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Der wirkliche "Change"

Vorabdruck. Nach fast zwei Jahren Präsidentschaft steht fest: Unter Barack Obama hat sich die Politik der USA nicht geändert, das Staatsoberhaupt verschärfte sogar den menschenrechtsfeindlichen Kurs

Von Philipp Schläger *

In diesen Tagen erscheint im Berliner Verlag Rotbuch eine Einschätzung der Politik des US-Präsidenten Barack Obama. Geschrieben wurde sie von unserem Auslandskorrespondenten in New York, Philipp Schläger. jW veröffentlicht leicht gekürzt und mit Zwischenüberschriften versehen das Kapitel über den Umgang des Präsidenten mit Guantánamo sowie mit Folter und gezielter Tötung von politisch Unliebsamen. (jW)


Mehr Willen zeigte Präsident Obama (...) bei der Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo. Dessen Fortbestehen schade dem Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt und gefährde die Sicherheit Amerikas, sagte er. Die Verbringung der Gefangenen in amerikanische Hochsicherheitsgefängnisse stelle dagegen keine Gefahr dar und stünde im Einklang mit amerikanischen Idealen. Es war mehr ein symbolischer Schritt als ein fundamentaler Kurswechsel. Das Gefangenenlager war zum Inbegriff der Exzesse der Regierung Bush geworden, ein Symbol unbegrenzter präsidialer Macht im Kampf der USA gegen die ganze Welt.

Mit 500 Gefangenen wurde ein Großteil der Inhaftierten bereits von Präsident Bush in die Freiheit entlassen oder in Länder überstellt, in denen sie heute unter Auflagen in Freiheit leben oder aufgrund von strafrechtlichen Ermittlungen inhaftiert bleiben. Der Wandel, den Barack Obama versprochen hatte, war daher eher symbolischer Natur. Mit der Schließung des Lagers und dem Transfer oder der Entlassung der restlichen 240 Gefangenen betraute er Daniel Fried, den ehemaligen Vizeaußenminister der Bush-Regierung.

Doch wie sich bald herausstellen sollte, gestaltete sich die Schließung des Lagers schwieriger als erwartet. Zunächst war unklar, wohin die im Lager verbliebenen Gefangenen gebracht werden sollten. Im Kongreß wehrten sich Republikaner wie Demokraten gegen eine Aufnahme der Häftlinge in Gefängnisse in ihren Bundesstaaten und blockierten die Schließung. Im Mai votierte der Senat nahezu geschlossen gegen die Finanzierung einer »Verlegung, Entlassung oder Inhaftierung« der Guantánamo-Insassen auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Die Abgeordneten waren nicht bereit, die vermeintlichen und im allgemeinen Sprachgebrauch längst verurteilten »Terroristen« aufzunehmen, um anschließend einen rechtsstaatlichen Prozeß zu organisieren, geschweige denn, sie auf amerikanischem Territorium freizulassen. (...)

Nun machte Obama sich die Sache zu eigen. Der Plan für einen Prozeß in New York kam ohnehin nicht recht voran, Bürgermeister Michael Bloomberg, der das Verfahren anfangs befürwortet hatte, sprach sich schließlich in Anbetracht der hohen Kosten und des Sicherheitsaufwands dagegen aus. Die Attentatsversuche des »Unterhosenbombers« Umar Farouk Abdulmutallab im Dezember 2009 und von Faisal Shahzad mit einer Autobombe auf dem New Yorker Times Square im Mai 2010 verschärften die Debatte. Präsident Obama erklärte sich unter dem Druck der Konservativen und angesichts einer neuen Dimension von Terrorversuchen durch amerikanische Staatsbürger bereit, das sogenannte Miranda-Recht für Terrorverdächtige zu modifizieren. Nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Institut müssen Beschuldigte vor der Vernehmung über ihre Rechte aufgeklärt werden. Dazu gehört etwa das Aussageverweigerungsrecht oder das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts. Im März 2010 erschienen Berichte, nach denen die Obama-Administration (dem mutmaßlichen Hintermann der Anschläge vom 11. September, Khalid Scheikh - d. Red.) Mohammed, und seine Komplizen abweichend von den Verlautbarungen des Justizministeriums vor Militärtribunalen anzuklagen plane.

Für rund 50 Gefangene gibt es weder eine Aussicht auf eine Entlassung noch auf irgendeine Art von Verfahren. Die US-Regierung will sie unbefristet festhalten. Im Mai 2009 hatte Barack Obama in seiner Rede zur Nationalen Sicherheitspolitik noch davon gesprochen, daß die Entscheidung über eine lang andauernde Inhaftierung nicht von einem einzelnen Menschen getroffen werden dürfe, und die Idee einer gesetzlichen Regelung ins Spiel gebracht, die bei Menschenrechtlern auf heftigen Widerstand gestoßen war. Im September 2009 berichtete die New York Times, daß die Obama-Administration im Kongreß nicht mehr auf die Verabschiedung einer speziellen Ermächtigungsgrundlage für die Inhaftierung der 50 Häftlinge drängen würde. Die US-Regierung beruft sich nunmehr auf die Autorisierung des Präsidenten zur Anwendung militärischer Gewalt gegen die Taliban und Al-Qaida durch den Kongreß 2001. George W. Bush hatte diese Autorität noch aus seiner Exekutivgewalt abgeleitet. Das Ergebnis bleibt dasselbe. (...)

Schutz für folternde Soldaten

Barack Obama versprach auch eine »bislang nicht dagewesene Offenheit« der US-Regierung. Transparenz stärke die Demokratie und mache die Arbeit der Regierung effizienter. Anfragen nach Dokumenten der Regierung auf der Grundlage des Freedom of Information Act sollten im Zweifel Folge geleistet werden - eine 180-Grad-Wende gegenüber der nach dem Justizminister George W. Bushs benannten »Ashcroft-Regel«. Doch schon bald zeigten sich die Grenzen der neuen Offenheit. Erst auf Druck der ACLU (die Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union - d. Red.), die auf der Grundlage des Freedom of Information Act auf die Freigabe der Dokument klagte, veröffentlichte die Obama-Administration im April 2009 die sogenannten Folter-Memos. Angesichts einer aussichtsreich erscheinenden Klage würde es besser aussehen, die Dokumente vorher »freiwillig« zu veröffentlichen, als aufgrund eines Gerichtsurteils dazu »gezwungen zu erscheinen«, sagten Mitarbeiter des Weißen Hauses.

Im April befürwortete seine Administration zudem die Veröffentlichung von neuen Fotos, die Mißhandlungen von Gefangenen in Afghanistan und im Irak durch US-Soldaten dokumentieren. Nur einen Monat später erfolgte der Kurswechsel. Auf Anraten des Pentagon untersagte Präsident Obama die Veröffentlichung, weil Kommandeure negative Auswirkungen auf ihre Truppen in den Kriegsgebieten befürchteten. Hinter den Kulissen setzte das Weiße Haus eine Änderung des Freedom of Information Act durch, nach der das Verteidigungsministerium in Zukunft jedwede Bilder von der Behandlung von Gefangenen unter der Bush-Administration zurückhalten darf. Im August veröffentlichte das Justizministerium zudem den Bericht des Generalinspekteurs der CIA, der unter George W. Bush 2004 die Umsetzung von Folter-Memos untersucht hatte. Viele Stellen in dem Bericht blieben weiterhin geschwärzt. Andere waren nun freigegeben und lassen darauf schließen, daß es bei ihrer Schwärzung nicht um die Sicherheit der Vereinigten Staaten gegangen war, auf die Präsident Bush regelmäßig verwiesen hatte, sondern um die Vertuschung von Straftaten. Der Bericht machte deutlich, daß die CIA-Folterer in zahlreichen Fällen selbst über die weiten Vorgaben der Folter-Memos hinausgegangen waren. Justizminister Eric Holder kündigte daraufhin eine »vorläufige Prüfung« dieser Exzesse an, die sich jedoch nicht gegen die Architekten des Folterprogramms richten sollte. Ein Ergebnis lag auch knapp ein Jahr später noch nicht vor.

Inzwischen verhindert die Obama-Administration die Veröffentlichung zahlreicher Dokumente, die mit Verbrechen der Bush-Administration in Zusammenhang stehen, wie etwa mit dem Programm für Geheimgefängnisse der CIA oder Dokumente über die Zerstörung von Verhörvideos. Sie habe auch weniger Informationen über Gefangene im afghanischen Bagram veröffentlicht als die Bush-Administration über Häftlinge in Guantánamo, kritisierte die Bürgerrechtsorganisation ACLU.

Obamas Nationale Sicherheitsstrategie vom Mai 2010 beinhaltet zudem das sogenannte State Secrets Privilege. Danach kann die Regierung in zivilgerichtlichen Verfahren den Ausschluß bestimmter Beweismittel verlangen, deren Veröffentlichung die nationale Sicherheit gefährden würde. Die Gerichte überprüfen in der Regel nicht, ob die Behauptung der Regierung zutreffend und die Gefährdung real sind. Die Bush-Administration hatte sich beispielsweise in Schadensersatzverfahren ehemaliger Gefangener und Folteropfer regelmäßig auf dieses von der Rechtsprechung entwickelte Instrument berufen. Auch unter der Administration Barack Obamas haben Opfer von Folter keine Möglichkeit, Schadensersatz und Schmerzensgeld vor amerikanischen Gerichten geltend zu machen. Rechtswissenschaftler hatten vorangegangene Administrationen einschließlich der von George W. Bush für ihren regelmäßigen Rückgriff auf diesen Grundsatz kritisiert, da sie diesen lediglich im eigenen Interesse und zum Schutz vor einer juristischen Aufarbeitung nutzten.

Präsident Obama änderte daran nichts. Im Gegensatz zur Vorgängerregierung versprach er lediglich, dieses Mittel nur begrenzt einzusetzen und nicht als Instrument zur Verschleierung von Straftaten zu benutzen. Doch die Realität sieht anders aus: In einer aufsehenerregenden Klage des Äthiopiers Binyam Mohamed und vier weiterer Kläger gegen eine Tochterfirma von Boeing berief sich der Anwalt der Regierung noch im Februar 2009 weiter auf das State Secrets Privilege. Die beklagte Firma soll im Rahmen des geheimen Auslieferungsprogramms der Bush-Administration an der Überstellung der Kläger an folternde Verbündete der USA beteiligt gewesen sein. Als nun das Berufungsgericht aufgrund des inzwischen erfolgten Wechsels der Administration fragte, ob sich an der Auffassung der Regierung hinsichtlich der Berufung auf das State Secret Privilege in diesem Verfahren irgendetwas geändert habe, antwortete der Anwalt schlicht: »Nein, Euer Ehren.« Eine Richterin des Berufungsgerichts hakte überrascht nach: »Der Wechsel der Administration hat keine Auswirkungen?« Der Anwalt blieb dabei: »Nein, Euer Ehren.« Doch die Richter in dem Verfahren votierten dieses Mal gegen die US-Regierung. Im April 2009 lehnte das Gericht eine umfassende Wirkung des State Secret Privilege ab und entschied, daß das Verfahren fortgesetzt werden könne. Es könne nicht zur pauschalen Blockade aller Beweise - darunter auch die Aussagen der Kläger - führen.

Härte gegen Whistleblower

Ein weiteres Problem der Geheimhaltungsmanie ist strukturell bedingt. Nach einem Bericht des Information Security Oversight Office (ISOO) der Regierung wurden 2009 rund 54 Millionen Dokumente als »geheim« eingestuft, viele davon sogenannte Derivate. Sobald sich ein Dokument auf einen geheimen Bericht bezieht oder eine Information aus einem solchen übernimmt, wird auch dieses Dokument als geheim eingestuft. Zu viele Mitarbeiter der Exekutive hätten die Befugnis, Dokumente als geheim zu klassifizieren, führte der Verfassungsrechtler Christopher H. Pyle aus. Sie könnten zwar für die Veröffentlichung der Dokumente bestraft werden, für den Fall einer falschen Klassifizierung gebe es jedoch keine juristische Handhabe, so Pyle weiter. Anstatt vor einem Feind zu schützen, führe diese exzessive Geheimhaltungspraxis die demokratischen Institutionen der USA ad absurdum.

Im Widerspruch zu seinem Bekenntnis für mehr Transparenz steht auch der Umgang des 44.US-Präsidenten mit Regierungsmitarbeitern, die im Bemühen, Mißstände aufzudecken, Informationen an die Presse weitergaben. Schon in seiner ersten Kabinettssitzung erklärte »No-Drama Obama«, daß er über interne Diskussionen seiner Regierung nichts in der New York Times oder Washington Post lesen wolle. Es war eines der wenigen Themen, die seine Coolness schwinden ließen. Tatsächlich ist Barack Obama im Umgang mit »Verrätern« weitaus aggressiver als sein Vorgänger. Während etwa die Vernichtung von Folterbeweisen mit dem Einverständnis von George W. Bushs CIA-Direktor Peter Goss 2005 auch nach dem Wechsel der Administration ohne juristische Folgen blieb, ging Obama schon in den ersten 17 Monaten seiner Amtszeit gegen mehr Whistleblower (Beamte, die auf Regelwidrigkeiten des Staates hinweisen - d.Red.) vor, als Bush in acht Jahren. Ein trauriger Rekord für einen Präsidenten, der sich noch als Staatssenator für einen besseren Schutz von Insidern eingesetzt und ihre Taten im Wahlkampf 2008 als »Akte der Tapferkeit und des Patriotismus«, die »ermutigt und nicht unterdrückt« werden sollten, bezeichnet hatte.

Trotz zahlreicher Einschüchterungsversuche gegen Journalisten und Regierungsmitarbeiter kam es unter Bush zu keiner einzigen Verurteilung wegen der Weitergabe von Informationen an die Presse. Der berühmteste Fall war die Anklage gegen Lewis »Scooter« Libby, nicht gerade ein Paradebeispiel für Whistleblower. Der damalige Vizestabschef von Vizepräsident Dick Cheney war an der Enttarnung der CIA-Agentin Valerie Plame beteiligt, eine Racheaktion des Weißen Hauses gegen den Ehemann Plames. Der Diplomat Joseph Wilson IV. hatte vor Beginn des Irakkrieges die Berichte der Bush-Administration über vermeintliche Ankäufe von Uran im Niger durch das Regime Saddam Husseins öffentlich angezweifelt. Die Preisgabe der Identität von Geheimagenten ist eine der wenigen strafrechtlich sanktionierten Vergehen, für die Whistleblower verurteilt werden können. Doch Libby wurde aufgrund seiner Aussagen im Ermittlungsverfahren wegen Meineids und nicht wegen der Offenlegung der Identität der Agentin verurteilt.

Im Mai 2010 wurde Shamai Leibowitz zu 20 Monaten Haft verurteilt. Der Übersetzer im Dienst des FBI hatte 2009 einem Blogger geheime Dokumente der Behörde zukommen lassen, aus denen sich nach Auffassung des sozial engagierten Linguisten Rechtsverstöße der Bundespolizei schlußfolgern ließen. Der Inhalt der Dokumente ist weiterhin geheim.

Im Juni 2010 bestätigte das Pentagon die Verhaftung des Gefreiten Brad Manning. Ihm wird vorgeworfen, unter anderem ein als geheim eingestuftes Video des US-Militärs weitergegeben zu haben, das die Erschießung von zwölf Zivilisten im Irak dokumentiert - darunter auch zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Nachdem die Website WikiLeaks zudem 92000 geheime Dokumente über den Krieg in Afghanistan und Pakistan veröffentlichte, weitete das Verteidigungsministerium das Verfahren gegen Manning aus und schaltete auch das FBI in die Ermittlungen ein.

Bereits im April 2009 hatte die Regierung den Exmitarbeiter des Spionagedienstes NSA Thomas Drake wegen der Weitergabe von Informationen über Mißstände und die Verschwendung von Steuergeldern der Behörde angeklagt. Obwohl in diesem Fall schon unter George W. Bush ermittelt worden war, oblag die Entscheidung für eine Fortführung des Verfahrens der Obama-Administration. Sie entschied sich »ohne zu zögern« für die Anklage. Im selben Monat erneuerte Obamas Justizminister Eric Holder eine Vorladung unter Strafandrohung des New-York-Times-Reporters James Risen. Die Regierung will den Autor des CIA-Enthüllungsbuches »State of War« dazu zwingen, seine Quellen offenzulegen. Eine solche Vorladung der Bush-Regierung hatte Risen ignoriert, und sie war verfallen.

Im August 2009 wurde zudem Brad Birkenfeld zu 40 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Exbanker hatte einen Steuerhinterziehungsskandal bei der Schweizer Bank UBS enthüllt. Seine Informationen führten zu einer Strafzahlung von 780 Millionen Dollar von UBS an die US-Behörden und der Preisgabe der Identität von 250 Kunden der Bank.

Spionage gegen US-Bürger

Auch auf einem anderen Gebiet geht Barack Obama neue Wege. Der US-Präsident hat nach Medienberichten die Tötung von US-Bürgern ohne ein Gerichtsverfahren und weitab von Schlachtfeldern autorisiert. Der Rahmen des Programms ist weiterhin geheim.

Noch im August 2009 erklärte die Obama-Administration zudem, daß sie die Praxis der Vorgängerregierung, Menschen in Drittstaaten zu bringen, um sie dort verhören zu lassen, fortsetzen werde. Man werde jedoch sicherstellen, daß die Betroffenen nicht gefoltert würden und deren Haftbedingungen beaufsichtigen, so das Weiße Haus. Details dieses Programms sind ebenso wenig bekannt.

Auch der Patriot Act bleibt unter Präsident Obama weiterhin in Kraft. Erst im Februar 2010 verlängerte der Kongreß auslaufende Regelungen des Gesetzes, das Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten weitreichende Befugnisse zur Spionage gegen US-Bürger überträgt.

Dies ist angesichts eines unkontrolliert wachsenden Geheimdienstapparats besorgniserregend. Im Juli 2010 berichtete die Washington Post über ein außer Kontrolle geratenes riesiges Netz von 1271 Regierungsorganisationen und 1931 privaten Unternehmen, die im Auftrag der Regierung an 10000 Orten innerhalb des Landes zunehmend auch die eigene Bevölkerung überwachen. Zwei Drittel dieser Kapazitäten unterstehen dem Verteidigungsministerium. Seit 9/11 hat sich das Budget für Geheimdienste mehr als verdoppelt und ist auf 75 Milliarden Dollar gewachsen. Der Geheimdienst NSA fängt täglich beispielsweise 1,7 Milliarden Telefongespräche und E-Mails ab. Der nationale Geheimdienstdirektor sei in diesem System allmächtig, erklärte der von Obama für den Posten nominierte Kandidat: »Das ist Gott.«

Zahl der Kritiker wächst

Für diejenigen, die von Barack Obama die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts erwarteten, waren seine ersten beiden Jahre im Amt enttäuschend. Auch wenn die öffentlichen Auseinandersetzungen das Gegenteil suggerieren, sind die Methoden, derer sich die Obama-Administration bedient, denen von George W. Bush sehr ähnlich. Es spricht Bände, daß mehrere hochrangige Mitarbeiter der Bush-Regierung im Gespräch mit der New York Times erklärten, daß sie mit den aktuellen Antiterrormaßnahmen zufrieden seien. Hayden sagte: »Es ist ein Kontinuum der ­Bush-Politik, insbesondere nachdem sie sich in der zweiten Amtszeit geändert hatte.« Noch weiter ging James Jay Carafano von der konservativen Heritage Foundation. »Ich denke nicht, daß es fair wäre, sie Bush light zu nennen«, sagte er über die Politik Obamas. »Sie ist Bush. Es ist sehr, sehr schwer, einen bedeutenden Unterschied zu finden, der nicht nur atmosphärisch ist.« Die Tonlage ist ohne Zweifel eine andere. Doch sie beschränkt sich auf die symbolische Verdammung einzelner Maßnahmen George W. Bushs aus der Vergangenheit.

Die Foltermethoden Bushs, die Barack Obama mit einer feierlichen Geste bei seiner Amtseinführung offiziell verboten hatte, hatte sein Vorgänger Jahre vorher aufgegeben. Die Geheimgefängnisse, deren Auflösung Obama kurz nach der Amtseinführung verfügte, gab es bereits seit 2006 nicht mehr. Indem der Präsident andererseits einen Großteil der Antiterrormaßnahmen seines republikanischen Vorgängers weiterhin praktiziert oder gar reaktiviert, bestätigt er eine Politik, die ehedem extrem kontrovers diskutiert worden war.

Der Präsident hält Menschen ohne Anklage gefangen. Er bedient sich unfairer Militärtribunale. Er autorisiert gezielte Tötungen. Er beruft sich auf Staatsgeheimnisse, um die Durchsetzung von Ansprüchen der Opfer zu blockieren. Daß er dennoch für sich beansprucht, Träger des »Wandels« zu sein, ist erstaunlich. Dabei kommen ihm sicherlich die Attacken des ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney sowie weiterer Republikaner zupaß, die ihm immer wieder vorwerfen, er sei zu »weich« gegenüber Terroristen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat Barack Obama allerdings die »Angriffe auf die Verfassung« eines George W. Bush fortgesetzt, die damit im gesellschaftlichen Mainstream innerhalb beider Parteien etabliert sind oder stillschweigend geduldet werden. Kritik ist nur noch am Rande zu vernehmen.

Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, faßte seine Kritik an Obamas Umgang mit Menschenrechten knapp ein Jahr nach dessen Wahl ins höchste Amt des Staates in einem Artikel für das Magazin Foreign Affairs zusammen, der mit »Leere Versprechungen?« überschrieben war. Darin führt er aus, daß Barack Obama aufgrund seiner Rhetorik »besser als die Bush-Administration« sei, legt anschließend jedoch dar, daß es an der Umsetzung mangele. Den »poetischen« Reden müßten »nüchterne« Taten folgen, die den von Obama selbst artikulierten Prinzipien gerecht würden, mahnte Roth.

Nicht nur Human Rights Watch gehört inzwischen zu den Kritikern des US-Präsidenten. Nachdem im März 2010 Berichte über eine anstehende Entscheidung Obamas an die Öffentlichkeit kamen, nach denen er plane, hochrangige Al-Qaida-Mitglieder entgegen den Äußerungen seines Justizministers nun doch vor Militärtribunalen anzuklagen, ließ die Bürgerrechtsvereinigung ACLU eine ganzseitige Anzeige in der New York Times drucken. Unter dem Titel »Was wird es sein, Herr Präsident? Wechsel oder mehr Gewohntes?« verwandelte sich das Gesicht Barack Obamas in einer Folge von Schwarz-Weiß-Aufnahmen in ein Porträt von George W. Bush. Die ACLU nannte die mögliche Entscheidung für Militärkommissionen einen »Todesstoß« für das Justizministerium und die amerikanischen Werte. Obama habe die Wahl. Er könne die amerikanische Verfassung und die Prinzipien rechtsstaatlicher Verfahren wiederherstellen oder seine eigenen Versprechen ignorieren und die »Bush-Cheney-Politik« fortsetzen. Barack Obama hat sich indes, so scheint es, längst entschieden.

Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident. Barack Obama und seine Politik, Berlin, Rotbuch, 192 Seiten (mit Fotos), 9,95 Euro

* Aus: junge Welt, 17. Sep. 2010


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