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Manning-Urteil soll abschrecken

Scharfe Kritik am Schuldspruch gegen den US-Whistleblower

Von Max Böhnel, New York *

Seit Mittwoch berät das US-Militärgericht in Fort Meade über das Strafmaß für den Whistleblower Bradley Manning. Dem 25-jährigen Armeeangehörigen droht lebenslange Haft, weil er geheime Informationen öffentlich gemacht habe. Der Schuldspruch vom Dienstag hat weltweit Kritik hervorgerufen.

Mit ihrem Urteilsspruch, zu dem Hunderte von Medienvertretern angereist waren, hatte die Militärrichterin Denise Lind bei Bradley Manning und seinen Unterstützern zunächst für Erleichterung gesorgt. Denn sie wies den folgenschwersten Anklagepunkt nach Artikel 104 des Militärgesetzbuches zurück. Darin geht es um »Feindunterstützung«. Sie kann mit der Todesstrafe geahndet werden. Doch dann löste Lind Bestürzung aus. Denn in 20 der 22 Anklagepunkte hagelte es Schuldsprüche, von der Spionage bis zur Computerkriminalität. So könnte Manning eine Maximalstrafe von 136 Jahren erhalten.

Im Februar hatte sich der Whistleblower einiger weniger schwerer Punkte schuldig bekannt. Aber die Militärrichterin folgte der Militäranklage und damit der Obama-Regierung mit einem Urteil gemäß des »Espionage Act« von 1917. Das Gesetz diente im Ersten Weltkrieg zur Unterdrückung von politischen Dissidenten und Kriegsgegnern, denen »Weitergabe von Informationen« vorgeworfen wurde, die »zur Verletzung der Vereinigten Staaten oder zum Vorteil einer fremden Nation führt«.

Manning blieb während der Verlesung des Urteils gefasst. Sein Verteidiger David Coombs begab sich danach zu einer Gruppe von Unterstützern und sprach von einem »guten Tag«, auch wenn »Bradley keineswegs aus der Schusslinie« sei. Entscheidend sind jetzt die kommenden drei Wochen. Denn in weiteren Prozesstagen wird nun über das Strafmaß verhandelt. Dazu haben Anklage und Verteidigung Dutzende von Zeugen geladen, und Coombs hofft, die Haftzeit deutlich nach unten drücken zu können. Doch das Urteil ist empörend. Denn es droht, einen jungen Soldaten, der eindeutig aus Gewissensgründen gehandelt hat, für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu verbannen. Und es soll zweifellos auch eine abschreckende Wirkung auf weitere Whistleblower haben.

Wikileaks verurteilte am Dienstag den Schuldspruch. Es zeige den »gefährlichen nationalen Sicherheitsextremismus der Regierung« von Präsident Barack Obama. Die Organisation Reporter ohne Grenzen zeigte sich »bestürzt über das Urteil«. Manning sei »der Prototyp eines Informanten, der unter großen persönlichen Risiken politische Missstände öffentlich gemacht hat«, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. Die durch ihn ermöglichten Enthüllungen hätten eine breite Debatte in den USA und darüber hinaus über die Irak- und Afghanistanpolitik Washingtons sowie über Exzesse von Militär und Justiz angestoßen. Deshalb schaffe das Urteil gegen ihn einen gefährlichen Präzedenzfall.

Die »New York Times« schrieb am Mittwoch in einem bemerkenswert kritischen Leitkommentar, hinter dem Urteil verberge sich »ein Apparat nationaler Sicherheit, ausgewuchert zu einer regierungsamtlichen, unkontrollierten Geheimnistuerei«. Wer die Grenzen dieser Maschinerie überschreite, der werde mit »Übereifer angeklagt«.

Wikileaks-Ikone Julian Assange nannte den Prozess Teil »des Krieges gegen den investigativen Journalismus«, den die USA führe. »Nicht, wer wie Manning Kriegsverbrechen aufdeckt, sondern wer sie begeht oder vertuscht, gehört hinter Gitter«, so Sevim Dagdelen, Mitglied im Auswärtigen Bundestagsausschuss und Sprecherin der Linksfraktion für Internationale Beziehungen. DIE LINKE fordert die Bundesregierung auf, gegen die Verurteilung zu protestieren und sich für die Freilassung Mannings einzusetzen, und unterstützt seine Nominierung für den Friedensnobelpreis.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 1. August 2013


»Drei Jahre sind genug«

Unterstützer von Bradley Manning fordern dessen Freilassung. US-Militärgericht spricht Whistleblower schuldig für 20 Delikte. Hauptvorwurf »Unterstützung des Feindes« zurückgewiesen

Von Jürgen Heiser **


Wir haben eine Schlacht gewonnen, jetzt müssen wir noch den Krieg gewinnen«, kommentierte Bradley Mannings Zivilverteidiger David Coombs, selbst ehemals Soldat im Irak-Krieg, das Urteil gegen seinen Mandanten. Coombs wertete den Dienstag als »guten Tag« für seinen Mandanten, weil Militärrichterin Oberst Denise Lind in Fort Meade im US-Bundesstaat Maryland im Anklagepunkt »Unterstützung des Feindes« auf »nicht schuldig« erkannt hatte. Damit war der Hauptangriff der Ankläger des Pentagon abgewehrt, die von Prozeßbeginn an den 25jährigen Whistleblower zum »Hochverräter« stempeln wollten. Nur damit hätten die Militärstaatsanwälte den Wiki­leaks-Informanten lebenslang und ohne Aussicht auf Bewährung hinter Gitter bringen können. Ein Todesurteil hatte das Pentagon schon im Vorverfahren als Höchststrafe ausgeschlossen.

Sein Mandant sei damit »keineswegs aus der Schußlinie«, erklärte Coombs nach der Verhandlung vor mehreren Dutzend Unterstützern, die seit dem Morgen vor den Toren des US-Stützpunktes Fort Meade »Freiheit für Bradley Manning« gefordert hatten. Coombs dämpfte damit seinen spontan geäußerten Optimismus wegen des Wegfalls der Hauptklage. Schließlich hatte Richterin Lind mit ihrem Urteil noch genug Munition der Staatsanwaltschaft auf Manning abgefeuert und ihn in 20 von 22 Anklagepunkten schuldig gesprochen, darunter fünfmal wegen Spionage und fünfmal wegen Diebstahls von Regierungseigentum.

Das Pentagon habe Manning von einem Gericht verurteilen lassen, das sich »in guter Nachbarschaft zur Spionagezentrale des NSA-Hauptquartiers« befinde, kommentierte Pepe Escobar auf der Internetseite des TV-Senders Russia Today den Justizakt. Von einer Richterin wie Denise Lind, die Gründe habe, den Vorgaben des Pentagon wie »einer Karotte vor ihrer Nase« zu folgen, weil »nach diesem Schauprozeß ihre Beförderung in das US-Militärberufungsgericht« anstehe.

Der US-Publizist Glenn Greenwald, verantwortlich für die Veröffentlichungen der Informationen des ehemaligen NSA-Mitarbeits Edward Snowden, riet allen Journalisten, sich »die Implikationen des Urteils genau anzusehen«. Die von den »Anklägern entwickelten Theorien« über Enthüllungen staatlichen Handelns beträfen »alle Journalisten und Quellen«.

»Bradley Manning ist kein Verbrecher«, erklärte Karin Binder, Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke, nach dem Urteil. Der Schuldspruch widerspräche jeglichem demokratischen Verständnis, so Binder. Bereits Mannings Inhaftierung »mit Erniedrigung und Folterung« sei ein massiver Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvention. Der US-Soldat habe hingegen »die erschreckende Brutalität des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen den Irak weltweit für viele Menschen sichtbar gemacht«. Ähnlich argumentiert hatten am Tag vor dem Urteil 17 Abgeordnete des EU-Parlaments in einem offenen Brief an US-Präsident Barack Obama und Justizminister Eric Holder. Manning habe durch seine Enthüllungen der Irak- und Afghanistan-Kriegs­protokolle »endlich Licht auf die Okkupationen geworfen« und neben anderen Kriegsverbrechen »das routinemäßige Töten von Zivilisten aufgedeckt«. Manning habe »weltweite Diskussionen, Debatten und Reformen auslösen« wollen, so die Abgeordneten. In der Haft habe er »schon genug gelitten« und müsse deshalb freigelassen werden.

»Drei Jahre sind genug« ist mit Blick auf Mannings gesetzwidrig lange Untersuchungshaft auch der Tenor der Reaktionen der weltweiten Solidaritätsbewegung. Dank an die »Tausenden Menschen, die sich für Brads Sache eingesetzt und demonstriert haben«, drückte Mannings Familie in einer Erklärung aus. Spenden und seelischer Beistand hätten geholfen, »diese lange und schwierige Zeit« durchzustehen. Besonders Anwalt Coombs, »Courage to Resist« und das »Bradley Manning Support Network« hätten »einem jungen Obergefreiten die Selbstverteidigung gegen die geballte Macht der US-Armee und der US-Regierung erlaubt«, so die Familie.

Der Prozeß ist aber noch nicht zu Ende. Seit Mittwoch wird darüber verhandelt, welches Strafmaß das Gericht am Ende aussprechen wird. Nach angelsächsischem Recht, so auch dem US-Militärstrafgesetzbuch, sind Schuldspruch und Strafzumessung voneinander getrennt. Verteidigung und Staatsanwaltschaft haben für die kommenden drei Wochen zahlreiche Zeugen geladen, durch deren Aussagen die Prozeßgegner Einfluß auf die Höhe der Strafe nehmen wollen. Wenn jetzt in den Medien eine Endstrafe von bis zu 136 Jahren genannt wird, liegt dem eine simple Addierung der Einzelstrafen für die abgeurteilten 20 Delikte zugrunde. Richterin Lind entscheidet dann, ob die Einzelstrafen nacheinander abzusitzen sind oder sie zu einer niedrigeren Gesamtstrafe zusammengezogen werden. Außerdem legt das Gericht fest, ob und ab wann eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung statthaft wäre. Die endgültige Strafe wird Richterin Lind eventuell erst Ende August verkünden.

Das »Bradley Manning Support Network« kündigte unterdessen eine Kampagne an, mit der US-Präsident Barack Obama aufgefordert wird, Manning zu begnadigen. Den Inhalt habe letzte Woche eine ganzseitige Anzeige in der New York Times vorgegeben. Dort hieß es, Manning habe Obamas Versprechen »transparenter Regierungsarbeit« geglaubt, und daß der »Whistleblower schützen« würde. Es sei nun Zeit, dieses Versprechen einzulösen und damit bei Bradley Manning zu beginnen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 1. August 2013

Obama höhlt demokratische Freiheiten aus

Wikileaks-Gründer Julian Assange erklärte am Dienstag abend von seinem Zufluchtsort aus, der Botschaft Ecuadors in London, zum Urteil im Militärgerichtsprozeß gegen Bradley Manning:

Heute wurde der Whistleblower Bradley Manning vom Militärgericht in Fort Meade in 19 Anklagepunkten schuldig gesprochen, Informationen an die Presse geliefert zu haben, darunter in fünf Punkten wegen »Spionage«. Ihm droht jetzt eine Höchststrafe von 136 Jahren.

Die Anklage wegen »Unterstützung des Feindes« wurde fallengelassen. Sie war nur einbezogen, so scheint es, um es als begründet erscheinen zu lassen, Journalismus als »Spionage« bezeichnen zu dürfen. Das ist es aber nicht.

Bradley Mannings angebliche Enthüllungen haben Kriegsverbrechen aufgedeckt, Revolutionen ausgelöst und zu demokratischen Reformen geführt. Er ist der Inbegriff eines Whistleblowers.

Dies ist die erste Verurteilung eines Whistleblowers wegen Spionage. Sie schafft einen gefährlichen Präzedenzfall und ist ein Beispiel für einen Extremismus der nationalen Sicherheit. Dieses kurzsichtige Gerichtsurteil kann nicht toleriert werden und muß wieder aufgehoben werden. Es darf niemals sein, daß die Übermittlung wahrheitsgemäßer Informationen an die Öffentlichkeit »Spionage« ist.

Präsident Obama hat mehr Spionage­verfahren gegen Whistleblower und Verleger eingeleitet als alle US-Präsidenten vor ihm zusammen.

2008 hat Barack Obama als Präsidentschaftskandidat mit einem Wahlprogramm für sich geworben, in dem Whistleblowing als Akt des Mutes und des Patriotismus gepriesen wurde. Dieses Wahlprogramm wurde in vollem Umfang verraten. Sein Wahlkampfdokument sieht Whistle­blower als Wächter für den Fall, daß die Regierung ihre Autorität mißbraucht. Vergangene Woche wurde es aus dem Internet entfernt.

Während des Prozesses fiel auf, daß etwas fehlte: Es gab keinerlei Opfer. Die Staatsanwaltschaft erbrachte keinen Beweis und behauptete auch nicht, daß auch nur eine einzige Person durch Bradley Mannings Enthüllungen zu Schaden gekommen ist. Zu keiner Zeit behaupteten die Ankläger, daß Mr. Manning für eine fremde Macht arbeitete.

Das einzige »Opfer« war der verletzte Stolz der US-Regierung, aber der Mißbrauch dieses feinen jungen Mannes war nicht der Weg, das Problem zu lösen. Im Gegenteil hat gerade die Mißhandlung von Bradley Manning in aller Welt ein Gefühl des Ekels darüber ausgelöst, wie tief die Obama-Regierung gesunken ist. Das ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche.

Die Richterin hat es zugelassen, daß die Staatsanwaltschaft wesentliche Veränderungen der Anklagevorwürfe vornehmen konnte, nachdem sowohl die Verteidigung als auch die Anklage ihren Part in der Beweisaufnahme bereits beendet hatten. Sie ließ 141 Zeugen der Anklage zu und gestattete ihr, umfangreiche Geheimbeweise in die Verhandlung einzuführen. Im Auftrag der Regierung wurde Bradley Manning in einem Käfig gefangengehalten, nackt eingesperrt und isoliert, um ihn zu brechen, eine Handlungsweise, die vom UN-Sonderberichterstatter für Folter offiziell verurteilt wurde. Dieser Prozeß war zu keiner Zeit fair.

Die Obama-Regierung hat die demokratischen Freiheiten in den Vereinigten Staaten ausgehöhlt. Mit dem heutigen Urteil hat Obama aber einen noch viel größeren Schaden angerichtet. Die Regierung ist darauf aus, Whistleblower abzuschrecken und zum Schweigen zu bringen und die Pressefreiheit zu schwächen.

In der US-Verfassung heißt es: »Der Kongreß darf kein Gesetz machen, das (…) die Rede- oder Pressefreiheit einschränkt«. Welchen Teil von »kein« versteht Barack Obama nicht?

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

(junge Welt, 01.08.2013)



Präzedenzfall

Von Olaf Standke **

Seit gestern berät das Militärgericht in Fort Meade über das Strafmaß für Bradley Manning. Der Whistleblower in der Uniform der U.S. Army wurde zwar im schwerwiegendsten Anklagepunkt – Unterstützung des Feindes – freigesprochen, was ihm die Todesstrafe erspart. Aber er wird teuer bezahlen, weil er seinem Gewissen gefolgt ist und der Enthüllungsplattform Wikileaks u.a. Informationen über massive Menschenrechtsverletzungen zugespielt hat. Dem 25-Jährigen droht ein Leben hinter Gittern. Jene aber, deren Kriegsverbrechen er z.B. im Video »Collateral Murder« enthüllt hat, sind bis heute frei.

Von einem gefährlichen Präzedenzfall spricht »Reporter ohne Grenzen«. Denn dieser Prozess soll präventiv all jene mundtot machen, die sich nicht mit Missständen etwa im Namen des Antiterrorkampfes abfinden wollen. Es ist ein bitterer Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet unter dem von Bürgerrechtlern so vehement unterstützten Hoffnungsträger Obama die Verfolgung von Informanten in den USA drastisch verschärft wurde, während seine Regierung die Welt zugleich flächendeckend ausspähen lässt. So hat sie auch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um des flüchtigen Ex-Geheimdienstlers Edward Snowden habhaft zu werden, der den jede Grenze sprengenden Spionageskandal enthüllte. Als Präsidentschaftskandidat hatte Obama das Whistleblowing noch als Akt des Mutes und des Patriotismus gerühmt. Höchste Zeit, dass es gesetzlich geschützt wird, nicht nur in den USA.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 1. August 2013 (Kommentar)


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