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Klassenkampf von oben

Die Neocons und der neue amerikanische Imperialismus – ein Resümee

Von Karl Drechsler *

Entstehung und Aufstieg einer zahlenmäßig kleinen, aber sehr einflussreichen Strömung des Konservatismus und Ultrakonservatismus in den USA ist das Thema der vorliegenden hochinteressanten Arbeit des jungen Politikwissenschaftlers Klaus Henning. Es widmet sich jener Gruppierung vorwiegend Intellektueller, die von liberalen auf rechte Positionen abgedriftet sind, die sogenannten Neokonservativen, auf Amerikanisch: Neoconservativs, abgekürzt Neocons.

In Fragen der Theorie und Praxis stimmen sie weitgehend mit anderen Flügeln der amerikanischen Rechten überein, vor allem mit den Ultrakonservativen der Republikanischen Partei und den zum Teil äußerst militanten christlichen Fundamentalisten, zu denen sich auch George W. Bush bekennt. Sie selbst bezeichnen sich gern als »liberale Imperialisten«. Denn: Im Imperialismus – als Begriff seit Langem negativ besetzt – sehen sie etwas durchaus Positives. Ein amerikanisch dominiertes Imperium ist ihrer Meinung nach wünschenswert und notwendig, um die Ordnung in der Welt zum Wohle aller aufrechtzuerhalten, um Freiheit, Demokratie und wirtschaftliche Stabilität auf dem ganzen Erdball auszubreiten und zu festigen.

Die Neocons fordern in Theorie und Praxis eine Politik militärischer Stärke. Sie propagieren das Recht der USA, gegen jeden Staat der Erde einen Präventivkrieg zu führen, wenn das in ihrer Sicht notwendig erscheint. Ein solcher Krieg könne mit Verbündeten, also multilateral, geführt werden. Wenn eine solches Bündnis, aus welchen Gründen auch immer, nicht zustande komme, dann sollten die Vereinigten Staaten ohne die geringsten Bedenken im Alleingang, unilateral handeln und dabei auch auf die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen keine Rücksicht nehmen. Die Ideen der Neocons gewannen in den außenpolitischen Debatten der USA seit den 1990ern immer mehr an Bedeutung. Einige ihrer Vertreter stiegen in den zwei Administrationen von George W. Bush zu wichtigen Gestaltern der amerikanischen Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik auf, u. a. Dick Cheney, Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und Richard Perle. Im Rahmen des »Krieges gegen den Terror« sowie bei der Vorbereitung und in den ersten Jahren des Irakkrieges gelang es den Neokonservativen, fast die gesamte liberale Elite und die Medien des Landes auf ihre Seite zu ziehen.

Nach Hennig gab und gibt es zwischen Konservativen und Neokonservativen einerseits und Liberalen andererseits, oder anders formuliert, zwischen »Falken« und »Tauben«, zwischen George W. Bush und seinem Amtsvorgänger Bill Clinton deutliche Unterschiede, zum Teil sogar scharfe Brüche, aber durchaus auch Konsens. Übereinstimmend verfolgten und verfolgen sie das Ziel, die amerikanische Vorherrschaft in der Welt unbedingt zu erhalten, sie möglichst sogar noch auszubauen und jeden potenziellen Rivalen als Gefährdung vitaler amerikanischer Sicherheitsinteressen zu betrachten. Deutliche Unterschiede bestehen hinsichtlich der Mittel und Wege, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Während erstere vorwiegend auf militärische Gewalt, Präventivkrieg und Unilateralismus setzen, bevorzugen letztere Multilateralismus, die strategische Einbindung der Verbündeten und eine gewisse Berücksichtigung ihrer Interessen. Politik und Diplomatie sollen vor dem Einsatz des Militärs rangieren. Unilateralismus und Präventivkrieg werden nicht völlig ausgeschlossen, aber nur im Notfall dürfe man darauf zurückgreifen.

Wie Henning ausführt, haben die Neocons ihre Wurzeln im Antikommunismus und Antisowjetismus der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, bei den sogenannten Cold War Liberals, dem Hauptstrom der Liberalen, der im Kalten Krieg eine militante antisowjetische Politik verfolgte. Die meisten Neokonservativen sind, wie bereits angedeutet, ursprünglich Liberale, die sich immer weiter nach Rechts entwickeln. Nur wenige kommen von der Linken, so z. B. der Historiker David Horowitz, der in der Studentenbewegung und der Bewegung gegen den Vietnamkrieg agierte. Zu den geistigen Vätern des Neokonservatismus gehören der Begründer der Theorie des Neoliberalismus Friedrich von Hayek und der rechte politische Philosoph Leo Strauss. Irving Kristol gilt als »Godfather« der Neocons. Weitere Galionsfiguren sind Robert Kagan und Samuel Huntington. Letzterer hat mit seiner These vom »Kampf der Kulturen« in nicht geringem Maße zur Verteufelung des Islam beigetragen. Neuerdings versucht er allerdings, sich vorsichtig von bisher vertretenen Ideen abzusetzen. Gefördert werden die Neokonservativen von rechten Stiftungen und Denkfabriken wie der Heritage Foundation und dem American Enterprise Institute.

Der Aufstieg der Neocons erfolgte vor dem Hintergrund der Veränderungen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stattfanden. Die USA wurden zur einzigen Supermacht. Parallel dazu vollzog sich aber auch ein allmähliches Erstarken potenzieller Rivalen (der Europäischen Union, Russlands, Chinas und, mit gewissem Abstand, Indiens), die einzeln oder in Kombinationen irgendwann die amerikanische Vorherrschaft bedrohen können. Die von den Neokonservativen initiierte neue imperiale Strategie und der von George W. Bush durchgesetzte riskante außenpolitische Kurswechsel sind daher nach Hennig nicht nur Ausdruck der Stärke, sondern auch der potenziellen Schwäche der USA.

Ein kritischer Hinweis zum Schluss: Entstehung und Aufstieg der Neokonservativen könnten noch überzeugender in langfristige, übergreifende gesellschaftliche Prozesse der USA eingeordnet werden: Unter den Präsidenten Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson fanden innen- und sozialpolitische Reformen statt, die, zusammen mit den Bürgerrechtsgesetzen, das Land veränderten. Von der Mitte der 1970er an gingen dann einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in einer Art von großangelegter Gegenoffensive dazu über, diese in ihrer Sicht verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen und wieder zurückzurollen. In den folgenden Jahrzehnten gelang es ihnen, die politische Agenda im Land Schritt für Schritt immer weiter nach rechts zu verschieben. In einer in diesem Umfang kaum erwarteten Umverteilung wurden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer, und selbst die middle class konnte sich diesem Sog nicht entziehen. Die zwei Administrationen von George W. Bush sind der bisherige Höhepunkt dieser Vorgänge, die von einer Reihe politischer Analysten als »class struggle from above« bezeichnet werden. Entstehung und Aufstieg der Neocons sind ein Teil dieses »Klassenkampfes von oben«.

Klaus Henning: Aufstieg der »Neocons«. Politische Intellektuelle in den USA und der »Neue Imperialismus«. ISP Verlag, Köln. 164 S., br.,16,80 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Juli 2007


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