Blick nach vorn
US-Gewerkschaftsorganisationen kämpfen gegen Zersplitterung und Machtlosigkeit. Hafenarbeiter weiter für kritische Unterstützung Obamas
Von Kurt Stand *
Die Delegierten des diesjährigen Kongresses der US-Gewerkschaft der Hafen- und Lagerhausarbeiter (International Longshore and Warehouse Workers Union; ILWU) wollen Barack Obama unterstützen. Bei ihrem Treffen im Juni kritisierten sie zwar dessen mangelnde Erfolge, besonders bei der Gesundheitspolitik, und forderten eine echte staatliche Krankenversicherung. Dennoch wurden in der Debatte über eine Resolution zur Unterstützung des amtierenden US-Präsidenten für eine zweite Wahlperiode deutlich, daß die Delegierten keine vernünftige Alternative sehen. Obama wurde kritisiert, weil er den Hilfen für Banken höhere Priorität einräumte als der für Familien, denen der Verlust ihrer Wohnung durch Zwangsvollstreckung seitens derselben Banken drohe. Angeprangert wurden die Kürzungen der Sozialausgaben, die Ausweitung des rechtswidrigen Krieges in Afghanistan und das Scheitern im Kampf um die Reform eines neuen Arbeitsrechts. Doch die Gefahren einer gewerkschaftsfeindlichen Romney-Administration schienen den Delegierten zu groß, als daß sie übersehen werden könnten – und verabschiedeten eine Resolution für die Wiederwahl Obamas ohne falsches Lob für die Bilanz seiner Administration.
Gewerkschaftseinheit
Eine komplizierte Debatte lieferten sich die Delegierten im kalifornischen Coronado darüber, ob man sich von der Gewerkschaftsdachorganisation AFL-CIO trennen solle. Dabei war die Gewerkschaftseinheit Thema des gesamten Kongresses. Die ¬ILWU, die sich vor allem auf die Hafenarbeiter der Westküste stützt, erneuerte ihre Unterstützung für ihre Mitglieder, die für den Erhalt von Arbeitsplätzen auf Plantagen in Hawaii kämpfen, für jene, deren Rechte und Existenz durch die Regimes in Kaufhäusern, Hotels, im Tourismus und der Gesundheitsindustrie bedroht sind. Der Kongreß dankte den Gewerkschaftern aus den USA, Kanada und Übersee, die sich solidarisch mit ¬ILWU-Mitgliedern gezeigt hatten, beispielsweise jenen, die durch den britisch-australischen Bergwerksmulti Rio Tinto ausgesperrt worden waren. Erwähnt wurde auch die Solidarität der ¬ILWU mit Mitgliedern anderer Gewerkschaften – alles im Gegensatz zu den kritisierten Fehlern in der Arbeit der AFL-CIO.
ILWU-Präsident Bob McEllrath warf der Dachorganisation vor, zu wenig Druck zu mobilisieren, damit die Obama-Administration gegenüber gewerkschaftlichen Forderungen aufmerksamer reagiere. Ein Anzeichen, daß diese Kontroverse tiefer liegt, ist die Weigerung der AFL-CIO, die -ILWU bei der Verhinderung eines Vertrages zwischen der Leitung des Getreideexportterminals und einer anderen Gewerkschaft zu unterstützen. »Raiding« – hier die Abwerbung von Mitgliedern auf Kosten anderer Gewerkschaften – ist ein ernstes Problem. Daraus ziehen fast immer nur die Unternehmen Nutzen. Die AFL-CIO wurde ernstlich geschwächt, weil mehrere große Gewerkschaften abtrünnig wurden, um ihrerseits die »Change-to-win«-Gewerkschaftsorganisation zu gründen. Dadurch ist sie noch weniger imstande, in den eigenen Reihen Einheitlichkeit durchzusetzen.
Viele Delegierte wiesen allerdings auf die Gefahr der Isolation hin, wenn sie gänzlich aus der AFL-CIO ausscherten. Als Kompromiß wurde McEllrath bevollmächtigt, den Rückzug aus der Föderation einzuleiten, wenn dies im besten Interessen der Mitglieder sei. Weiterhin will die ¬ILWU engere Verbindungen zur ILA, der Gewerkschaft der Hafen- und Lagerhausarbeiter der Ostküste herstellen und die Tradition globaler Gewerkschaftssolidarität durch die Mitgliedschaft in der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft fortsetzen.
Gegen die Angst
Alle Gewerkschaften, was auch immer ihre innere Struktur und die Position ihrer Führung sei, sehen sich mit der Frage konfrontiert, wie eine unabhängige Gewerkschaftspolitik zu verfolgen sei, ohne rechten Kräften Spielraum zu gewähren, und wie Gewerkschaftseinheit zu schaffen ist in einer Zeit, in der der Trend zur Aufsplitterung zu gehen scheint. Einer der Gründe, warum die ¬ILWU als kämpferische, demokratische Gewerkschaft fortbesteht, ist, daß sie nie die Schulung ihrer Mitglieder abgeschafft hat. McEllraths Rede auf dem Kongreß machte das deutlich. Er erklärte die Ursachen, wenn schwere wirtschaftliche Perioden die Arbeiter verängstigen und viele von ihnen dazu bringen, sich beispielsweise der extrem arbeiterfeindlichen Tea-Party-Bewegung zuzuwenden. Er stellte zudem fest, wie sehr die Enttäuschung über Obama klarmachen muß, daß die Gewerkschaften sich nicht auf das Weiße Haus verlassen dürfen, wenn es um Arbeiterinteressen geht. »Vergeßt es niemals: Vereint stehen wir, geteilt fallen wir. Ungerechtigkeit gegen einen ist Ungerechtigkeit gegen alle«, so der ILWU-Präsident kämpferisch.
[Übersetzt von Hans Kaiser]
* Der jW-Autor Kurt Stand ist US-Gewerkschafter und Journalist, der eine langjährige Haftstrafe in einem US-Bundesgefängnis verbüßen mußte. In einen Nachsatz zum obigen Beitrag nannte er die jungen Welt eine »Stimme antikapitalistischer Politik, die sich einreiht in die Kämpfe der Gegenwart. In den vergangenen elf Jahren genoß ich das Privileg, für jW schreiben zu dürfen. An der Schwelle meiner Entlassung aus dem Gefängnis möchte ich für die erhaltene Solidarität danken.«
Kurt Stand wurde am 30. August 2012 aus dem Bundesgefängnis in Petersburg in ein »halfway house« in Washington D.C. zur Vorbereitung seiner Entlassung auf Bewährung zum Ende des Jahres verlegt.
Aus: junge Welt, Dienstag, 4. September 2012
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