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Von der Patzigkeit des widerwilligen Imperialisten und einem Schuss Naivität

Pressestimmen zur Fernsehansprache des US-Präsidenten Bush am 7. September 2003 (Ortszeit)

Die Rede des US-Präsidenten Bush am 7. September 2003, die von allen großen Fernsehstationen landesweit übertragen wurde, fand vor allem deshalb große internationale Beachtung, weil sich in ihr zum ersten Mal das Eingeständnis befand, dass die USA allein nicht in der Lage sind, die Konflikt- und Kriegsherde Irak und Afghanistan zu befrieden. Wir haben eine Reihe von Leitartikeln und Kommentare aus deutschen und ausländischen Zeitungen herausgesucht, aus denen wir im Folgenden interessante Passagen zitieren.

Wir beginnen mit der Süddeutschen Zeitung, deren Kommentator Wolfgang Koydl die Bredouille, in der Bush steckt, ziemlich genau beschreibt, der dessen Strategie aber letztlich für alternativlos hält ("Es führt kein Weg zurück"):

"George Bush hat schon viele Reden gehalten, aber keine dürfte ihm so schwer gefallen sein wie seine jüngste Ansprache an die Nation. Ausgerechnet er, der im unerschütterlichen Vertrauen in seine und Amerikas Stärke den Irak und den Nahen Osten neu ordnen wollte, musste zu Kreuze kriechen und seine politischen Gegner und Kritiker daheim in Washington und draußen in der Welt um Hilfe bitten.
(...) "Optimismus mit einem Schuss Naivität"
Nein, leicht kann es Bush nicht gefallen sein, aber immerhin mag ihm die Überlegung geholfen haben, dass er keine andere Wahl mehr hat, als sich nach Beistand umzusehen. Von Gaza über Bagdad bis nach Afghanistan versinken seine hochfliegenden Pläne von einem sicheren und demokratischen Nahen und Mittleren Osten in den Rauchwolken von Autobomben und Minendetonationen.
Egal ob es – wie die New York Times schrieb – „Optimismus mit einem Schuss Naivität“ war, der Bush trieb, ob Hochmut, Überzeugung oder eine Verkettung widriger Umstände, sicher ist eines: Zähneknirschend müssen sich die Neo-Radikalen in Washington eingestehen, dass auch der Weltmacht USA Grenzen gesetzt sind, und dass diese enger sind, als sie gemeinhin vermutet hätten.
(...) Es gibt keine Alternative dazu, die Ideologie des Terrors an ihren Brutstätten zu bekämpfen. Die größte Bedrohung der freien Welt geht heute vom Todeskult islamistischer Terrorsekten aus, und es ist kein Zufall, dass Bush davon sprach, diese Gefahr „zurückzurollen“. Rollback statt Eindämmung – das war schon das Rezept Ronald Reagans, das letztlich zum Zusammenbruch des Kommunismus führte. (...)
(SZ vom 9. September 2003)

"Bushs Patzigkeit" ist der Kommentar von Dietmar Ostermann in der Frankfurter Rundschau überschrieben. Darin wird auch auf die Auslassungen in der Bush-Rede hingewiesen.

Was George W. Bush da am Sonntag zur besten Sendezeit im Cabinet Room des Weißen Hauses und vor der an den Bildschirmen versammelten Nation vorgetragen hat, war wohl so etwas wie ein Mea Culpa auf texanisch. Die in Irak noch immer nicht aufgetauchten Massenvernichtungswaffen, früher mal der offizielle Kriegsgrund, hat der Präsident mit keinem Wort erwähnt. Warum der vor Monaten als siegreich für beendet erklärte Anti-Proliferations-Feldzug plötzlich als "zentrale Front" im Anti-Terror-Kampf neu auflebt, was da also schief gelaufen ist im Nachkriegsirak, war Bush keine selbstkritische Erklärung wert. Das Hilfsersuchen an die internationale Gemeinschaft fiel eher wie eine patzige Anweisung aus, ihm gefälligst den Rettungsring zuzuwerfen.
Trotzdem dürfte Bush die widerspenstige Beichte alles andere als leicht gefallen sein. Denn wenn der Präsident die Nation verspätet auf Opfer und Belastungen einstellt, ist das auch das versteckte Eingeständnis, dass er die Schwierigkeiten in Irak grob unterschätzt hat. Das US-Volk erhielt erstmals eine realistische Aufrechnung der Kriegskosten: Rund 80 Milliarden Dollar allein im nächsten Jahr sind kein Pappenstiel. Wo das Geld herkommen soll, steht in den Sternen. (...)
Was nun? Die Frage bleibt auch nach der Bush-Rede unbeantwortet. Äußerungen des Präsidenten und seines Umfelds deuten auf zweierlei. Erstens haben sich die USA von der Vorstellung verabschiedet, in Irak billig davonzukommen. Eine zweistellige Milliardensumme für den zivilen Wiederaufbau in Irak ist mehr, als Afghanistan je von den USA zu sehen bekam. Zweitens stellt sich Washington darauf ein, weiter die Hauptlast in Irak zu tragen. Internationale Hilfe ist erwünscht, aber keine allzu tiefe Verbeugung wert, weil, wie Colin Powell vorrechnet, andere Staaten nur begrenzt zur Entlastung der Supermacht willens oder fähig sind. Nach einem neuen Ansatz, auf den man bei den UN hofft, klingt das ebenso wie der Sieben-Punkte-Plan von Bagdad-Statthalter Paul Bremer nicht.
(FR vom 09.09.2003

Der Feststellung, dass sich Bush zur Zeit in der Defensive befände, folgt im Kommentar des Berliner "Tagesspiegel" ein Plädoyer für "Pragmatismus" auf beiden Seiten des Atlantiks. "clw" kommentiert:

(...) Bush steht unter öffentlichem Druck, die Lasten des Irak-Engagements auf mehr Schultern zu verteilen. Deswegen sein Appell an die Welt, „vergangene Differenzen nicht mit gegenwärtigen Pflichten zu vermengen“. Sein Argument: Europa, Japan und der Nahe Osten werden vom befreiten Irak profitieren, deshalb sollten alle zum Erfolg dort beitragen. Leicht wird man es ihm bei den Verhandlungen um ein erweitertes UN-Mandat nicht machen. Aber es wäre hilfreich, wenn auf beiden Seiten des Atlantik Pragmatismus einkehrte. Die US-Regierung muss ihre UN-Allergie ablegen. Und die Europäer sollten die UN nicht länger wie eine heilige Kuh behandeln und ihre Defizite ignorieren. Den Irak zu befrieden ist tatsächlich im Interesse aller. Deshalb sind pragmatische Lösungen gefragt – keine Ideologien. clw
(Tagesspiegel vom 09.09.2003)

Bush in der Defensive im Tagesspiegel, "Bush im Eck" heißt es im österreichischen "Standard". Christoph Prantner ist davon überzeugt, dass ein "bloßer texanischer Befehlston" nicht ausreichen wird, um im Irak stabile Verhältnisse zu schaffen. Zum Glück für ihn haben andere Mächte auch "geostrategische Interessen":

(...) Für Frieden und stabile Verhältnisse im Irak reicht bloßer texanischer Befehlston nicht aus. Das zeichnet sich seit Monaten ab, Bushs Rede zur Lage im Irak ist nur das jüngste beredte Zeugnis dafür.
In den 18 Minuten seiner Ansprache an die Nation hat Bush es nicht an hochmütigen Tönen mangeln lassen. Die Kluft zwischen Rhetorik und Realität scheint in diesem Fall aber mindestens so weit wie der Weg, den der Präsident noch gehen muss, bis er Partner (nicht nur nicht Willige) findet, die sich im Irak substanziell engagieren wollen. Denn Frankreich, Deutschland oder auch Russland scheinen vorerst nicht bereit zu sein, den Vereinten Nationen im Irak die Rolle eines Feigenblattes zuweisen zu wollen. Eine neue Resolution des Weltsicherheitsrates, sagen Diplomaten, wird es nur geben, wenn sich die USA zu ökonomischer und militärischer Mitsprache für ihre Partner durchringen können.
Andererseits ist das geostrategische Interesse der Umworbenen ihrerseits zu groß, als dass sie sich zu lange bitten lassen würden - und Bush mit seinen außenpolitischen Schwierigkeiten insofern besser bedient als an der politischen Homefront. Die Milliardenforderungen an den Kongress und die explodierenden Budgetdefizite kann er nicht in dem Maß beeinflussen wie prospektive Partner mit ihren kalkulierbaren Interessen im Nahen Osten. Die Wirtschaft, heißt es, sei das Thema, mit dem in den USA Wahlen gewonnen werden. "It's the economy, stupid", das war schon das Credo von Bushs Vorgänger. Der hat seine Wiederwahl erreicht, bei Bush ist das heute zweifelhaft.
(DER STANDARD, 09.09.2003)

Noch deutlicher wird das "Neue Deutschland". Der Bittsteller Bush versucht, dem knauserigen Kongress und den umworbenen UN-Mitgliedern Kröten, "Bush-Kröten" eben zum Schlucken zu geben. Jochen Reinert lässt offen, ob z.B. Berlin die Kröte schlucken wird:

Als Präsident Bush als Ko-Pilot eines Kampfjets auf dem Flugzeugträger »Abraham Lincoln« landete und in der Pose eines römischen Triumphators den Sieg im Irak-Krieg verkündete, ließ er sich gewiss nicht träumen, dass er vier Monate später gleichsam das Scheitern seiner Legionen im Nachkriegsirak einräumen muss. Der Befreiermythos verblasst zusehends. (...)
Nun also trat Bush ohne jegliches martialische Gehabe im schwarzen Anzug vor die Kameras, nicht mehr als Triumphator, sondern eher als Bittsteller. Vom Kongress will er für seine Kriegsmaschine zusätzlich die gewaltige Summe von 87 Milliarden Dollar eintreiben (selbst wenn das Haushaltsdefizit 2004 dann auf über 500 Milliarden Dollar anschwillt), vom Rest der Welt beansprucht er möglichst viele Soldaten, aber auch viele Euro, Yen usw.
Doch nicht als Bitt-, sondern Pflicht-Steller kommt Big-Bush letztlich daher. Kein Wort über die Luftnummer mit den Massenvernichtungswaffen, keins über die vielen anderen Legenden und Pleiten. Markig erklärt er Irak zur Hauptfront des Kampfes gegen den Terrorismus – eines Terrorismus, den der erste Präventivkrieg der jüngeren Geschichte erst geschaffen hat. Was Bush freilich nicht hindert, von der »Verpflichtung« der UNO-Mitglieder zu sprechen, ihm in Irak zur Seite zu springen. Doch dies ausschließlich zu den Konditionen des Aggressors. Wird Berlin entgegen bisheriger Bekundungen am Ende die Bush-Kröte doch schlucken?
(ND vom 09.09.03)

Alan Posener geht in seinem Leitartikel in der "Welt" schonender mit dem US-Präsidenten um. Nur "widerwillig" betätige sich George Bush als "demokratischer Imperialist". Seinen militärischen Erfolgen im Kampf gegen den Terror müssten nur noch politische und ökonomische folgen, dann, so der Tenor des Beitrags, werde schon alles irgendwie gut.

Zwei Stellen in der Rede des US-Präsidenten an die Nation ließen Kenner der neueren Geschichte Amerikas aufhorchen. Einmal sprach George W. Bush davon, die terroristische Bedrohung der Zivilisation werde "zurückgerollt". Das war eine wortwörtliche Erinnerung an die Strategie des "Roll Back" gegenüber dem Kommunismus. Und dann versprach Bush, die USA würden "das Notwendige tun und das Notwendige ausgeben", um den "Sieg gegen den Terror" zu erringen, "die Freiheit zu fördern" und die Nation sicherer zu machen. Das wiederum wirkte wie ein Echo der Inauguraladresse John F. Kennedys, der die Sowjetunion warnte, Amerika würde "jeden Preis bezahlen", um den "Sieg der Freiheit zu sichern". Dass der Republikaner Bush gerade an den aggressiven Antikommunismus des Demokraten Kennedy erinnert, soll natürlich Verwirrung in die Reihen seiner Demokratischen Herausforderer tragen. Doch sollten auch seine Herausforderer in Berlin und Paris die Bedeutung seiner Worte wägen.
(...) Die Republikaner .., von Warren Harding über Dwight D. Eisenhower bis Richard Nixon, waren skeptisch gegenüber großen Entwürfen, weil sie als Konservative skeptisch gegenüber allem Großen waren - Big Business, Big Labor, und vor allem Big Government. Erst die Republikaner Ronald Reagan und George Bush der Ältere einerseits, der Demokrat Bill Clinton anderseits, fielen aus diesen Rollen; und der jüngere George Bush trat sein Amt mit der bekundeten Absicht an, zu den konservativen Wurzeln zurückzukehren.
Die Sprunghaftigkeit und Inkonsequenz seiner Außenpolitik haben nicht zuletzt damit zu tun, dass dieser Mann, der allem Imperialen abhold ist und dem Staat instinktiv misstraut, eine Art demokratisches Imperium schaffen muss. Denn der "Krieg gegen den Terror" ist eben nicht nur militärisch, sondern politisch, polizeilich, diplomatisch, ideologisch und wirtschaftlich zu führen. Sein Kern besteht in der Jahrhundertaufgabe, "den Nahen und Mittleren Osten zu einem Ort des Fortschritts und des Friedens" zu machen, wie es in der Rede des Präsidenten hieß, damit er nicht "ein Exporteur von Gewalt und Terror" bleibt. Militärisch und polizeilich sind in den zwei Jahren, seit dieser Krieg dem unwilligen Imperialisten aufgezwungen wurde, große Erfolge erzielt worden; politisch, diplomatisch und ideologisch sieht die Bilanz schlechter aus; nicht zuletzt, weil weder im Weißen Haus noch etwa im Berliner Kanzleramt ausreichend erkannt wurde, dass ein zum Nation Building verurteiltes Amerika auch zum Multilateralismus verurteilt ist.
Was ein multilateraler, demokratischer Imperialismus erreichen kann, wird in der Doha-Welthandelsrunde sichtbar, wo USA und EU einen gemeinsamen Vorstoß zur Reduzierung ihrer Agrarsubventionen und Zölle unternehmen und gleichzeitig einen Abbau der horrenden Schutzzölle zwischen den armen Nationen fordern: Freihandel zum Nutzen von Millionen Menschen gerade in den ärmeren Regionen der Erde.
(Die Welt, 09.09.2003)

Die konservative "Washington Post" verlangt zwar auch, dass sich andere Mächte, auch die Europäer, stärker im Irak engagieren. Die Hauptlast müssten aber weiter die USA tragen. Vor allem müssen sie die Kontrolle weiter ausüben, denn andere Nationen halten es entweder nicht so sehr mit der Demokratie oder sie bringen nicht genügend Truppen oder Geld auf:

Die USA wollen, dass der Irak zu einem föderalen, friedlichen und demokratischen Staat wird, der die Rechte von Frauen und Minderheiten respektiert. Die Übergabe der Kontrolle an eine internationale Organistation, deren Mitglieder diese Werte zu einem großen Teil nicht hochhalten, würde einen Erfolg (im Irak) nicht gerade wahrscheinlicher machen. Doch die USA sind bei der Besetzung des Iraks noch weit von ihrem Ideal entfernt. In der Nachkriegszeit sind sie auf viele Herausforderungen gestoßen, die die Regierung nicht vorausgesehen hat. Eine Teilung der Autorität (mit den Vereinten Nationen) wird an diesen Herausforderungen nichts ändern. Andere Länder werden nicht genug Truppen stellen oder Geld aufbringen, um Amerikas Lasten zu verringern. Aber sie könnten dabei helfen, dass diese Lasten nicht noch schwerer werden, als sie (Präsident) Bush in der vergangenen Nacht beschrieben hat.
(Washington Post vom 08.09.2003

Die "New York Times" ist von der Rede enttäuscht, da Bush keine wirkliche Kurskorrektur im Irak angekündigt habe.

Washington war dazu gezwungen zuzugeben, dass es den Irak allein nicht sichern kann und dringend mehr Hilfe von den Vereinten Nationen braucht. Noch weigert sich die Regierung, als notwendigen Preis dafür eine breite UN-Autorität für den Wiederaufbau von Iraks Institutionen und seiner Wirtschaft zu akzeptieren. Es scheint ein wenig anmaßend, den Uno-Mitgliedern zu sagen, dass sie eine "Verantwortung" haben, sich mit an den Tisch zu setzen, wenn man bedenkt, dass Bush bei der Invasion ihre Bedenken ignorierte. Die Vereinigten Staaten müssen mit Frankreich, Deutschland und Russland über die Verstärkung der friedenserhaltenden Kräfte und eine größere finanzielle Beteiligung an den enormen Wiederaufbaukosten realistisch verhandeln.
(New York Times vom 08.09.2003)

Ob schließlich die Moskauer Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" Recht behält mit der Prognose, dass auch Deutschland über kurz oder lang Truppen in den Irak schicken wird, muss die Zukunft zeigen.

Zwar lehnt die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger Umfragen zufolge die Entsendung von Soldaten in den Irak ab. Doch der Druck von außen stärkt die Opposition. Der CDU-Außenpolitiker Schäuble findet, dass Deutschland im Falle eines neuen UNO-Mandats schwerlich sagen könne: "Wir wollen nicht in den Irak." Diese Frage beschäftigt auch einige Politiker der Regierungsparteien. Kanzler Schröder wies die Grünen-Vorsitzende Beer zurecht, die einen militärischen Beitrag Deutschlands bei einem entsprechenden UNO-Mandat für möglich erklärt hatte. Doch in der Politik gibt es bekanntlich kein ewig gültiges Nein."
(Nesawissimaja Gaseta vom 09.09.2003)


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