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"Capitalism: A Love Story"

Ein verrottetes System

Von Lotta Suter *

Das US-Wirtschaftssystem, sagt der Filmemacher Michael Moore, sei eine Tragödie klassischen Ausmasses. Doch immerhin lässt er das Publikum ein wenig Hoffnung schöpfen.

Der neue Michael Moore ist nicht so lustig. Die Landschaft von Flint, Michigan, präsentiert sich trostloser denn je. Und der Filmemacher selbst lässt bei seinen gewohnten kleinen Auftritten im eigenen Film seine gesamte Physiognomie hängen, Tränensäcke, Backen, Kinn und Bauch. «Ich weiss nicht, wie lange ich das noch machen kann», klagt er einmal im Off.

Nun könnte man sagen, das sei alles eine Frage des Alters. Sowohl die typisch moorschen Dokumentarfilmmethoden und -tricks wie auch der Regisseur seien in die Jahre gekommen. Die polemischen Konfrontationen mit dem Gegner, die clownesken Einlagen des Regisseurs und die einfühlsamen, bisweilen etwas rührseligen Porträts der «kleinen Leute», die bösen Machenschaften zum Opfer gefallen sind, hätten ihre Publikumswirksamkeit verbraucht. Doch vielleicht ist es nicht so sehr der Dokumentarist, sondern das Objekt seiner Begierde, das verhasste und geliebte Amerika, das die besten Zeiten hinter sich hat.

Keine Rettung in Sicht

In früheren Filmen hat Superman Michael Moore spezifische Bösewichte bekämpft: den Automobilkonzern General Motors («Roger & Me», 1989), die Waffenlobby («Bowling for Columbine», 2002) George W. Bush («Fahrenheit 9/11», 2004), das US-Gesundheitswesen («Sicko», 2007). Doch im neusten Streifen entgleitet ihm das «Heartland», der gute patriotische Kern, den er vor üblen Einflüssen retten will. Das System ist bis ins Innerste verrottet. Der Kapitalismus hat die USA zu dem gemacht, was sie heute sind, und nun muss Moore zugeben: Der Kapitalismus kann nicht reformiert, er kann bloss noch eliminiert werden. Wo bleiben da die konkreten Feinde, die man dia­bolisch ablichten und tendenziös zitieren kann? Wo kommt Rettung in Sicht?

Moore legt sich immer noch gerne direkt mit den Mächtigen an. Wie schon 1989 in seinem ersten grossen Film «Roger & Me» versucht er zwanzig Jahre danach nochmals ins GM-Hauptquartier in Detroit einzudringen. Er fährt ausserdem im gepanzerten Geldtransporter bei Goldman Sachs in New York vor und verlangt als Steuerzahler das Bail-out-Geld zurück (ohne zu vermerken, dass diese Bank via Weinstein Company auch an der Finanzierung seines eigenen Films beteiligt war). Moore sperrt einen Teil von Wall Street mit gelbem Band als Tatort des Verbrechens ab und droht den CEOs per Megaphon ein «citizen’s arrest» an, die vorläufige Festnahme durch seine eigene Zivilperson. Doch da, wo es wirklich ernst wird, nimmt Moore sich zurück und gibt (katholischen) Geistlichen das Wort. Mehrere Priester und sogar ein Bischof sagen laut und deutlich, dass der Kapitalismus schlecht und eine Sünde sei.

Schale Kasinometapher

Diese auffällige Hinwendung zum Religiösen ist von manchen Kritiker­Innen durch Michael Moores eigene traditionell katholische Kindheit erklärt worden; schliesslich wollte Moore als Jugendlicher sogar Priester werden. Andere sagen, der Linkspopulist Moore folge ganz einfach dem politischen Trend der Obama-DemokratInnen, die das weite Feld der Religion stärker besetzen und nicht allein den Rechtskonservativen überlassen wollen. Es gibt aber noch einen dritten Grund, die moralische Kategorie der Sünde in die Polit­ökonomie einzuführen. Dieser Grund ist die Wirklichkeit, der Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft oder noch genauer: der Status quo des Kapitalismus in den USA des 21. Jahrhunderts. Weitaus sprödere und säkularere Persönlichkeiten als Michael Moore verwenden heutzutage Begriffe aus der Mythos- und Märchenwelt, wenn sie das Wirtschaftsgeschehen in den USA beschreiben sollen. Der Ökonom James Galbraith etwa spricht vom «Räuberstaat» und die Publizistin Naomi Klein von der «Rückkehr der Räuberbarone». Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stig­litz nennt die herbeigeredete wirtschaftliche Erholung den «Frühling der Zombies», und auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman befürchtet die «zombiehafte Wiederkehr der totgesagten Reaganomics». Was gegenwärtig passiert, ist so irrational, dass es nicht in rationale – und schon gar nicht in traditionell ökonomische – Begriffe zu fassen ist. Und für die schale Kasinometapher, die sich leider auch Moore nicht ganz verkneifen kann, ist die Not der Verlierer ganz einfach zu gross. Es ist vielleicht das grösste Verdienst von Michael Moores «Capitalism: A Love Story», zu dokumentieren, dass die Menschen nicht bloss Hab und Gut, Job und Dach über dem Kopf verlieren, sondern auch ihre Existenz, ihre Identität, ihre Menschenwürde.

Kampfgeist auftanken

Religion funktioniert in Moores Film als möglicherweise mehrheitsfähiger Ersatz für politisch explizitere Arten von ganzheitlichem Denken – für demokratischen Sozialismus etwa. Doch was heisst schon «funktioniert»? Niemand, nicht einmal Michael Moore, wird behaupten wollen, dass sich hochkomplexe gesellschaftliche und ökonomische Theorien auf die Aussage «Kapitalismus ist Sünde» verdichten lassen. Andererseits haben wir uns alle schon so an die Begriffe «Einkommensgefälle», «soziale Ungerechtigkeit» oder «Diskriminierung» gewöhnt, dass uns vielleicht das starke moralische Geschütz der Sündhaftigkeit kurz aus der Ruhe bringt. Im besten Fall werden wir angeregt, angesichts der Kurzlebigkeit von Unternehmensprofiten und politischen Wahlkampagnen vermehrt in breiteren und längerfristigen humanistischen Kategorien zu denken. Die Religion ist ein System unter anderen, das eine solch umfassende Perspektive anbietet. Manchmal tut es das, auch in Moores Film, auf Kosten der klassischen Aufklärung.

Aber wer sucht in einem Moore-Film schon analytische Tiefenschärfe und faktische Belege? Man erfährt auch anderswo, dass in den USA alle 7,5 Sekunden eine neue Zwangsenteignung eingeleitet wird. Oder dass seit Krisenbeginn 7,5 Millionen Arbeitsplätze beseitigt wurden. Man kann im Forbes-Index direkt nachlesen, dass der Reichtum der 400 reichsten AmerikanerInnen im letzten Krisenjahr nicht ab-, sondern um dreissig Milliarden Dollar zugenommen hat. Doch mit Moores Eskapaden kann man etwas Kampfgeist auftanken. Man bekommt Täter und Opfer klar benannt? – denn die etablierten Medien bezeichnen den Ausverkauf der Arbeitskräfte niemals als Plünderung.

Und nicht zuletzt kann man ein wenig Hoffnung schöpfen. Viele Intellektuelle haben die kleine selbstverwaltete Brotfabrik in Kalifornien, die Michael Moore am Ende als Kapitalismus­alternative vorschlägt, als naiv belächelt. Aber irgendwo muss man ja anfangen, anders zu arbeiten und zu leben. Und man muss sich das Andersarbeiten und Andersleben irgendwo auch ansehen können.

«Capitalism: A Love Story». Regie: Michael Moore. USA 2009. Ab 22. Oktober in Deutschschweizer Kinos.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 22. Oktober 2009


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