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Exempel statuieren

Offizielles Kriegsgerichtsverfahren: US-Militärjustiz will Obergefreiten Bradley Manning wegen Geheimnisverrat lebenslänglich hinter Gitter bringen

Von Jürgen Heiser *

Die US-Militärjustiz wird gegen den mutmaßlichen »Whistle­blower« Bradley Manning ein offizielles Kriegsgerichtsverfahren einleiten. In einer Verlautbarung vom Donnerstag (Ortszeit) gab die Führung des Militärdistrikts von Washington D.C. bekannt, für den Untersuchungsrichter Oberstleutnant Paul Almanza bestünden »vernünftige Gründe dafür, daß der Beschuldigte die ihm vorgeworfenen Straftaten begangen hat«. Damit war in knappen Worten das Ergebnis einer sechstägigen vorgerichtlichen Anhörung zusammengefaßt, die unter dem Vorsitz von Almaza im Dezember stattgefunden hat (jW berichtete). Bis auf zwei Ausnahmen waren in dieser Anhörung nur von der Staatsanwaltschaft handverlesene Belastungszeugen aufgetreten.

Seit Mai 2010 in Haft

Der 24jährige Obergefreite Manning befindet sich seit Mai 2010 in Militärhaft. Er wird beschuldigt, als Nachrichtenanalyst der US-Armee in Bagdad große Mengen geheimer Dokumente des Militärs und des State Departements über die Kriege in Afghanistan und Irak an die Internet-Enthüllungsplattform Wiki­leaks weitergegeben zu haben. Die Anhörung diente dem alleinigen Zweck, die Frage zu prüfen, ob die Beweise für ein Kriegsgerichtsverfahren ausreichen.

Das Pentagon zeigt sich mit der Entscheidung für einen Prozeß entschlossen, Manning wegen »Unterstützung des Feindes« zu lebenslanger Haft zu verurteilen und ihn auf diesem Wege außerdem noch zu einem Zeugen gegen den derzeit in britischer Auslieferungshaft befindlichen Wikileaks-Gründer Julian Assange zu machen. Der Versuch des Manning-Verteidigers David Coombs, per Antrag die insgesamt 22 Anklagepunkte auf nur drei zu reduzieren, wurde abschlägig beschieden.

Die Strafakten werden nun an höhere Instanzen der US-Militärgerichtsbarkeit weitergeleitet, die Almanzas Feststellungen prüfen und endgültig über die Verfahrenseröffnung entscheiden werden. Der Prozeß wird frühestens in drei bis fünf Monaten beginnen.

»Wir sind enttäuscht, aber in keiner Weise überrascht«, erklärte Jeff Paterson, Sprecher des »Bradley Manning Support Network« auf der Website der Unterstützer. »Für den Untersuchungsrichter war es kein Problem, daß er wegen seiner gleichzeitigen Tätigkeit als Staatsanwalt für das Justizministerium befangen sein könnte.« Es sei ja auch kein Problem gewesen, so Paterson, daß Präsident Barack Obama als Oberbefehlshaber der US-Armee Manning bei einem offiziellen Anlaß schon für schuldig erklärt habe, als er im April 2011 in San Francisco über den Obergefreiten sagte, er habe »das Gesetz gebrochen«.

Für Kevin Zeese, Anwalt des Unterstützungsnetzwerks, steht das geplante Kriegsgerichtsverfahren im Widerspruch zu Äußerungen der US-Regierung, daß die Wikileaks-Enthüllungen »im Bereich der nationalen Sicherheit keinen Schaden angerichtet haben«. Für Zeese muß es im kommenden Verfahren darum gehen, den Nachweis zu erbringen, daß die meisten als »geheim« eingestuften Dokumente gar nicht geheim sind.

In der Friedens- und Solidaritätsbewegung wird vor dem Hintergrund des drohenden Kriegsgerichtsverfahrens derzeit darüber diskutiert, daß sowohl Verteidigung als auch die Unterstützer Mannings mit Nachdruck darauf hinweisen müssen, daß der Ankläger in der Anhörung, Hauptmann Ashden Fein, Manning als einen »voll ausgebildeten Spezialisten« darstellte, der seine Stellung quasi professionell dazu nutzte, seinem Land zu schaden und »den Feind zu unterstützen«. Als Feind benannte Hauptmann Fein »Al Qaida«.

Objekt des Pentagon

David Coombs, Mannings ziviler Hauptverteidiger, versuchte hingegen Mannings jugendliches Alter, seine Homosexualität sowie psychische Probleme während des Einsatzes in Bagdad in seinem Plädoyer in die Waagschale zu werfen, um das in einem kommenden Kriegsgerichtsverfahren drohend im Raum stehende Urteil zu lebenslanger Haft von seinem Mandanten abzuwenden. Der Verteidigung ging es dabei darum, aufzuzeigen, daß in diesem Verfahren ein Mensch, der in jungen Jahren schon Objekt einer verfehlten Rekrutierungspolitik des Pentagon wurde, nun auch noch zum Objekt einer Disziplinierungspolitik gemacht werden soll, die vermeintlichen oder tatsächlichen Geheimnisverrat durch abschreckende Urteile künftig verhindern soll.

Als Manning 17 Jahre alt war und unbedingt einen Job in der IT-Industrie finden wollte, blieb ihm dieser Weg und der zu einem Studienplatz verwehrt. Am Ende blieb ihm nur eine Chance, die für viele seiner Generation der letzte vermeintliche »Ausweg« ist: Sich zum Militärdienst zu verpflichten und so den Anspruch auf ein College-Stipendium zu erwerben.

In den militärischen Strukturen stieß er aber auf eine Realität, der er sich letztlich nicht gewachsen fühlte und die er auch nicht aushalten wollte. Seine Vorgesetzten kamen zu dem Schluß, er sei »mental instabil«, und ordneten seine umgehende Entlassung aus dem Militärdienst an. Hinter vorgehaltener Hand erfuhr ein Kamerad Mannings jedoch, dieser solle »recycelt« werden. Das ist der Army-Slang für die Wiederverwendung im aktiven Einsatz. In Bagdad bestand 2008 ein Mangel an Nachrichtenanalysten zur Überwachung des Internets. Manning wurde als Lückenbüßer gebraucht. Da war sein persönlicher Zustand zweitrangig.

Nach Aussagen von Ex-Soldaten gegenüber Reportern der britischen Guardian Films habe die US-Armeeführung die Rekrutierungsvoraussetzungen für den Einsatz in Irak »wie verrückt« gelockert. »Gesichtstätowierungen, körperlich zu groß, zu klein, zu dick, Vorstrafen, egal«, das alles habe keine Rolle mehr gespielt. Man habe sogar über 40jährige für die Grundausbildung rekrutiert. So sollte auch Manning für den Dienst in Bagdad »recycelt« werden. Obwohl Vorgesetzte Alarm schlugen wegen »Anzeichen von Instabilität« wurde Manning in die Forward Operating Base (FOB) Hammer 35 Kilometer östlich von Bagdad versetzt. Die Kampfhandlungen um die FOB Hammer nahmen zu. Explosionen waren an der Tagesordnung. Die allgemeine Moral auf dem vorgeschobenen Posten mitten in der Wüste war schlecht, Mannings sank in den Keller. Trotzdem arbeitete er in einem geheimdienstlichen Sicherheitsbereich, in dem die »Sicherheit« allerdings locker gehandhabt wurde, wie Zeugen in der Anhörung aussagten.

Was dann passierte, ist Gegenstand vieler Erörterungen, die nur Manning selbst beantworten kann. Aber er schweigt aus gutem Grund, weil er weiß, daß man nur darauf wartet, ihn über eine Aussage zum Kronzeugen gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange zu pressen. Den würden Pentagon und US-Regierung zu gern ausgeliefert bekommen, um ihn für immer in einem Bundesgefängnis verschwinden zu lassen.

Geht man aber davon aus, daß Bradley Manning in der US-Armee zu der Einsicht kam, daß er als hochintelligenter IT-Spezialist und sozial empathischer Mensch völlig fehl am Platze war. Geht man weiter davon aus, daß er zudem noch Zugang zu brisanten Fakten und Materialien fand, die ihm deutlich machten, daß er zu einem kleinen Rad im großen Getriebe einer verbrecherischen Kriegsmaschinerie geworden war, dann träfe zu, was Verteidiger Coombs im Dezember 2011 in seinem Plädoyer sagte: Daß die Armeeführung ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist, indem sie diesen jungen Soldaten trotz vorhandener Warnzeichen in den aktiven Kriegseinsatz schickte. Sie hat ihn nach Bagdad geschickt, weil sie die Reihen ihrer Einsatzkräfte um jeden Preis auffüllen mußte. Und sie hat ihn an einen Standort versetzt, in dem es keine wirklichen Sicherheitsstandards gab.

Solidaritätsbewegung

Thematisiert werden muß nach Ansicht kritischer Juristen und Sprecher der US-Friedensbewegung der Militärapparat, der einer jungen Generation auf der Suche nach Lebenssinn und Berufsausbildung keinen anderen Weg bietet als den in den lebensgefährlichen und perspektivlosen Militärdienst in einem besetzten Land. Wenn ein solcher junger Soldat dann in Widerspruch gerate zu einer lebensfeindlichen Militärmaschine und zudem bei seiner Arbeit auch noch an Informationen über verlogene diplomatische Schachzüge, Lügenpolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung und außerdem handfeste Beweise für Kriegsverbrechen käme, sei es nur zu verständlich, wenn er sich auflehnt und Informationen an die Öffentlichkeit bringt, die die Regierung der Bevölkerung vorenthält, um weiter Krieg führen zu können.

In ihren Diskussionen gehen die Solidaritätsbewegung und die kritische Öffentlichkeit nun davon aus, daß die gut geschmierte Maschinerie eines Kriegsgerichtsverfahrens ins Rollen kommt. Durch eine entsprechende Mobilisierung und Öffentlichkeitsarbeit muß deshalb verhindert werden, daß an Bradley Manning ein Exempel statuiert und er bis an sein Lebensende eingesperrt wird. Politisch gesehen war Bradley Mannings Handeln – wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft auch nur in Ansätzen zutreffen – allemal durch das im Völkerrecht verankerte Widerstandsrecht gegen Kriegsverbrechen gedeckt.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2012


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