrecht zu erhalten. Mit den alten Mitteln, nämlich dem geschickten Recycling von Amerikas Finanzüberschüssen in europäischen und asiatischen Staaten, war dies jedoch nicht mehr möglich. Die einstigen Überschüsse in der US-Zahlungsbilanz und im US-Haushalt der beiden Nachkriegsjahrzehnte hatten sich Ende der 60 Jahre bereits in massive Defizite verwandelt. Der Kapitalexport der Vereinigten Staaten, der Treibriemen der boomenden kapitalistischen Wirtschaften des Westens, war 1971 längst ins Stocken geraten. Das einzugestehen, hätte das Ende der ökonomischen und damit auch der politischen US-Vorherrschaft über den Rest des Westens bedeutet.

Ende eines Geschäftsmodells

Aber statt mit schmerzhaften Einschnitten und Sparmaßnahmen das US-Defizit zu korrigieren, ließ sich die Führung in Washington auf ein gewagtes und hochgefährliches Spiel ein und trieb statt dessen die Defizite sogar noch weiter in die Höhe. Aber wer sollte dafür bezahlen? Der Rest der Welt! Und wie? Mit Hilfe eines permanenten Transfers von Kapital, das ab diesem Zeitpunkt unaufhaltsam und stetig über den Atlantik und den Pazifik nach Nordamerika floß.

Das doppelte Defizit der US-Wirtschaft (Handelsbilanz und Haushalt) funktionierte über Jahrzehnte wie ein riesiger Staubsauger. Es absorbierte die in anderen Ländern produzierten Überschüsse an Waren und Kapital, während die Exporteure grün bedrucktes Papier, US-Dollar, entgegennahmen als wäre es Gold – ja sogar besser als Gold, weil es angeblich absolut sicher war und zugleich auch noch Zinsen brachte. Man bunkerte die Dollar als Sicherheit für schlechte Zeiten (Währungsreserve) oder bezahlte damit Importe, insbesondere Rohstoffe aus anderen Ländern. Für die so in die Welt gesetzten US-Dollar, die ja Schuldscheine der USA darstellten, mußte Washington bis heute nicht bezahlen.

Obwohl dieses »Arrangement« das wohl gröbste ökonomische Ungleichgewicht im globalen Maßstab darstellte, bedeutete es für dessen Profiteure doch so etwas wie ein globales Gleichgewicht. Das internationale System sich rasch beschleunigender, asymmetrischer Finanz- und Handelsströme erweckte sogar eine Zeit lang den Anschein von Stabilität und stetigem Wachstum, bescherte es doch der herrschenden Klasse in den daran teilnehmenden Staaten rasant steigende Profite und zugleich zunehmende Prosperität für Teile der Arbeiterklasse.

Angetrieben von diesem Mechanismus produzierten einige Volkswirtschaften (insbesondere Deutschland, Japan, die ölproduzierenden Staaten und später auch China) am laufenden Band Waren und Dienstleistungen, die der gigantische und kaufkraftstarke US-Markt immer schneller absorbierte. Fast 70 Prozent der Gewinne, welche die Überschuß produzierenden Staaten global erwirtschafteten, flossen dann zurück in die USA, wo sie von der Wall Street in US-Direktinvestitionen in anderen Ländern, in Aktien und in immer abenteuerliche neue »Finanzprodukte« umgewandelt wurden.

Es war der schon erwähnte Paul Volcker, der mit großer Weitsicht die schwierige Entscheidung erkannte, vor der die Vereinigten Staaten 1971 standen: Entweder müßten sie wegen Sparmaßnahmen und Schrumpfung der US-Handels- und Haushaltsdefizite einen Rückgang der Reichweite ihres wirtschaftlichen und geopolitischen Einflusses hinnehmen, oder sie konnten durch die Ausweitung der Defizite und durch den Umbau der Wall Street zum Recycler der Finanzüberschüsse der US-Vasallenstaaten werden und dadurch ihre Hegemonie noch weiter stärken. Volckers Coup glückte. Dabei kam auch die Tatsache, daß der US-Dollar in der Nachkriegszeit weltweit die Rolle einer Reservewährung angenommen hatte, sehr zu Hilfe.

In den nächsten vier Jahrzehnten konnten die Vereinigten Staaten ihre globale Vorherrschaft sogar noch weiter ausbauen, bis zur alleinigen Supermacht, und alles ohne nennenswerte eigene Anstrengungen, auf Pump, »gestützt« auf immer abenteuerliche Finanzinstrumente und immer höhere Schuldenberge. Washington konnte sich Kanonen und Butter zugleich leisten, und davon jede Menge. Aber nun steht all das durch die aktuelle Krise zur Disposition. Das mehrstöckige Kartenhaus ist zusammengebrochen. Ein Wiederaufbau ist nicht möglich, denn die globalen »Kunden« der USA haben sich die Finger verbrannt. Die Lüge ist geplatzt, das Vertrauen ist weg.

Natürlich gibt es immer noch Überschußländer, und China hat z.B. aus Mangel an Alternativen einen Teil seines Surplus immer noch in US-Dollar angelegt. Aber der Trend geht weg vom US-Dollar, weg von US-Anlagen, überall. Zugleich hat z.B. China gelernt, daß zum Schutz gegen solche Entwicklungen die Binnennachfrage gestärkt werden muß. Die Führung in Peking bemüht sich daher, die notwendigen strukturellen Veränderungen einzuleiten, um vermehrt für den heimischen Markt zu produzieren. In Japan sind die Überschüsse sogar ganz verschwunden. Sie haben einem beachtlichen Außenhandelsdefizit Platz gemacht. Das alles bedeutet, daß das anhaltende, gigantische US-Zwillingsdefizit mehr und mehr von der FED, d.h. von der Druckerpresse finanziert werden muß, was wiederum den globalen Niedergang des US-Dollars beschleunigt.

Weitreichende Folgen

Die durch die Krise ausgelösten tektonischen Verschiebungen im globalen ökonomischen Kräftespiel werden weitreichende Folgen haben, die sich jedoch erst in den nächsten Jahren bzw. im nächsten Jahrzehnt als nachhaltige Veränderungen im politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Überbau widerspiegeln werden.

Nachfolgend sollen einige Trends und Hauptmerkmale des sich abzeichnenden Wandels benannt werden, welche sich in neuen ökonomischen Strukturen, neuen Koalitionen und Bündnissen, aber auch Zerwürfnissen zwischen den Ländern des Westens, bzw. zwischen der derzeitigen imperialen Hauptmacht USA und ihren Vasallen in Europa manifestieren werden.

Zunächst muß betont werden, daß den meisten Ländern des Westens viele Jahre des ökonomischen Siechtums und der sozialen Not bevorstehen. Dieses düstere Bild wird konterkariert von den boomenden Wirtschaften und Gesellschaften der sogenannten BRICS-Länder (Brasilien, Rußland, Indien, China). Die Krise trifft nicht nur die westliche Wirtschaft, sondern auch deren ideologischen Überbau. Der westliche Neoliberalismus, und mit ihm das ganze Wirtschaftssystem sind diskreditiert.

Die desorientierte politische Führung der westlichen Länder ist jedoch nach wie vor ideologisch fixiert und hält am alten System und den entsprechenden Mechanismen und Heilmitteln fest, etwa an der »Lösung« der Schuldenkrise durch noch mehr Schulden. Dadurch werden die Auswirkungen der Krise verschlimmert, und zugleich entfernen sich die Eliten immer weiter von der Realität und den Bedürfnissen der Masse der Bevölkerung. Das hat bereits zu der europaweit zu beobachtenden Delegitimation der politischen Eliten geführt, mit destabilisierenden Folgen für das politische System.

Zugleich befinden sich die USA, die Hauptstütze dieses Systems, nach außen wie nach innen im Niedergang. Das wird auch durch die rasante Verarmung der amerikanischen Mittelschicht unterstrichen, die bisher mit Abstand der wichtigste Stützpfeiler der herrschenden Verhältnisse war.

US-Trendforscher erwarten in den nächsten Jahren in den USA eine markante Zunahme und Ausweitung schwereren sozialer Unruhen; der Direktor des »Trends Research Institute«, Gerald Celente, prognostiziert sogar bürgerkriegsähnliche Zustände, die den staatlichen Zusammenhalt in Frage stellen werden.

Ob die US-Regierung angesichts solcher Herausforderungen zwecks Ablenkung von innenpolitischen Problemen noch kriegslüsterner werden wird, oder eine Wendung nach innen vollzieht, um sich der eigenen Probleme anzunehmen, ist derzeit schwer abzuschätzen. Aber mit dem fortschreitenden Wertverfall des Dollars wird dessen Niedergang als Reservewährung beschleunigt, was dazu führt, daß der Rest der Welt keine US-Schatzbriefe mehr kauft. Das bedeutet, daß Washington in Zukunft seine Kriege selbst bezahlen muß und nicht länger auf Pump die Welt bombardieren kann. Wie für alle anderen Länder gilt dann auch für die überschuldeten USA die Alternative: Kanonen oder Butter. Die Zeiten, wo beides zugleich möglich war, sind vorbei.

Euro-Zone vor dem Abgrund

Auch die Euro-Zone steht vor dem Abgrund. Wegen der eingebauten strukturellen Fehler ist der Euro entweder zu einem langen Siechtum oder zum plötzlichen Tod verdammt. Überleben könnte die Gemeinschaftswährung nur unter zwei, jedoch unrealistischen Bedingungen:
  1. Unter der Fuchtel einer Berliner Haushaltsdiktatur über die anderen Staaten der Euro-Zone. Das aber setzt voraus, daß die »Partnerländer« sich folgsam ducken und trotz teils jahrzehntelanger Verarmung nicht aufmucken.
  2. Ein wirklich föderales Europa wird geschaffen, in dem Deutschland im Rahmen eines institutionalisierten Finanzausgleichs die weniger produktiven Länder der Euro-Zone für lange Zeit massiv unterstützt und für deren Defizite einspringt.Wenn man sich jedoch die Probleme vergegenwärtigt, die bereits innerhalb der Bundesrepublik durch den Länderfinanzausgleich entstehen, z.B. zwischen dem »reichen« Bayern und dem »armen« Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern, dann wird schnell klar, daß das in einem viel größere finanzielle Anstrengungen erfordernden, europäischen Maßstab erst recht nicht möglich ist. Zugleich zeigen die zunehmend rabiaten sozialen Unruhen in immer mehr Euro-Ländern, daß man dort nicht gewillt ist, sich einer neoliberalen, deutschen Euro-Diktatur und dem damit verbundenen Sozialabbau zu beugen.
Auch die einst positiv besetzte »europäische Idee« ist unter dem Eindruck der Probleme mit dem Euro für den Großteil der Bevölkerung in der EU zu einer Bedrohung geworden – zu einer Bedrohung ihrer Souveränität, ihrer gesellschaftlichen Ordnung, ihrer sozialen Errungenschaften.

Warum die inzwischen europaweit bei der Bevölkerung unbeliebte Gemeinschaftswährung nicht nur vom deutschen Kapital, sondern auch von den Eliten anderer Länder dennoch auf Teufel komm raus »gerettet« werden soll, hat mehr politische als ökonomische Gründe. Bereits bei seiner Schaffung war der Euro hauptsächlich ein Konstrukt, das die politische Einheit Europas erzwingen sollte. Die dafür eingesetzten Instrumente waren jedoch ökonomisch höchst unausgereift und sind es bis heute geblieben.

Die Kommentare und Erklärungen aus der Zeit der Euro-Einführung machen klar, daß die Konstrukteure dieser Währung hauptsächlich daran interessiert waren, die verhaßte Bevormundung durch Washington zu beenden und in Zukunft als Europäische Union mit den USA »auf Augenhöhe« über die Aufteilung der Welt in Einflußsphären zu verhandeln.

Solange »schönes Wetter« herrschte, entwickelte sich der Euro auch ökonomisch prächtig. In Europa schien er in den ersten Jahren in der Tat die Union zu festigen. Und auf den Weltmärkten hatte er zum Ärger der USA erfolgreich begonnen, dem Dollar seine alles überragende Rolle als Reservewährung streitig zu machen. Zugleich hatte sich die EU mit ihrer neuen »Sicherheits- und Verteidigungsidentität« einen militärischen Arm für weltweite Einsätze zugelegt. Aufbauend auf den Erfahrungen des gemeinsam geführten Angriffskrieges gegen Jugoslawien in 1999 begannen schon bald Gespräche zwischen Brüssel, Washington und der NATO über weitere gemeinsame, sich ergänzende oder unilaterale geführte Interventionen rund um die Welt.

Rückkehr des Kolonialismus

Im Dezember 2006 erregte der aus dem Kosovo-Krieg bekannte NATO-Interventionsexperte Jamie Shea in einer öffentlichen Sitzung des »Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung« des Europäischen Parlaments in Brüssel Aufmerksamkeit, als er eine bessere Arbeitsteilung zwischen EU und der transatlantischen Allianz bekanntgab.

Zum einen sollte sich die EU in Zukunft mehr um die nichtmilitärischen Aspekte der gemeinsamen Sicherheitsinteressen kümmern, während die militärische Hardware Aufgabe der NATO bliebe. Regional sollte das ehemalige koloniale Afrika in den Zuständigkeitsbereich Brüssels fallen und der »Größere Mittlere Osten« in den der NATO, meinte Shea in seiner neuen Funktion als Direktor für Politikplanung im NATO-Hauptquartier.

Diese Aufteilung ganzer Kontinente unter die führenden westlichen Nationen zeigt, daß seit dem Untergang des real existierenden Sozialismus 1991 eine konservative Restauration stattgefunden hat, die gleichsam ins 19. Jahrhundert, in die hohe Zeit des Kolonialismus zurückführt.

Zugleich konnte man im Verhalten der herrschenden Klasse den gleichen kolonialen Hochmut wie früher erkennen, die gleichen herrischen Ansprüche, die gleiche Arroganz, mit der verbriefte Rechte der anderen in den Dreck getreten werden. Und die gleiche Kanonenbootpolitik, mit der »widerspenstige Eingeborene« zusammengeschossen werden. Faktisch haben sich die Westmächte im Rahmen der EU und NATO ein modernes Pendant zum Kongreß von Berlin von 1878, und zum Wiener Kongreß von 1815 geschaffen, als fast der gesamte afrikanische Kontinent unter den europäischen Kolonialstaaten aufgeteilt wurde.

Allerdings hat der im vergangenen Jahrzehnt gezeigte Interventionsoptimismus im Fahrwasser der Finanzkrise und knapperer Ressourcen in letzter Zeit einer zunehmenden Skepsis Platz gemacht. Das Umdenken wurde durch die schmerzhafte Lektion gefördert, daß die gemeinsam mit der NATO und den USA geführten Weltordnungskriege auf ganzer Linie gescheitert sind und sogar zu sehr kontraproduktiven Konsequenzen geführt haben. Das könnte durch die Beispiele Irak, Afghanistan und zuletzt Libyen nicht besser belegt werden, alles mit »desaströsen Konsequenzen« für die von westlichen Wertekriegern viel beschworene Neue Weltordnung.

Die jüngst erschienene »Jahresschrift 2011« des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr spricht im Fall einer westlichen Niederlage am Hindukusch sogar von einem »weltpolitischen Totalschaden (…) für die von den westlichen Industriestaaten konstituierte internationale Ordnung«. Dem zugrunde liegt die von Zbigniew Brzezinski letztes Jahr thematisierte Einsicht, daß die westlichen Kriegsherren mit ihrer haushoch überlegenen Militärmacht zwar widerspenstige Länder zerstören, aber gegen den Willen der Bevölkerung politisch nicht beherrschen können. Letzteres sei in der Geschichte der Menschheit noch nie so schwer gewesen wie jetzt.

Natürlich wird es Jahre dauern, bis diese Erkenntnisse auch bei den unaufhaltsam »Bomben auf den Iran« schreienden US-Politikern und der sie vorantreibenden Zionistenlobby angekommen sind. Sie leiden an kognitiver Dissonanz, ein Krankheitsbild aus der Psychiatrie. Sie glauben, die USA seien nach wie vor allmächtig, und haben nicht einmal erkannt, daß ihr Land pleite ist.

Zentrifugale Kräfte

Andere sehen da klarer. Der Vorsitzende der türkischen Demokratischen Partei, Namik Kemal Zeybek, warnte unlängst, daß ein US-Krieg gegen Iran den Niedergang der Vereinigten Staaten beschleunigen und zu ihrem inneren Zerfall führen würde.

Auch der Chef der Diplomatenschule des russischen Außenministeriums, der langjährige US-Spezialist und Kremlberater Igor Panarin, prognostiziert noch in diesem Jahrzehnt einen ökonomischen und moralischen Kollaps der USA, der zunächst zu einem Bürgerkrieg und dann zu der Aufteilung des Landes in drei oder vier Teile führen werde.

Sind Zeybeck, Panarin und der bereits eingangs erwähnte amerikanische Trendforscher Celente alles Spinner? Oder ist tatsächlich etwas dran an der These, daß der soziale Kitt, der angeblich die aus allen Himmelsrichtungen gekommene Einwanderergesellschaft USA zusammenhält, nicht besonders fest ist. Womöglich nicht fest genug, um den zentrifugalen Kräften zu widerstehen, die durch die krassen sozialen Ungerechtigkeiten, durch den moralischen Verfall der politischen und wirtschaftlichen Eliten und durch die Perspektivlosigkeit der Massen freigesetzt werden?

Auf diese Frage können wir heute keine Antwort geben. Aber ich bin sicher, daß wir nicht die einzigen sind, die sie stellen. Allein die Tatsache, daß über solche Themen nachgedacht wird, erschüttert bereits das Prestige der Vereinigten Staaten und damit ihre internationale politische Reichweite. Schon jetzt dürften sich viele Vertreter des europäischen Kapitals die Schlüsselfrage stellen: Welche Vorteile werden sich in Zukunft noch aus einem engen transatlantischen Verhältnis ziehen lassen? Wiegen die Kosten der politischen, ökonomischen und militärischen Tributzahlungen, welche die niedergehende Führungsmacht USA weiterhin von ihren europäischen Vasallen fordert, noch den zu erwartenden Nutzen auf?

Wann ist es vorteilhaft, das System des kooperativen Imperialismus, indem die Europäer die Rolle des Juniorpartners spielen, zu verlassen und zur offenen Konkurrenz mit Washington überzugehen?

Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen wird in den nächsten Jahren das transatlantische Verhältnis maßgeblich verändern. Allerdings darf man in Europa keine einheitliche, sondern eher eine gegenläufige Entwicklung erwarten. Schon jetzt ist zu beobachten, daß innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft ein Teil weiterhin zu den USA tendiert und der andere zunehmend rein nationale Interessen vertritt. Letztlich aber hängt diese Entwicklung davon ab, wie schnell der Euro kollabiert und wie tiefgreifend die einzelnen europäischen Staaten davon betroffen sein werden.

Mit dem Euro als Bindeglied für den inner­europäischen politischen Zusammenhalt steht und fällt auch das übermäßig ehrgeizige Projekt der gemeinsamen »Sicherheits- und Verteidigungsidentität« der EU. Daran haben die Eliten hart gearbeitet, was auch erklärt, weshalb sie zur Euro-Rettung sogar bereit sind, die soziale Stabilität und den inneren Frieden der europäischen Völker zu riskieren. Zugleich wird die Handlungsfreiheit der Staaten zunehmend von schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Erschütterungen eingeengt, deren Auswirkungen auf die politischen Strukturen noch nicht absehbar sind. (…)

Neuorientierung auf Rußland

Der alternative Friedensnobelpreisträger Johan Galtung, der schon den Zusammenbruch der Sowjetunion genau vorausgesagt hatte, geht davon aus, daß das amerikanische Imperium bis spätestens 2020 kollabieren wird. Das wird von realistischen ökonomischen Prognosen aus anderen Quellen gestützt. Fraglich ist, ob sich der Euro halb so lange halten wird, denn keines der Probleme, welche die Krise hervorgerufen hat, ist bisher auch nur annähernd gelöst. Das dürfte den Plänen des deutschen Kapitals von einem von Berlin geführten Europa mittelfristig einen Strich durch die Rechnung machen.

Zugleich werden die BRICS-Länder als die neuen ökonomischen Kraftzentren mit wachsender internationaler Anziehungskraft auftreten und die Entwicklungen in einem verstärkt zu Streitereien neigenden Europa zunehmend marginalisieren. In diesem Szenario dürfte Berlin versucht sein, vorrangig den bereits eingeschlagenen Weg zu engeren Beziehungen mit Rußland auf Kosten der transatlantischen Beziehungen noch weiter auszubauen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. April 2012


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