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Juristischer Kuhhandel

Grundsatzentscheidung zu willkürlichen Verhaftungen der Bush-Ära verhindert: US-Regierung unter Barack Obama läßt "feindlichen Kämpfer" als Terrorhelfer anklagen

Von Alexander Bahar *

Nach sieben Jahren Haft ohne Anklage hat in den USA ein Gerichtsverfahren gegen den »feindlichen Kämpfer« Ali Saleh Kahlah Al-Marri begonnen. Vor dem Bundesgericht in Charleston in South Carolina sei dem 43jährigen die Anklageschrift verlesen worden, berichtete die Nachrichtenagentur AFP am Dienstag abend unter Berufung auf das US-Verteidigungsministerium. Al-Marri wird »Verschwörung« und »materielle Unterstützung des Terrorismus« vorgeworfen. Mit der Überstellung an ein Bundesgefängnis endete sein Status als »feindlicher Kämpfer«. Erst Ende vergangener Woche war Al-Marri mit einer Verfassungsbeschwerde gescheitert, die klären sollte, ob es rechtens war, ihn seit Ende 2001 ohne Anklage festzuhalten. Der Oberste Gerichtshof hatte sich nach jahrelangen Bemühungen der Anwälte Al-Marris im Dezember des Falls angenommen.

In einer scheinbar salomonischen Entscheidung hatte das höchste Gericht der Vereinigten Staaten am vergangenen Freitag das Unrechtsurteil eines US-Berufungsgerichts aus dem Jahr 2008 aufgehoben. Dieses hatte dem US-Präsidenten das Recht eingeräumt, einen legalen Einwohner der Vereinigten Staaten von Amerika unter dem Vorwand des Terrorismusverdachts ohne Anklage für unbegrenzte Zeit wegsperren zu lassen. Der Supreme Court ließ in seinem knappen Urteil allerdings die entscheidende Frage offen, ob die militärische Ingewahrsamnahme von rechtmäßigen Einwohnern als »feindliche Kämpfer« überhaupt mit der amerikanischen Verfassung vereinbar ist

Verurteilung verhindert

Weltweit hat die frühere US-Regierung unter George W. Bush Menschen verschleppt und als »feindliche Kämpfer« an zumeist geheimen Orten ohne Anklage festgehalten sowie unter Folter verhört, darunter auch US-Bürger und legale Einwohner der USA. Im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen, diese illegale und kriminelle Praxis seines Vorgängers zu beenden. Nun hat seine Regierung in einem durchsichtigen Manöver eine juristische Verurteilung dieser Politik durch das höchste amerikanische Gericht verhindert. Das steht in offenkundigem Widerspruch zur offiziellen Anordnung des Präsidenten, »alle militärischen Inhaftierungen weltweit umfassend zu überprüfen«.

Der Oberste Gerichtshof hatte für den 27. April eine Anhörung im Fall des letzten in den USA inhaftierten »feindlichen Kämpfers« Ali Saleh Kahlah Al-Marri angesetzt. Dabei hätte auch die neue Regierung unter Präsident Obama ihren Standpunkt darlegen sollen. Um das Risiko einer für die US-Administration möglicherweise ungünstigen Entscheidung des Gerichts auszuschließen, die dem Präsidenten die Hände gebunden hätte, ergriff das Justizministerium die Initiative zu einem juristischen Kuhhandel. Vor einem Bundesgericht in Peoria, Illinois, beschuldigten zwei Bundesankläger Al-Marri am 27. Februar, die Terrororganisation Al-Qaida materiell unterstützt und sich zu diesem Zweck mit anderen verschworen zu haben. Beides kann mit Gefängnis von jeweils 15 Jahren bestraft werden. Die zweiseitige Anklageschrift präsentierte allerdings keinerlei Beweise, die diese Anschuldigungen erhärtet hätten.

Noch am gleichen Tag beantragte der bevollmächtigte Vertreter des Justizministers, Edwin Kneedler, beim U.S. Supreme Court, das Verfahren im Fall Al-Marri einzustellen. Da die US-Regierung gegen Al-Marri Anklage in einem Strafverfahren erheben ließ, so seine Begründung, sei die strittige Frage, ob der Präsident das verfassungsmäßige Recht habe, Menschen in den USA unbegrenzt und ohne Anklage gefangenzuhalten, hinfällig geworden.

Al-Marri, ein aus Katar stammender Informatikstudent und im Besitz eines legalen Visums für die USA, war im Dezember 2001 in seiner Wohnung in Peoria, Illinois, festgenommen worden. Er wurde als wichtiger Zeuge im Rahmen der Ermittlungen zu den Terroranschlägen vom 11. September festgehalten und in der Folge vor einem Zivilgericht verschiedener Verbrechen bezichtigt, darunter des Scheckkartenbetrugs und falscher Angaben gegenüber der Bundespolizei FBI. Er widersprach all diesen Beschuldigungen vehement. Der Verdacht, er gehöre zu Schläferzellen Al-Qaida konnte niemals erhärtet werden. Im Juni 2003 -- einen Monat vor dem geplanten Beginn seines Strafverfahrens -- erklärte ihn George W. Bush plötzlich zum »feindlichen Kämpfer« und wies das US-Militär an, Al-Marri in Militärgewahrsam zu überführen.

Seitdem saß der Mann aus Katar in einem Militärgefängnis in Charleston in Einzelhaft, ohne daß die US-Regierung Anklage gegen ihn erhoben und ihm die Gelegenheit eingeräumt hätte, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen. Während dieser Zeit wurde Al-Marri schwer mißhandelt und gefoltert. Annährend sechs Jahre lang wurde ihm nicht gestattet, seine Frau und seine Kinder zu sehen, und sein einziger Kontakt zur Außenwelt bestand in den Gesprächen mit seinen Anwälten.

Im Juli 2008 hatte der U.S. Court of Appeals for the 4th Circuit in Richmond mit der knappen Mehrheit von 5:4 Stimmen der US-Regierung das Recht zugestanden, daß sie Al-Marri ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf unbegrenzte Zeit festhalten darf. Zur Überprüfung dieser Entscheidung, die dem US-Präsidenten quasidiktatorische Vollmachten einräumte, hatten Al-Marris Anwälte daraufhin den U.S. Supreme Court angerufen. Zwar hob das höchste Gericht mit seiner Entscheidung vom vergangenen Freitag das frühere Urteil auf. Doch es entschied zugleich, Al-Marris Fall -- wie von der US-Regierung intendiert -- aufgrund dessen nachträglicher Anklage vor einem Bundesgericht nicht weiter zu verhandeln. Damit wich es zugleich einer Entscheidung in der grundsätzlichen Frage aus, ob Washington überhaupt das Recht hat, US-Einwohner als sogenannte feindliche Kämpfer in Militärhaft zu nehmen. Die Obama-Regierung kann mit dieser »salomonischen« Entscheidung der mehrheitlich politisch rechts stehenden obersten Richter hochzufrieden sein, bleiben damit doch sowohl die massiven Verfassungsbrüche der Bush-Administration juristisch ungesühnt als auch ihr selbst die Hände ungebunden.

Jahrelang ohne Anklage

Auch wenn es die Obama-Regierung bestreitet: Ihr Verhalten gleicht demjenigen der Bush-Administration im Fall von José Padilla, jenes US-Bürgers, der im Mai 2002 auf dem Internationalen Flughafen O' Hare von Chicago nach seinem Rückflug aus Pakistan festgenommen worden war. Padilla wurde mit großem öffentlichen Brimborium beschuldigt, in Afghanistan mit dem Feind konspiriert und in Pläne zum Anschlag mit einer »schmutzigen Bombe« verwickelt zu sein. Auch Padilla wurde als wichtiger Zeuge der Terroranschläge vom 11. September festgehalten. Als er über seinen Anwalt seine Inhaftierung anfocht, erklärte ihn Bush kurzerhand zum »feindlichen Kämpfer«. Padilla wurde dreieinhalb Jahre ohne Anklage im selben Militärgefängnis festgehalten wie Al-Marri.

Im September 2005 hatte ein aus drei Richtern bestehendes Gremium desselben Berufungsgerichts wie im Fall Al-Marri entschieden, der Präsident habe die Autorität, auch US-Bürger auf amerikanischem Grund und Boden zu arretieren und sie für unbegrenzte Zeit ohne Anklage wegsperren zu lassen. Der Supreme Court hatte sich damals nur deshalb geweigert, diese Entscheidung des Berufungsgerichts zu überprüfen, weil die US-Regierung Padilla nach dreieinhalb Jahren ungesetzlicher Haft schließlich doch eines Verbrechens anklagte. Drei Richter allerdings, Stephen Breyer, Ruth Bader Ginsburg und David Souter, befanden, das höchste US-Gericht hätte Padillas Fall dennoch verhandeln müssen. Es »betrifft eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung für die Nation«, sagte Ginsburg damals.

Wie seinerzeit die Bush-Regierung José Padilla, so ließ nun die Oba­ma-Regierung Al-Marri anklagen, um eine grundsätzliche Entscheidung des höchsten Gerichts zu umgehen. Das Manövrieren des Justizministeriums ist nur eine von vielen ähnlichen Aktionen, mit denen Washington die vollmundigen Wahlkampfversprechen Barack Oba­mas Lügen straft. Zwar hat Justizminister Eric H. Holder jr. das u.a. von der CIA notorisch praktizierte »Waterboarding« endlich als das bezeichnet, was es ist, nämlich als »Folter«, und zugleich Schritte zur Schließung des US-Foltergefängnisses in Guantánamo angekündigt. Andererseits haben Regierungsjuristen die Einladungen von Bundesrichtern zurückgewiesen, den Standpunkt der US-Administration in mehreren anhängigen Verfahren öffentlich zu revidieren. So hat die Regierung im Februar vollständig die Position der Bush-Administration übernommen, als sie auf die Klage von vier Personen reagierte, die man sechs Jahre lang ohne Anklage im US-Folterknast auf der Militärbasis Bagram in Afghanistan gefangengehalten hatte. Auch die Obama-Regierung argumentierte, die Gefangenen hätten kein Recht, gegen ihre Inhaftierung vor US-Gerichten zu klagen. Zweimal benutzte das Justizministerium im vergangenen Monat angebliche »Staatsgeheimnisse« als Vorwand, um Anklagen abweisen zu lassen. Ein grundlegender politischer »change« sieht anders aus.

Von Alexander Bahar erscheint in diesen Tagen bei dtv das Buch
"Folter im 21. Jahrhundert. Auf dem Weg in ein neues Mittelalter?" (300 Seiten, 16,90 Euro).


* Aus: junge Welt, 12. März 2009


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