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Infarkt. Patient Amerika

Obama und die "Pax Americana"

Von Reiner Oschmann *

Auch unter Barack Obama geben die USA vielfach noch den großen Zampano, etwa in Irak und in Afghanistan, eigentlich aber gehören sie auf die Intensivstation. Sie brauchen Schonung und einen Neuanfang. Der Präsident hat nicht nur begriffen, sondern verinnerlicht, was George W. Bush nie wahrhaben wollte. Seine Rede zur Gesundheitsreform vor wenigen Tagen im Rosengarten des Weißen Hauses war kein business as usual; sie trug Anzeichen von Verzweiflung. Aus Sorge des neuen Mannes im Weißen Haus, dass die Stimmung kippen und sich gegen ihn richten kann. Mehr noch, weil er nüchtern genug ist zu erfassen, dass das Umkrempeln der US-amerikanischen Gesundheitsordnung zwar dringend und ein Minenfeld, jedoch ein Kinderspiel gemessen an dem ist, was die Weltmacht insgesamt drückt.

Die USA, die den 40. Jahrestag der ersten Mondlandung wie eine Erinnerung an bessere Zeiten begingen und beinahe ängstlich diskutieren, ob und welcher aufbauende Honig aus diesem Jubiläum zu ziehen ist, sind auf vielen inneren wie äußeren Gebieten ein Risikopatient erster Ordnung, ein Infarktkandidat erster Klasse.

Die Finanzkrise ist keineswegs auf dem Weg der Besserung, auch wenn es die Profite für einige der größten Banken sind. Dass sie bereits wieder in der Gewinnzone segeln, ist vielmehr Omen, dass das Schlimmste für Land und Leute noch bevorsteht. Amerika ist weithin marode, abschnittsweise pleite: wirtschaftlich und infrastrukturell, bildungs- und gesundheitspolitisch, kulturell und geistig. Die Möglichkeit einer »Pax Americana« (amerikanischer Friede), die manche nach dem Abdanken des Realsozialismus mangels harter Wirtschafts- und mehr noch demokratischer Anziehungskraft heraufziehen sahen und die diese Option US-amerikanischer Vorherrschaft je nach Weltsicht befürchteten oder erhofften – diese Drohung/Segnung hat sich erledigt.

Amerika weist viele Krankheitszeichen der Überdehnung und Selbstüberhebung auf, die seinerzeit den Niedergang Roms oder des britischen Weltreichs (»Pax Britannica«) begleiteten. Die USA werden weithin zwar weiter als erste Geige wahrgenommen, tatsächlich ähneln sie in manchen Punkten Kaiser Nero, der die Laute schlägt, während Rom in Flammen steht. Das lässt sich eindringlich in Amerikas Gesundheitswesen besichtigen. In seiner Anstrengung, dort eine ganze Armee von Skalpellen anzusetzen, ist Obama zu bewundern, nicht zu beneiden.

Ohne hier die Nachrichten der letzten Tage zu wiederholen, ist festzuhalten: Die USA leisten sich das teuerste Gesundheitssystem der Welt – und eines der schlechtesten, sieht man von jenen Bürgern ab, für die sich die Frage nach dem Preis nie oder nur selten stellt. Die Preisfrage aber ist die Gretchenfrage im US-amerikanischen Gesundheitsdienst, und zwar vor allem für die 47 Millionen Menschen, die heute ganz ohne Krankenversicherung sind und eine Chance auf ärztliche Behandlung überhaupt erst dann haben, wenn Matthäi am Letzten ist: Erst wenn sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses kommen, dürfen sie auch nach US-Recht nicht abgewiesen werden.

Dass selbst das im Einzelfall inzwischen Theorie bleiben kann und nicht notwendig jene Hilfe bedeutet, die eigentlich viel früher einsetzen müsste, belegen Beispiele, die wie aus dem Reich der Fantasie anmuten, obwohl sie nur der Wirklichkeit entstammen. Wie der Fall jener versicherungslosen Patientin, die im Warteraum einer Notaufnahme saß, Hilfe nah wähnte und nach 24 Stunden (!) Wartezeit im Wartezimmer starb. Unbehandelt. Oder der Fall jener Frau, den Dr. Art Kellermann von der Emory School of Medicine in Atlanta (Georgia) berichtete: Sie war in kritischem Zustand in den Emergency Room seiner Praxis eingeliefert worden, nachdem ein Blutgefäß im Hirn geplatzt war. Dr. Kellermann erklärte später, die Frau sei ohne Krankenversicherung gewesen und habe sich dafür entschieden, ihr Geld lieber für Lebensmittel für ihre Kinder statt für Rezepte zur Blutdruckregulierung auszugeben. In der Rettungsstelle erhielt sie beste Behandlung mit modernster Geräten. Doch jede Hilfe kam zu spät.

Wirtschaftsprofessor Joseph Doyle vom Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) hat Krankenprotokolle von Leuten im Bundesstaat Wisconsin studiert, die nach – wie es hieß – »schweren Verkehrsunfällen keine andere Möglichkeit hatten, als sich in ein Krankenhaus zu begeben«. Doyle schätzte, dass diejenigen ohne Krankenversicherung »20 Prozent weniger medizinische Fürsorge erhielten und eine Todesrate von 37 Prozent über denen mit einer Versicherung aufwiesen«.

Es ist Präsident Obama selbst, der mit Erlebnissen aus seiner eigenen Familie deutlich machte, dass auch Menschen, die eine Krankenversicherung besitzen, zunehmend verunsichert sind. Er sprach von seiner (weißen) Mutter, die 1995 an Eierstockkrebs starb. In den letzten Wochen ihres Lebens habe sie »zu viel Zeit mit der Angst zugebracht, ob ihre Krankenversicherung auch wirklich ihre Rechnungen für Medikamente und ärztliche Behandlung trägt«. Dies sei eine Erfahrung, so der Präsident, die seine Mutter mit Millionen anderer Amerikaner teilt.

Und eine Sorge, lässt sich nahtlos anfügen, die immer mehr Menschen auch auf unserer Seite des Teiches haben. Denn zwar werden heute in den USA in der Gesundheitsdebatte mehr als je zuvor die Behandlungs- und Kostenvorteile nationaler Gesundheitssysteme in europäischen Ländern als Vergleich herangezogen, doch in welchem Maße inzwischen die europäischen Gesundheitsordnungen Angst und Schrecken vor US-amerikanischen Zuständen verbreiten, davon können auch deutsche Kassenpatienten erzählen, die etwa den Gang zum Arzt ins nächste Quartal verschieben – um die Praxisgebühr fürs jetzige zu sparen.

Solche Beispiele erinnern daran, wie sehr das Gesundheitssystem in Deutschland, aber noch mehr in den USA zum Rationierungssystem wurde. Davon will zwar, auch im Fall Obama, keiner reden, und wenn es in Amerika nur deshalb wäre, weil die Republikaner die Reformvorhaben von Obamas Demokraten schon jetzt benutzen, um die Angstkarte Sozialismus zu spielen.

Doch Tatsache ist, dass das US-Gesundheitswesen mehr als jedes andere Rationierung gesundheitlicher Hilfe in Abhängigkeit vom Portemonnaie ausübt. In großen Beiträgen und Studien wird gegenwärtig offen darüber diskutiert, »dass der Tod eines Jugendlichen eine größere Tragödie darstellt als der Tod eines 85-Jährigen, und dass sich das in unseren Gesundheitsprioritäten widerspiegeln sollte«, wie es in einem aufsehenerregenden Essay des Bioethikprofessors Peter Singer heißt.

Diese Euthanasiediskussion, von der man lange gedacht hatte, sie könne nie wieder eine Rolle spielen dürfen, läuft. Sie beantwortet die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens mit dem Preis und trägt auch so mit dazu bei, die Frage nach einer »Pax Americana« zu erledigen. Das US-amerikanische Gesundheitswesen, dessen Kosten für den Einzelnen laut einer Studie von 2007 »zu 60 Prozent an den Privatinsolvenzen in den USA Schuld waren«, ist krank, der Führungsanspruch Amerikas in der Welt ein Fall für den Doktor.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juli 2009


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