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"Weicht nicht zurück!"

Der Prozeß wegen der Tötung Trayvon Martins in Florida endete mit einem Freispruch. Der Protest in den USA gegen Rassismus und Waffengesetze hält an

Von Jürgen Heiser *

Die Proteste und Diskussionen in den USA nach dem Freispruch George Zimmermans vom Delikt des schweren Totschlags an dem 17jährigen Trayvon Martin am vergangenen Samstagabend (Ortszeit) in Sandford, Florida, halten an. Der parteiliche Urteilsspruch hat der Kampfbereitschaft gegen Rassismus und Unrecht unter den Schwarzen, Latinos und Weißen, von denen die landesweiten Aktionen gemeinsam getragen werden, eine Richtung gegeben. Von Dienstag auf Mittwoch besetzten entschlossene »Dream Defenders« (Traum-Verteidigers) in Floridas Hauptstadt Tallahassee den Amtssitz des Gouverneurs (siehe Interview). Bereits am Sonntag hatte eine afroamerikanische Rednerin auf dem New Yorker Union Square wiedergegeben, was viele über die Widersprüche der US-Gesellschaft denken. »In Afghanistan und Irak werden junge Männer von 18, 19 Jahren getötet«, wenn sie jedoch lebend aus dem Krieg heimkehrten, »nachdem sie in fremden Ländern den US-Interessen gedient haben, greifen alte rassistische Muster. Dann sind sie plötzlich wieder nur noch Schwarze, und die Polizei fällt über sie her!«.

Waffengesetz

Für die Workers World Party erklärte Sprecherin Teresa Gutierrez dort unter dem Beifall der Versammelten: »Das System mag Zimmerman freigelassen haben, aber wir werden dieses System nicht davonkommen lassen!« Mehrere Redner sahen in der Ermordung Trayvon Martins keinen Einzelfall, vielmehr werde es den Tätern leicht gemacht, schwarze Jugendliche zu mißhandeln oder zu töten. Das liberale Waffengesetz gebe ihnen bis hin zu Kriegswaffen alles an die Hand, um Unheil anzurichten, am Ende blieben sie straflos.

Florida steht besonders in der Kritik, weil das dort 2005 verabschiedete Pilotgesetz »Stand Your Ground« (»Weichen Sie nicht zurück«) eine sehr weitgehende Auslegung des Begriffs der »Notwehr« erlaubt, wie der Fall Zimmerman gezeigt hat. Besonders die Waffenlobbyisten der National ­Rifle Association hatten auf das Gesetz gedrungen. Die »Stand Your Ground«-Formel wurde mittlerweile von 29 weiteren US-Bundesstaaten übernommen. Sie ist im Paragraph 3 der »Florida Statutes«, der »Florida Satzung«, festgeschrieben und besagt, daß man nicht, wie nach Bundesgesetz üblich, vor einem Eindringling zunächst zurückweichen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren muß, wenn man sich bedroht fühlt. Im Gegenteil gibt einem »Stand Your Ground« den Freibrief, daß man »nicht die Pflicht (hat), zurückzuweichen«, sondern »das Recht, nicht von der Stelle zu weichen und Gewalt mit Gewalt zu begegnen, einschließlich tödlicher Gewalt«.

Rassistische Motive

Zimmerman, der durch Polizeikurse für Hilfssheriffs gegangen war, wurde nicht wegen Mordes angeklagt. Ursache dafür war vor allem die von rassistischen Mustern geleitete äußerst schlampige Ermittlungsarbeit der Polizei. Im Prozeß sagte Zimmerman aus, er sei immer schon »leidenschaftlich für Recht und Ordnung« eingetreten. Für die Ermittler war schon in der Tatnacht das (unbewaffnete) schwarze Opfer der Täter. Folglich konnte der (bewaffnete) Täter, Sohn eines weißen Richters und einer Peruanerin, nur in Notwehr gehandelt haben. Deshalb wurde er nach kurzer Befragung durch die Polizei nach Hause geschickt. Forensische Beweise des Tathergangs wurden nicht gesichert. Dazu hätte es einer unvoreingenommenen Ermittlungsarbeit bedurft, die in solchen nach Hautfarbe und Herkunft beurteiltenTäter-Opfer-Konstellationen jedoch in den USA eher die Ausnahme ist. Für die Polizei war der Fall klar, auch ohne Richter und Geschworene.

Der Polizeiauffassung schloß sich am Ende die nach langem Hin und Her aufgestellte Jury aus fünf weißen Frauen und einer Latina an, obwohl zumindest drei der Frauen anfangs Zweifel an der Schuldlosigkeit Zimmermans hatten. Aber der Einfluß der Belehrungen durch die weiße Richterin und die von der Verteidigung gekonnt ausgespielte »Notwehr«-Karte führten schließlich zum Erfolg. Nicht für die Gerechtigkeit, sondern für die Wahrung der ehernen Eigentumsverhältnisse, die es bewaffnet zu verteidigen gilt.

Die Protestbewegung hat mit ihrer für Basisbewegungen typischen Gewitztheit den Spieß umgedreht. Das versinnbildlichte das Plakat einer Demonstrantin vor dem Gericht in Sandford. »Stand Your Ground Against Racist Cops and Vigilantes« – »Weicht nicht zurück vor rassistischen Bullen und Bürgerwehren«. Über der Schrift prangt das Foto der beiden Gründer der »Black Panther Party for Self-Defense«, Bobby Seale und Huey Newton. Die 1966 gegründete Partei trug anfangs noch den Zusatz »für Selbstverteidigung«, weil es auch damals vordringlich darum ging, die schwarzen Gemeinden gegen brutale Übergriffe und Todesschüsse der Polizei zu schützen. Dazu patrouillierten Black Panthers in ihren Stadtteilen und beschatteten argwöhnisch die Polizeistreifen. So ging wenigstens für die Zeit, bis die Black Panther Party zerschlagen wurde, die Rate der Opfer von Polizeigewalt zurück.

* Aus: junge Welt, Samstag, 20. Juli 2013

Extralegale Tötungen 2012

Im April 2013 erschien ein von der afroamerikanischen Basisorganisation Malcolm X Grassroots Movement (MXGM) veröffentlichter Bericht, der die »außergesetzlichen Tötungen des Jahres 2012 von 313 Schwarzen durch Polizei, Sicherheitsdienste und Bürgerwehren« analysiert.

»Außergesetzliche Tötungen« werden als Handlungen von Polizeibeamten, aber auch von Sicherheitsdiensten und Bürgerwehren definiert, »die ohne Prozeß und faires Verfahren stattfinden«. Entscheidend sei dabei, daß eine schwarze Person getötet werde, weil der Täter »entschieden hat, daß sie kein menschliches Wesen ist, sondern ein Verbrecher, den man ruhig exekutieren kann und dabei keine Strafverfolgung zu befürchten hat«. Die Definition legt nahe: Die Todesschützen im US-Alltag können sich auf ein Vorbild im höchsten Staatsamt berufen. US-Präsident Barack Obama entscheidet an seinem Schreibtisch im Weißen Haus, welche Menschen in Pakistan oder Somalia von einem anonymen Computergefechtsstand in den USA aus per Knopfdruck mit unbemannten Drohnen getötet werden sollen. Diesen extralegalen Hinrichtungen sind mindestens 3300 Menschen als angebliche »Terroristen«, zum Opfer gefallen. So können George Zimmerman und Co stets hoffen, daß sie genauso straflos davonkommen wie ihr Präsident.

Der Bericht mit der akribischen Analyse der 313 tödlichen Fälle rassistischer Gewalt in den USA zeigt, daß hinter dem Freispruch Zimmermans ein System steht, das auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen ist. Was aber auch bedeutet, daß sich etwas ändern kann, wenn die aufgebrochen wird. Deshalb will der Bericht gerade jene Altersgruppe unter Schwarzen und Latinos aufklären, die zu den Hauptbetroffenen gehört.

Zur Fortführung der Trayvon-Martin-Kampagne ruft das MXGM aktuell zu einer Massenmobilisierung auf, »um Tallahassee oder Sanford im August oder September dichtzumachen«. Zu den zentralen Forderungen, die aus diesem Anlaß erhoben werden sollen, gehören die Aufhebung des »Stand Your Ground«-Gesetzes, die Entmilitarisierung der Polizei und die sofortige Freilassung von Marissa Alexander (zu ihrem Fall siehe das Interview auf dieser Seite). (jh)

www.operationghettostorm.org



"Die Knäste quellen über"

Der US-Bundesstaat Florida liegt vorn bei der Kriminalisierung junger Leute. Das soll anders werden. Ein Gespräch mit Phillip Agnew **

Phillip Agnew ist Mitglied der Organisation »Dream Defenders« aus Florida/USA.


Sie haben Ihr Jugendbündnis in Tallahassee, Florida, nach dem Tod Trayvon Martins gegründet. Wie war Ihre Reaktion auf den Zimmerman-Freispruch?

Ich saß mit anderen Mitgliedern der »Dream Defenders« zusammen. Es hat mich umgehauen, weil es doch so viele Beweise dafür gab, daß es Mord war, kaltblütiger Mord. Das haben viele im Land so gesehen. Das war unser 9/11. Ein Moment, den man niemals mehr vergißt.

In Tallahassee sind 250 Schüler zum Capitol, dem Regierungssitz des Gouverneurs, marschiert. Auch in Miami, Tampa, Orlando und Gainesville sind Schüler und Jugendliche nach dem Freispruch auf die Straße gegangen. Wer den Medien glaubte, wir würden nach dem Freispruch losziehen und unsere Viertel und Läden demolieren, der wurde eines Besseren belehrt. Junge Leute sind heute klüger, besser organisiert und vorbereitet, als man es uns zutraut. Leider brauchte es dieses Urteil, das zu zeigen.

Wir werden Tallahassee übernehmen. Wir werden unsere Abgeordneten auffordern, sich ihren Verbrechen zu stellen. Auch wenn George Zimmerman für unschuldig befunden wurde, der Staat Florida ist auf jeden Fall schuldig wegen seiner langen Geschichte der Mißachtung junger Leute. Er zieht eine ganze Generation von Bürgern zweiter Klasse heran, Jugendliche, die kriminalisiert werden, keine Zukunft haben, und es sind nicht die Schulen, sondern die Knäste, die von ihnen überquellen.

Staatsanwältin Angela Corey, die Sonderermittlerin im Fall Trayvon Martin, hat Marissa Alexander, eine 31jährige Afroamerikanerin, wegen »schwerer Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe« angeklagt. Alexander hatte einen Warnschuß auf ihren notorisch gewalttätigen Ehemann abgegeben. Sie wurde schuldig gesprochen und zu einer Mindeststrafe von 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Kennen Sie den Fall?

Ja. Nachdem Corey ihre Hand auf Trayvons Fall hatte, wußten alle, die ihre Geschichte kannten, daß uns etwas blühen würde. Trayvon Martin ist genau der Typ von Leuten, die Angela Corey gern lebenslang in den Knast steckt. Wir sehen, daß dieses System weder für Menschen mit dunkler Hautfarbe noch für Arme oder junge Leute gemacht ist. Ich verstehe nicht, warum so viele davor die Augen verschließen. Es geht hier ganz real um Macht.

Florida liegt nur in einer Sache vorn, nämlich der Pipeline von der Schule in den Knast. Unsere Gesellschaft programmiert Leute dazu, Angst vor Jugendlichen mit dunkler Hautfarbe zu haben. »Stand Your Ground« bietet den Vorwand, Jagd auf sie zu machen. Wenn ich mich vor dir fürchte, nur weil du wie die Gangmitglieder aussiehst, die ich aus dem Fernseher kenne, dann kann ich mir eine Waffe schnappen, auf dich losgehen und dir dein Leben nehmen. Das ist der Grund, warum bei uns so viele Jugendliche sterben müssen.

Aber in den USA bricht jetzt eine neue Zeit an. Junge Leute lassen sich das nicht mehr gefallen. Wir von den »Dream Defenders« glauben an Gewaltlosigkeit und Frieden. Es sind viele, die sich an der Bürgerrechtsbewegung ein Beispiel nehmen. Die Geschichte ist unser Kompaß. Und den nutzen wir zur Ausrichtung der Technologie, die uns heute zur Verfügung steht, um ein paar dieser Leute in die Wüste zu schicken. Niemand, kein Politiker sollte sich mehr sicher fühlen, wenn er junge Leute für dumm verkauft. Das läuft so nicht mehr. Sie sind entweder auf unserer Seite – oder sie sind gegen uns.

Interview: Amy Goodman

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

** Aus: junge Welt, Samstag, 20. Juli 2013


Krieg im Gerichtssaal

Der Freispruch des Mörders des Schwarzen Trayvon Martin war vorhersehbar

Von Mumia Abu-Jamal ***


Der Prozeß gegen George Zimmerman hat bei vielen große Erwartungen geweckt, die jedoch am Ende enttäuscht wurden. Zimmermans Freispruch von der Anklage, den 17jährigen Trayvon Martin in Sanford, Florida, ermordet zu haben, wurde am Ende zum Weckruf für eine ganze Jugendgeneration. Überall in den USA hatten junge Leute den Fall zu ihrer Sache gemacht und waren dem jugendlichen Glauben verfallen, ihnen werde schon bald Gerechtigkeit widerfahren. Aber etwas zu glauben oder es zu wissen sind zwei grundverschiedene Dinge. Die Proteste nach Trayvons Ermordung haben den US-Bundesstaat Florida zwar gezwungen, Zimmerman vor Gericht zu stellen, aber es kam dabei nicht das heraus, was sich viele erhofft hatten. Zimmerman, Sohn eines Richters, verteidigt von einem Rechtsanwalt, der mit einer Richterin verheiratet ist, wurde der Prozeß gemacht, aber er lief völlig anders, als sich die Leute das vorstellten. Eine fast nur aus weißen Frauen bestehende Jury sprach Zimmerman schon nach knapp anderthalb Tagen Beratung frei.

Was bedeutet das? Es bedeutet genau das, was einem dazu in den Sinn kommt: Daß das Leben eines Schwarzen keinen Pfifferling wert ist! Daß andererseits das Leben eines Weißen privilegiert und bedeutend und daß die Angst der Weißen die treibende Kraft ist, von der das Geschehen im Gerichtsverfahren bestimmt wird. Denn wenn wir die beiden Grundbestandteile des Konflikts austauschen und davon ausgehen, es wäre Trayvon und nicht Zimmerman gewesen, der die Auseinandersetzung überlebt hätte – wer wollte bezweifeln, daß der Teenager geradewegs im Todestrakt des Staatsgefängnisses von Starke, Florida, gelandet wäre und seine berüchtigte Hinrichtungskammer von innen kennenlernen würde?

Trayvon hätte einen überarbeiteten und nur schlecht bezahlten Pflichtverteidiger bekommen, für den es schon ein Sieg gewesen wäre, im Prozeß für seinen Mandanten »nur« eine lebenslängliche Haftstrafe zu erreichen. Wer wollte bezweifeln, daß ein solcher Ausgang möglich gewesen wäre? Solange das aber die Wahrheit ist und man zu diesem Schluß kommen muß, ist das Gerede von »Gleichheit« genauso fantastisch wie Geschichten vom Weihnachtsmann. Wovon wir dauernd sprechen – Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und faire Prozesse – ist einfach nur Gerede. Erst wenn jemand einen Gerichtssaal betritt, kommen diese Begriffe auf den Prüfstand. Denn hier herrscht Krieg mit juristischen Mitteln.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

*** Diese Kolumne übermittelte Mumia Abu-Jamal wenige Tage nach Beendigung seiner zweiwöchigen Kommunikationssperre am 13. Juli, dem Tag des Freispruchs von George Zimmerman

Aus: junge Welt, Samstag, 20. Juli 2013



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