Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Töten als Leistung

Der aufhaltsame Abstieg des James Holmes. Das Kinomassaker von Aurora/Colorado und seine Pathologisierung

Von Ingar Solty *

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern hat man sich mittlerweile dermaßen an Amokläufe und erweiterte Selbstmorde gewöhnt, daß nach ein paar Tagen Grusel-Voyeurismus die Tat schon wieder aus den Medien verschwindet. Der erste Schock über solcherlei barbarische Akte wird in der Regel überwunden, indem – wie zuletzt im Falle des Rechtsterroristen Anders Behring Breivik – der Täter pathologisiert wird. Wir erfahren, daß dieser, immerhin »aus unserer Mitte«, schizophren oder anders abnormal ist, weshalb sich allein der Versuch, seine Motive nachzuvollziehen, erübrige. Wird überhaupt die Frage aufgeworfen, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muß, in der solche monströsen Taten zivilgesellschaftlicher Gewalt zur Normalität werden, dann kommt es in der Regel zum kulturalistischen Reflex: Ego-Shooter, Torture-Porn-Filme, aggressive Musik und all die Dinge, die die bürgerlichen Journalisten schon immer verachtet haben, um sich nach unten abzugrenzen, werden als »Ursache« bemüht. Der Widerspruch, daß solcherlei Kulturprodukte wohl Machtphantasien inspirieren, aber die individuell erlittene gesellschaftliche Ohnmacht, die zu diesen Machtphantasien führt, nicht hervorrufen können, wird dabei geflissentlich übergangen. Statt dessen kommt der erhobene Zeigefinger (die Liberalen) oder der Polizeiknüppel (die Kristina-Schröder-Konservativen), und damit ist die Debatte beendet. Das aus der Mitte der Gesellschaft entspringende Böse – denn die große Mehrzahl der männlichen Amokläufer stammt aus der »perfekt integrierten«, leistungsorientierten, weißen Mittelschicht – wurde erfolgreich exorziert. Die Gesellschaft kann weiterleben. Bis zum nächsten Mal.

Zerstörte Gesellschaft

Um den üblichen Pathologisierungen und Kulturalisierungen etwas entgegenzusetzen, soll im folgenden – polemisch zugespitzt und mit aller gebotenen Distanz – auf die materiellen Grundlagen des Amoklaufes von James Holmes eingegangen werden.

Versuchen wir also, uns einen historisch-materialistischen Reim auf die bekannten Fakten zu machen: Ein junger Mann namens James Eagan Holmes stammt aus Torrey Highlands in der kalifornischen Stadt San Diego, einem jener für die USA so typischen Suburbs. In diesen zogen 2005 seine Eltern, um dem Sohnemann einen guten Schulabschluß zu ermöglichen. Guter Schulabschluß heißt in den USA bekanntlich nicht Anstrengung um gute Zensuren, sondern zunächst einmal Besuch einer »guten Schule«. Denn insofern sich hier die öffentlichen Schulen und damit auch die Lehrer weitgehend über die kommunale Property Tax und nicht über den Bundes- oder Nationalstaat finanzieren, bedeutet teures Pflaster eben auch bessere Ausbildung. Dabei meint besser häufig nicht gleich profundes Wissen und kritische Denkfähigkeit, sondern lediglich intensivere Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen.

Holmes’ Vater gehört zu dem, was die »neomarxistische« Klassentheorie das neue Kleinbürgertum genannt hat: Als in Stanford und an der University of California, Los Angeles (UCLA) ausgebildeter Mathematiker arbeitet er als Manager einer Computersoftwarefirma. Mit anderen Worten: Die Klitsche ist nicht sein Eigentum, aber er kontrolliert andere Lohnabhängige, die, wenn er nicht aufpaßt – je nach Betriebsorganisation –, womöglich anfangen, »Solitaire« zu spielen oder mit der Zeitung aufs Klo zu verduften. Das für seine Klasse typische schizophrene Bewußtsein eines Lohnabhängigen, der die Perspektive des Unternehmens vertritt und vertreten muß, bekommt er gratis dazu.

Mutter Holmes nahm auch eine Tätigkeit auf in einer Ökonomie, in der die Feminisierung des Arbeitsmarktes angesichts seit 1979/80 schwindsüchtiger Gewerkschaften wenig mit Emanzipation und viel mit sinkenden Reallöhnen zu tun hat. In keinem fortgeschrittenen kapitalistischen Land ist die Wochenarbeitszeit zwischen den 1970er und den 2000er Jahren so angestiegen wie in den USA. Und trotzdem ließ sich der Lebensstandard der lohnabhängigen Klassen – vor allem in den unteren Einkommensgruppen – nur durch eine kreditbasierte Erhöhung der Privathaushaltsverschuldung und einer allgemeinen Walmartisierung der US-Ökonomie aufrechterhalten. Mit anderen Worten: Kinder in China basteln iPhones zusammen, und in Kolumbien werden Coca-Cola-Gewerkschafter ermordet, damit man in North Carolina oder Arkansas (viel Industrie, keine Gewerkschaften) den »American Way of Life« auch ohne zu kämpfen noch ein Weilchen genießen kann.

Fragt man sich, warum die Floskel »hard-working families« in jeder US-Wahlkampfrede auftaucht, dann deshalb: »Gesellschaft« und Klassen gibt es – nach einer Parole Margaret Thatchers – in weiten Teilen der USA nicht, sondern bloß »Individuen und Familien«. Und hard-working sind die fast alle, weil es im effizienten Neoliberalismus keine »free rider« mehr geben soll. Interessant ist, daß die überwältigende Mehrheit der US-Amerikaner das auch noch begrüßt. So glauben nach einer im Juli veröffentlichten globalen Umfrage des renommierten Pew-Forschungszentrums 72 Prozent aller US-Amerikaner immer noch an die heilsame Wirkung »harter Arbeit«.

Religiöses Elend

Die Institution, die für Zusammenhalt und kollektive Solidarität sorgt, ist die hier ansässige (Mega-)Kirche. Denn – nach Marx – braucht bekanntlich jede durch reales Elend oder Abstiegsängste »bedrängte Kreatur« eine »Religion«, die – nach den Simpsons (»We add God to your misery!«) – das Elend komplett macht. In den USA geben rund 90 Prozent der Bevölkerung an, an ein höheres Wesen zu glauben, und der wöchentliche Kirchgang gehört für zig Millionen, die am liebsten in den Suburbs oder auf dem Land leben, zum Alltag.

Die Kirche der Holmes-Familie, in der sowohl Mama, Papa und auch der schüchtern-wohlerzogene James sehr aktiv waren, ist »presbyterianisch«. Für den unkundigen Deutschen muß man das erklären: Presbyterianisch in den USA hat, wie die Amis sagen, die obere Mittelschicht »written all over it«. Den Evangelikalismus überläßt man – nach einem berühmten Ausspruch des deutschamerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr – den »Enteigneten«, den Plebejern, weshalb einige Plebejer wiederum an allen möglichen Verschwörungstheorien über weltherrschaftssüchtige Presbyterianer stricken. Denn auch da, wo es keinen Klassenkampf gibt, geht es nicht ohne Klassenressentiment, und auch das artikuliert sich schließlich auf allen ideologischen Ebenen.

Der Evangelikalismus spricht also das abgehängte Prekariat und die panischen Teile der Mittelschicht an, weil seine fundamentalistische Bibel-Interpretation und wohlfühltheologischen Elemente nicht nur die Sehnsucht nach absoluten Gewißheiten und der Unterwerfung unter einen Übervater stillen, der die verlorengegangene Kontrolle über das eigene Leben übernimmt, sondern vor allem auch die Sehnsucht nach Bestrafung der (atheistisch-hedonistisch-liberalen) Gewinner­typen. Diese werden – nach Vorstellung der Evangelikalen – am Tag des Jüngsten Gerichts, von dem die Mehrheit der Gläubigen überzeugt ist, ihn noch persönlich zu erleben (alles andere wäre ja auch unbefriedigend), von Jesus und seinen alttestamentarischen Truppen auf eine Weise gequält werden, mit der verglichen »The Passion of the Christ« und »Saw« sich wie US-RomComs (»romantische Komödien«) ausnehmen dürften. Die Presbyterianer finden solche »Bible thumpers«, deren Theologie auf den Merksatz »Jesus loves me, but he can’t stand you!« (Jesus liebt mich, aber dich kann er nicht ausstehen!) hinausläuft, vulgär. Sie selbst legen Wert auf lebenslanges Lernen und theologischen Meinungsstreit. Darum verlieren sie auch seit Jahrzehnten Mitglieder, denn im Neoliberalismus fragt der Konsument schließlich erst einmal nach dem Nutzen: Und für was ist heute eine Religion zu gebrauchen, die einem nicht das Denken abnimmt?

Die Presbyterianer ziehen jene an, für die der »American Dream« noch nicht zum Alptraum geworden ist: Also jenen Teil der Bevölkerung, der auf den evangelikalen Pöbel hinabschaut und bestätigt haben will, daß er zu den Auserwählten gehört, weil er ja so wunderbar leistungsfähig ist. Und wenn Gott ihm die Kraft gibt, leistungsfähig zu sein, dann ergibt sich daraus schließlich eine Win-Win-Situation für Herde und Hirten, die im Geld- und Klingelbeutel zu hören ist. Soviel begriff schon Calvin, von dem diese – an die neuen kapitalistischen Verhältnisse angepaßte – Prädestinationslehre stammt. Und der nach ihm benannte Ismus, aus dem Max Weber gegen Marx den US-Kapitalismus ableitete, existiert bis heute. Dabei ist es kein Widerspruch, daß einige presbyterianische Kirchen durchaus christliche Nächstenliebe lehren, denn wer viel hat, kann auch was abgeben. In jedem Fall scheint dies in der lokalen Kirche der Holmes-Familie gepredigt worden zu sein, denn James Holmes leistete eine Zeit lang ehrenamtlichen Dienst für »unterprivilegierte« Kinder.

Der Traum ist aus

Auserwählt fühlen jedenfalls mochte sich der junge Holmes, der seine High School verließ, um an der UC Riverside (UCR) ein Studium aufzunehmen. Sein Auserwähltsein bestätigte er offenbar durch seine hervorragenden Leistungen. Vielleicht dachte er sich auch, daß er durch beruflichen Erfolg seiner – vielfach kolportierten – Schüchternheit zum Trotz, Erfolg beim weiblichen Geschlecht haben mochte. Denn damit war es – wie zu lesen gewesen ist – nicht weit her. Und Leistung erbringt man ja schließlich nicht nur für dingliche, sondern auch für verdinglichte Statussymbole oder – wie die unverdrucksten Amis sagen würden: »To get paid – and to get laid« (bezahlt – und flachgelegt werden).

Nun bedurfte es bei Holmes sicherlich nicht des detektivischen Spürsinns seines ungleich berühmteren Namensvetters, um zu wissen, daß man, auch ganz ohne Systemkrise, mit einem einfachen Bachelor-Abschluß von einer guten, aber keiner Ivy-League-Universität in den USA eher Fenster als Klinken putzt. Denn während in Deutschland das Ziel des Bologna-Prozesses – sprich die säuberliche Trennung der Filetstücke vom Bolognese-Hack und damit die Senkung der Erwartungen aller zukünftigen Akademikergenerationen – noch in den Kinderschuhen steckt und hier die überzogene Erwartung vorherrscht, der nächste Job solle doch bitteschön irgendwas mit der eigenen Qualifikation zu tun haben und obendrein noch anständig bezahlt werden, haben sich nordamerikanische Studis schon längst von solchen wilden kommunistischen Träumereien verabschiedet. Kurzum, Holmes wußte also, daß Eltern, Staat und Gesellschaft mehr von ihm erwarten würden, wenn er zum Leistungsträger werden sollte. Er hielt sich fern von den Laberfächern Englische Literatur und Politikwissenschaft, schrieb sich für etwas Anständiges (Neurowissenschaften) ein, vernetzte sich in den Verbindungen »Phi Beta Kappa« und »Golden Key« und strengte sich über alle Maßen an. Er legte einen makellosen Abschluß hin und gehörte – nach Aussagen der UCR – zu »den Besten der Besten«.

Nun mußte Holmes jedoch feststellen, daß der einzige Beruf, den ein leistungsorientierter und talentierter Mensch wie er finden konnte, einer von jenen war, die in seiner aufgeklärten Klasse, in der Begriffe wie »White Trash«, »Redneck« und »Hillbilly« genauso zum guten Ton gehören wie unter »Gebildeten« hierzulande »Assi«, »Prolet« und »Hartz-IVler«, als »Flipping burger«-Jobs bezeichnet werden. Der junge aufstrebende Holmes, dem doch eigentlich vorgeschwebt hatte, für die Kinder der Unterklassen die Wirkung von Ritalin zu verbessern, mußte jetzt statt dessen buchstäblich ein Jahr hindurch Buletten wenden.

Dem Jungen aus gutem Hause, der so schüchtern wie angepaßt aus seinem High-School-Abschlußfoto herausschaut, wie es alle Jungen tun, die sich von Drogen, Punkrock und Schwarzem Block fernhalten und statt dessen dem Lehrer die Tasche hinterhertragen, dämmerte wohl allmählich, daß das System ihn nach Strich und Faden verarscht hatte. Im Neoliberalenparadies USA, wo von der Gesundheit über die Bildung bis hin zur Betriebsrente alles eine warenförmige Dienstleistung ist, in die der »Arbeitskraftunternehmer« investiert, denn auf dem freien Markt gibt es nun mal »kein free lunch«, da merkte wohl auch Holmes, daß da irgendwas mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis nicht stimmte. Er wird sich gedacht haben: »An dem Produkt ist was kaputt, ich will mein Leben zurück!« Aber Reklamation ist halt nicht drin, wenn man sich am freien Markt verspekuliert hat.

Denn auch wenn Holmes als kalifornischer Einheimischer eine »bevorzugte« Behandlung in Sachen Studiengebühren genoß, saß er nun wohl auf einem Schuldenberg, der kaum geringer als 50000 US-Dollar gewesen sein kann. So liegen die Studiengebühren für Einheimische, die der kalifornische Staat zur Finanzierung der Krisenkosten in den letzten Jahren noch einmal kräftig anhob, an der UC Riverside bei 13684 Dollar. Pro Jahr. Für US-Verhältnisse immer noch ein Schnäppchen! Die Gesamtkosten für das akademische Jahr 2012/2013 (Gebühren, Unterkunft, Bücher, Mobilität und Verpflegung), die von den US-Universitäten immer gleich mit angegeben werden, damit von vornherein klar ist, daß man sich HiWi-Jobs als Bachelor-Student in die Haare schmieren kann, schätzt UCR auf 23384 Dollar. Das gilt allerdings nur, solange man im »Hotel Mama« residiert. Hat man – wie James Holmes – kühnere Träume, dann muß man sich – bei einem im Regelfall zu teilenden Campus-Zimmer – auf schlappe 31534 Dollar einstellen. Bleiben also beim reibungslos funktionierenden Bachelor-Studenten Ausbildungsinvestitionen von gut 120000 US-Dollar für einen Job bei McDoof. Durchaus beachtlich, wenn man bedenkt, daß sich hier Menschen verschulden, um fürs Kapital die Qualifizierungskosten der Ware Arbeitskraft zu schultern, damit sie sich als Lohnabhängige später besser ausbeuten lassen können. In jedem Fall versteht man, warum die Studienschulden der US-Lohnabhängigen, die bislang nur Achselzucken hervorriefen, solange sie nicht systemrelevant waren, nun auf einmal in aller Munde sind. Sie haben eine Schuldenblase produziert, deren Platzen das Zeug zu einer drastischen Verschärfung der gegenwärtigen Krise hat.

In aussichtsloser Lage

Es bedarf nun keiner außergewöhnlichen Empathiefähigkeit, um sich vorzustellen, wie oft der junge Holmes aus dem »Land der Freien und der Heimat der Tapferen« im Kopf kalkulierte, wie viele Burger er noch wenden müßte, bis er irgendwann einmal seine Schulden würde zurückzahlen können. Auch nicht viel Einfühlungsvermögen verlangt es, sich auszumalen, wie sehr er angesichts der unnatürlichen Selektion auf dem Arbeitsmarkt unter Strom stand, als er nach einem Jahr und nach gefühltem millionenfachen »Would you like fries with that?« die Zusage der University of Colorado in Aurora, einem zersiedelten Vorort von Denver (größter Arbeitgeber: Militär), erhielt, die ihm die Erlaubnis gab, im Gegenzug für die nochmalige Vermehrung seiner Schulden, denn die wenigsten Doktoranden(PhD)-Programme in den USA sind über Lehraufträge gegenfinanziert, sich die fettigen Fritten vorerst vom Leib zu halten. Denn während die PhD-Programme zur Zeit des Vietnamkriegs vornehmlich Zufluchtsorte vor der Wehrpflicht und vor der Verschiffung in den Völkermord waren, funktionieren sie heute in der größten Kapitalismuskrise seit den 1930er Jahren, wo die fordistische Vollbeschäftigung wie Sirenengesang aus dem gelobten Land klingt, als Refugien vor Schuldentilgung und Arbeitsmarkt.

Warum der talentierte Mr. Holmes am Ende des ersten PhD-Jahres schließlich in seiner ersten Abschlußprüfung, die aufgrund ihres Stoff­umfangs auch ganz ohne Zukunftsängste Psycholeichen en masse produziert, versagte, kann bislang nur vermutet werden. Aber daß er – wie so viele der jungen Leute aus der angepaßt-leistungsorientierten Mittelschicht, die angesichts von monströsen Jugendarbeitslosenzahlen weltweit um ihren so spießigen wie legitimen Traum vom Häuschen mit Wagen und Abenteuerurlaub bangen und einfach nicht vom fordistischen Lebensstandard und der sozialen Sicherheit der (Groß-)Elterngeneration lassen wollen, weil sie wissen, daß ihnen das in einer »moralischen Ökonomie«, wie E.P. Thompson es nannte, zusteht –, daß er also wie so viele der Generation Krise berechtigte Abstiegsängste gehabt hat, davon ist auszugehen. Und Ängste und Depressionen lähmen schließlich. Das hätte Holmes, wäre psychologische Betreuung in den USA nicht auch eine weitgehend privatisierte oder kirchlich-karitative Dienstleistung, von jedem Verhaltenstherapeuten erfahren können. Selbst von jenen, die in ihrer Praxis sitzen und die Ängste wegkonditionieren, wegmedikamentieren oder durch »positives Denken« bekämpfen, weil sie an den kapitalistischen Verhältnissen, die ihre Patientinnen und Patienten in Wirklichkeit bedrängen, selbst wenn sie es wollten, nichts ändern können.

Fest steht jedenfalls, daß sich Holmes in einer aussichtslosen Lage gefühlt haben muß. Und als Mann, ergab sich für ihn auch nicht die unter US-Studentinnen immer beliebter werdende Option, Unternehmer seines eigenen jugendlichen Körpers zu werden und sich als »Sugar Baby« an einen jener Finanzmarktsäcke zu wenden, die wie Geier über den sozialen Notlagen junger lohnabhängiger Frauen mit Studienschulden kreisen, die für sie genauso käufliche Waren sind wie alles andere auch.

Jedenfalls scheint sich Holmes in der fremden Stadt nun offenbar nach menschlicher Wärme gesehnt zu haben, was verständlich ist, denn wenn’s im »Beruf« nicht klappt, dann gewinnt ja das Zwischenmenschliche umso höhere Bedeutung. Holmes trieb sich seit einer Weile offenbar auf Online-Dating-Seiten herum, wo er in der Anonymität des Netzes, in der es schüchternen Menschen leichter fällt, nicht schüchtern zu sein, es scheinbar auf die hilfesuchende Weise versuchte, als er wenige Tage vor seinem Amoklauf in sein Profil schrieb: »Würdest Du mich im Knast besuchen?«

Am Ende von Brechts Lehrstück »Die Mutter« steht das Gedicht »Lob der Dialektik«. In dessen Schlußzeilen heißt es: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?« Der niedergeschlagene Holmes erkannte seine Lage. Die Uni Colorado beteuert zwar, daß sie nicht vorgehabt habe, ihn zu exmatrikulieren, sondern lediglich zu beurlauben, und es besteht kein Grund, an dieser Darstellung zu zweifeln. Seiner Beurlaubung kam Holmes – nach einer weiteren verpatzten mündlichen Prüfung – in seiner offenkundigen Verzweiflung aber zuvor: Er bereitete seine eigene Exmatrikulation vor. Er wird gewußt haben, daß er in seinem Zustand wohl nicht mehr leistungsfähig gewesen wäre.

Kampf um die Spitze

Die Abschlußprüfungen in den Doktorandenprogrammen werden normalerweise im April oder Anfang Mai geschrieben. Am 22. Mai 2012 kaufte der unbescholtene Holmes seine erste von insgesamt vier Schußwaffen. Am 20. Juli, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem politisch motivierten Terroranschlag von Anders Behring Breivik in Norwegen, drang Holmes, bis an die Zähne bewaffnet, in eine Preview-Vorstellung des letzten Teils der »Batman«-Trilogie ein, die die Botschaft zu vermitteln scheint, daß die Eliten und das System zwar korrupt sind, daß aber die eigentliche Gefahr von denjenigen ausgeht, die wie »Occupy Wall Street« das System ändern wollen. Nur die Tatsache, daß Holmes’ Magazin klemmte und die Cops ihn frühzeitig dingfest machten, vereitelten, daß er sich an die Spitze der ewigen Top-Scorer-Tabelle setzen konnte. Die Liste derjenigen also, die ihre Handlungsfähigkeit und das Gefühl, daß sie etwas in der Welt bewegen, daß von ihnen etwas abhängt, dadurch wiedererlangen, daß sie eine noch größere Zerstörungskraft an den Tag zu legen vermochten als ihre Vorgänger, mit denen sich die meisten von ihnen in den Wochen vor ihren jeweiligen Taten obsessiv auseinandersetzen.

In bezug auf den Terror aus der Mitte der kapitalistischen Gesellschaften, in denen wir leben, muß die Frage nicht lauten: Welches »kranke Gehirn« (wie es der demokratische Gouverneur von Colorado John Hickenlooper formulierte) brütet solche unverständlichen Taten aus, sondern warum kommt es in einer Gesellschaft, in der eine von radikalen Neoliberalen euphorisch beklatschte sozialdarwinistische Konkurrenz herrscht und eine ganze Generation, deren »Glückssucht« einzig und allein darin besteht, die Sicherheit und den Lebensstandard, den sie von ihren Eltern gewohnt sind, zu halten, der Krise geopfert wird, warum kommt es in einer solchen Gesellschaft nicht zu noch viel, viel mehr solcher barbarischen Akte?

In seinem Rachefeldzug gegen die abstrakte Gesellschaft, die ihm »dies« angetan hat und die es nach den Neoliberalen auch gar nicht geben soll, betätigte sich James Holmes als schöpferischer Unternehmer: Zu seinen Innovationen gehört nicht nur, die vollkommen überraschten und wehrlosen Opfer per Gasattacke zusätzlich zu paralysieren, damit sie sich noch viel wehrloser abknallen lassen, sondern ferner die eigene Bude zur Todesfalle umzugestalten und die durch zeituhrgeschaltete Partymusik aufgestörten Nachbarn bzw. die von ihnen herbeigerufenen Polizisten zu Auslösern einer Explosion zu machen.

Holmes’ Überlegung zu einer Maximierung der Zerstörungskraft, zu der ein »einsamer Wolf« fähig sein kann, ist jedenfalls nicht nur furchterregend, sondern zeugt auch von einer kreativen Kraft und einem perversen Leistungswillen, der die jüngsten Amokläufe alle kennzeichnet. James Holmes, der scheinbar nie etwas anderes wollte, als ein durch seine Leistungen materiell und ideell anerkannter Teil der Gesellschaft zu werden, was »die Gesellschaft« jedoch verhinderte, hätte diese Energien und diese Leistungsbereitschaft unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen wohl in den Aufbau und nicht in die Zerstörung investiert.

Hilflose Erklärungsversuche

Der Abstieg von James Holmes war aufhaltsam. Gut möglich, daß die Gerichtspsychologen bald eine Schizophrenie beim Angeklagten feststellen werden, die vollkommen unerklärlich mal so eben ausgebrochen sei. Gut möglich, daß eine solche Schizophrenie dann nicht Ursache, sondern Folge seines Handelns wäre. Holmes stammt aus einem Land und einer Klasse, in dem und in der wie nirgendwo sonst die bürgerliche Ideologie vorherrscht, Erwerbslosigkeit und ökonomisches Versagen seien selbstverschuldet und jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Das Perfide am Fall James Holmes ist, daß er sich bis zum Schluß unsicher gewesen zu sein scheint, ob nun er in der Gesellschaft versagt hat oder ob die Gesellschaft, an deren Abstraktion er Rache nahm, ihn zum Versager machte. Dies läßt sich nicht nur aus der Tatsache schließen, daß er, als das Adrenalin nachließ, noch für genügend Zweifel und Mitleid zugänglich war, die Polizei vor seiner Bombenwohnung zu warnen und damit seine Scorerpunkte zu minimieren, sondern erklärt vielleicht auch die totale Zerrüttung des Angeklagten bei seiner Richtervorführung, die in merklichem Gegensatz beispielsweise zu Breiviks Prozeßgebahren steht. Daß nun die Bürgerlichen Pathologisierungen und Kulturalisierungen bemühen, um Amokläufe wie den seinen wegzuerklären, ist allerdings verständlich. Kann die Schuld nicht auf Ego-Shooter, Torture-Porn-Filme oder aggressive Musik (wie im Fall Colum­bine High School auf Marilyn Manson und Eminem) abgelenkt werden, müßte ein Zusammenhang hergestellt werden zwischen der wachsenden zivilgesellschaftlichen Gewalt und den materiellen, kapitalistischen Sozialverhältnissen. Der Kulturalismus und die Pathologisierung sind nicht bloß hilflose Erklärungsversuche von Journalisten, die soziale Widersprüche auf der Ebene der Kultur bekämpfen wollen, weil sie die ökonomischen Verhältnisse für natürlich und Studiengebühren etc. für alternativlos halten. Der Exorzismus des Bösen qua Kulturalisierung und Pathologisierung erfüllt eine objektive gesellschaftliche Funktion: Denn es gehört nicht die Intelligenz eines James Holmes dazu, eins und eins zusammenzuzählen und zu sehen, daß solange Kommunen und Einzelstaaten mit Steuersenkungen und Subventionen Standortkriege ausfechten und unter der Politik der Austerität ächzen, die Forderung nach einer Senkung – geschweige denn der Abschaffung – der Studiengebühren das neoliberale Projekt des herrschenden Blocks grundsätzlich infrage stellen würde. Damit entpuppen sich aber die Tränen der Bürgerlichen als die von Krokodilen und ist die Zeit nach diesem Amoklauf nur die vor dem nächsten.

* Ingar Solty ist Doktorand am FB Politikwissenschaft der York University in Toronto und Redakteur der Zeitschrift Das Argument. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der politischen Ökonomie des Rechtspopulismus in den USA.

Aus: junge Welt, Freitag, 27. Juli 2012



Zurück zur USA-Seite

Zur Gewalt-Seite

Zurück zur Homepage