"Niemand wusste, worum es bei den USA-Wahlen ging"
Der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky über die Außenpolitik Washingtons, die westliche Demokratie und die Macht der Medien
Ein Interview*
Herr Chomsky, Sie sind bekannt
als harscher Kritiker der eigenen
Regierung und wenden sich gegen
deren einseitige und eigenmächtige
Demontage internationaler Regeln.
Sehen Sie in Europa einen
Gegenpol zu den USA?
Wie man Europa beurteilt, hängt
davon ab, ob man in irgendeiner
Form noch Hoffnung hat auf die Demokratie.
Es gibt in den USA einige
renommierte Intellektuelle, die
glauben, dass die aggressive und
militaristische Haltung, die die USA
derzeit an den Tag legen, letztendlich
in den endgültigen Untergang
führt. Sie fragen sich: Woher könnte
eine Gegenbewegung kommen? Dabei
vertrauen sie weder auf die USA
noch auf Europa und hoffen, sie
könnte aus China kommen.
Was meinen Sie dazu, Herr Chomsky?
Wenn die westliche Demokratie
so schwach, primitiv und reaktionär
auftritt, dass man alle Hoffnung
in sie verliert, dann müssen wir
vielleicht wirklich auf eine Demokratisierungsbewegung
aus China hoffen. Ich bin da nicht ganz so pessimistisch
wie meine Kollegen, was
den Zustand der westlichen Demokratie
angeht. Betrachtet man zum
Beispiel die USA, dann zeigt sich ein
enormer Unterschied zwischen der
öffentlichen Meinung und der Politik,
die gemacht wird. Und das betrifft
fast jedes Politikfeld, sehr
deutlich wird das zum Beispiel im
Hinblick auf den Einsatz der USA-Truppen
in Irak.
Aber überall in der Öffentlichkeit
sind die Buttons und Aufkleber zu
sehen: Support our troops! (Unterstützt
unsere Truppen)
"Support our troops" hat gar
nichts zu bedeuten. Auch Leute, die
absolut gegen den Angriff auf Irak
waren und sind, tragen diese Buttons.
Das eine hat mit dem anderen
nichts zu tun. Ich sage das vor einem
empirischen Hintergrund: Nirgendwo
ist die öffentliche Meinung
so gut erforscht wie in den Vereinigten
Staaten. Teilweise zwar nur,
weil die Privatwirtschaft wissen
will, was die Leute so glauben, aber
immerhin.
Liefert die Meinungsforschung das, was die Kunden bezahlen,
oder produziert sie tatsächlich authentische
Einsichten?
Eine Menge ernsthaft forschender
Institutionen liefert wertvolle
Informationen, die auch übereinstimmen.
Sie sprechen eine deutliche
Sprache, zum Beispiel zum
Thema Bushs Wiederwahl: Er erzielte
31 Prozent der Stimmen der
Wahlberechtigten, Kerry 29 Prozent.
Ein minimaler Unterschied im
Wahlverhalten hätte Kerry ins Weiße
Haus gebracht. Diese Wahlergebnisse
sagen uns aber so gut wie
nichts über die Meinungen im Land,
denn niemand wusste, worum es
eigentlich bei den Wahlen ging.
Wie meinen Sie das?
Etwa zehn Prozent der Wähler
trafen ihre Wahlentscheidung
kandidatenunabhängig – orientiert
an den Programmen, die sie hinter
den Kandidaten vermuteten. Dabei
wurden sie weitgehend in die Irre
geführt. So ging die Mehrzahl der
Bush-Wähler davon aus, dass Bush
das Kyoto-Abkommen unterschreiben
würde, denn es scheint so
selbstverständlich, diese Sache zu
unterstützen, und eine überwältigende
Mehrheit der Bevölkerung ist
dafür. Und vergleichbar sieht es
aus, wenn wir uns die unterschiedlichsten
Themenfelder anschauen.
So verkündet die Propaganda der
Massenmedien, die Bush-Wähler
hätten so genannte Moral-Themen
gewählt.
Was sind denn Moral-Themen?
Das ist es ja gerade: Das wird offen
gelassen. Fragt man nach, dann
kommt heraus: Eine sehr große
Mehrheit ist dafür, dass die Regierung
endlich eine staatliche Gesundheitsversorgung
auf die Beine stellt, die auch diejenigen absichert,
die ansonsten unversichert sind.
Sie betrachtet das Thema nationale
Gesundheitsversorgung als ein moralisches
Thema. Oder Materialismus,
der materialistische Lebensstil,
der alles beherrscht und mehrheitlich
für schlecht gehalten wird,
ist ein weiteres solches Moral-Thema.
Wenn Reporter also über Moral-
Themen sprechen, ohne zu sagen,
was sie damit meinen, beginnt
die Lüge. Die Frage ist doch: Um
welche Moral-Themen geht es? Sobald
man sich auf diese Frage einlässt,
bekommt man in den USA ein
ziemlich anderes Bild von der öffentlichen,
nicht von der veröffentlichten
Meinung.
Da erinnere ich mich unweigerlich an die so genannten technischen Pannen bei den letzten USA-Wahlen. Wenn die veröffentlichte
Meinung so gut kontrolliert ist,
warum dann noch Manipulation
an den Urnen?
Das ist eine bedeutungslose Show
– ein weiterer Grund, warum viele
Leute die Wahlen auch gar nicht
erst ernst nehmen – mit Ausnahme
der gut ausgebildeten Teile. Dementsprechend
bezeichnend ist, wie
zum Beispiel der Wahlbetrug von
2000 diskutiert wurde. Das gab einen
riesen Aufruhr – unter den
hoch qualifizierten Wählerschichten.
Ansonsten hat sich da keiner
drum gekümmert: Wahlbetrug? Na
und?
Woher kommt dieses hohe Maß
an Wahlverdrossenheit?
Unmittelbar vor den Wahlen hielten
drei Viertel der Bevölkerung die
Wahlen für eine Farce. Die Wahlen
sind ein Spiel reicher Spender und
Partei-Bosse, die Werbeindustrie
trainiert die Kandidaten. Die meisten
Wählerinnen und Wähler sehen
das sehr wohl und geben eben als
mehr oder weniger Unbeteiligte
ihre Stimme ab. Anders bei den gut
ausgebildeten, indoktrinierten
Schichten: Die sind ernst zu nehmen.
Deshalb gab es nach dem
Wahlbetrug Bücher und Artikel
über den Untergang der Republik
und so weiter. Aber die breite öffentliche
Meinung blieb davon völlig
unberührt. Genauso funktionierte
es auch wieder bei den Wahlen
2004: Wieder gab es Betrügereien,
in Ohio wurde nicht ordentlich gezählt,
die Wahlmaschinen usw. Der
breiten Bevölkerung ist es einfach
egal. Sie versteht, dass Wahlen etwa
so interessant sind wie eine
Münze zu werfen. Wählen ändert
nichts.
Auch den Irak-Krieg kommentieren Sie anders als die Massenmedien.
Die sagen jetzt: Immerhin
wurde die Diktatur beendet und es
gab dort inzwischen sogar Wahlen.
Bushs Invasion hat ja gar nichts
mit den Demokratisierungen in Irak
und der arabischen Welt zu tun. Die
Anfänge liegen schon Jahre zurück.
Die ersten großen, freien Wahlen in
der Region fanden 1999 in Katar
statt. Der größte Demokratisierungsimpuls
kam von "Al-Dschasira", dem Fernsehsender, den die
USA daher auch unbedingt schließen
wollten. Die USA-Regierung
versuchte vielmehr auf unterschiedliche
Weisen, die Wahlen in Irak zu behindern. Sie änderten die
Verfassung, sie installierten ein Delegiertensystem,
das sie kontrollieren
konnten. Sie taten alles, um
eine wirkliche Demokratisierung
Iraks von innen zu verhindern. Das
war bereits die Funktion der Sanktionen
gegen Irak in den 1990ern.
Welche Wirkung hatte das Embargo
damals?
Es gab Leute aus dem Westen, die
Irak sehr gut kannten: Dennis Halliday
und Hans von Sponeck zum
Beispiel, die Direktoren des Öl-für-
Lebensmittel-Programmes. Sie hatten
viele Spezialisten in Irak im Einsatz.
Beide traten von ihrem Posten
zurück, weil sie die Folgen der
Sanktionen, die von den USA
durchgesetzt wurden, beurteilen
und gleichzeitig nichts dagegen tun
konnten. Beide bezeichneten diese
Folgen als »genozidal«. Sie sagten
klar, wenn die Sanktionen für den
Handel mit Waffen und nicht mit
Nahrungsmitteln gegolten hätten,
dann hätte die irakische Bevölkerung
die Sache mit Saddam Hussein
selbst in die Hand genommen. Das
heißt, sie hätten getan, was die Rumänen,
Indonesier, Filippinos getan
haben, und wären selbstständig
mit ihrem Diktator fertig geworden.
Erst die Sanktionen zwangen die
Menschen endgültig unter die Fittiche
Saddam Husseins, weil es ums
blanke Überleben ging.
Neulich sprach ich mit einem Bekannten aus den USA und erwähnte
Ihren Namen. Er entgegnete als
erstes: "Der mag die USA ja nicht."
Was sagen Sie dazu?
Mit wem haben Sie denn da gesprochen?
Mit einem 65-jährigen Mann aus
Florida, einem ehemaligen Investment-
Banker.
Ja, das ist, was ein Investment-
Banker wohl sagen würde. Ist das
eine Überraschung? Seine Beurteilung
hin oder her: Wenn Sie sich
weit verbreitete Meinungen in den
USA anschauen, dann stimmen die
sehr wohl mit dem überein, was
auch ich vertrete. Eine überragende
Mehrheit der Bevölkerung lehnt
den Einsatz von Waffengewalt in
der internationalen Politik ab, befürwortet
das Kyoto-Protokoll,
meint, der Staat sollte dem internationalen
Strafgerichtshof beitreten,
bevorzugt Sozialausgaben gegenüber
Rüstungsausgaben und so
weiter. Ich bin sicher, wer auch immer
dieser Mensch war, er hat ein
Jahreseinkommen von mehr als
200.000 Dollar. Die große Mehrheit
der Bevölkerung will die Steuersenkungen
der Regierung Bush rückgängig
machen. Will er das auch
mit seinen 200 000 Dollar im Jahr?
Nein, er will diese Steuersenkungen dauerhaft gesichert sehen.
Sehen Sie, damit ist er Teil einer
kleinen Minderheit. Zufälligerweise
ist er Teil der Minderheit, die
nebenher in den Massenmedien
den Ton angibt. Er glaubt vielleicht,
dass das Land tatsächlich so ist, wie
es die Massenmedien immer abbilden.
Aber das ist ja, als ob Sie glauben,
jeder und alles in der Sowjetunion
der 60er Jahre sei genau so
gewesen, wie es die »Prawda« geschrieben
hat.
Was halten Sie überhaupt von
der Frage, ob Sie die USA lieben?
Wenn Sie mit USA die Staatsgewalt
meinen, dann sage ich: Nein.
Nein, ich mag Staatsgewalt auch
nirgendwo sonst. Bei dieser Unterscheidung
pro- oder antiamerikanisch
handelt es sich doch um ein
Konzept aus dem Fundus totalitärer
Herrschaftstechniken. Dissidenten
in der alten Sowjetunion zum Beispiel
wurden als "antisowjetisch"
verdammt. Stellen Sie sich vor: Jemand
in Italien kritisiert Berlusconi.
Bezeichnet ihn dann irgendwer
als "antiitalienisch"? Das würde allenfalls
als Witz verstanden. Die
Antwort auf die Frage "pro- oder
antiamerikanisch?" muss die Dekonstruktion
der Frage selbst sein.
Noam Chomsky, 1928 geboren, ist einer der renommiertesten Linguisten der Gegenwart, wurde weltweit bekannt durch seine radikale
und faktenreiche Kritik der USA-Außenpolitik und der Massenmedien.
Ende März war Chomsky in Berlin, eigentlich zu einem Linguistik-
Kongress. Doch das John-F.-Kennedy-Institut nutzte die Gelegenheit
und lud Chomsky ins vollbesetzte Audimax der FU Berlin ein. Dort
kritisierte er erneut die Präventivkriegspraxis in der internationalen
Politik. Markus Euskirchen sprach mit ihm für ND.
* Aus: Neues Deutschland, 14. April 2005
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