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"I have a dream"

Mehr als Geschichte – Martin Luther Kings große Rede vor 50 Jahren

Von Reiner Oschmann *

Seit Martin Luther Kings berühmtester Rede vor 50 Jahren hat sich für Amerikas Schwarze vieles verändert, manches sogar verbessert.

Die Frage, was aus der »Traum«-Rede Martin Luther Kings am 28. August 1963 am Lincoln Memorial auf Washingtons National Mall geworden ist, mutet im ersten Moment absurd an. Viele Veränderungen in den USA seitdem sprechen für sich. Amerika ist – verglichen mit Kings Auftritt vor 250 000 Teilnehmern des »Marschs auf Washington für Arbeitsplätze und Freiheit« – in vielem ein anderes Land: Das Bürgerrechtsgesetz von 1964, das an jenem Tag noch ausstand, aber einen Schub bekam, beseitigte Diskriminierung der Afroamerikaner – heute gut 40 Millionen, rund 13 Prozent – bei der Wahlregistrierung. Es verbot Rassentrennung in Schulen, Bussen und Cafés, beauftragte den Staat, Verletzungen zu verhindern bzw. zu ahnden. Das Gesetz, das im Juli 1964 in Kraft trat, ist ein Schlüsseldokument. Trotz rassistischer Rück- und Überfälle bis heute, trotz der Ermordung des 39-jährigen Kings 1968 und trotz bleibender Gerüchte über eine Regierungsaktie an seinem Tod in Memphis.

Eine Diskriminierung von Amerikas Schwarzen wie damals ist heute nicht mehr möglich. Das Bundesparlament hat sich für die Sklaverei entschuldigt, allerdings Entschädigung ausgeschlossen. Amerikanische Kriegstote, an denen weiter kein Mangel ist, werden nicht mehr auf getrennten Friedhöfen bestattet. Etwa die Hälfte der Schwarzen rechnet sich heute zur Mittelschicht, während es bei Kings Rede weniger als ein Drittel war. Das Land hat seit 2009 seinen ersten afroamerikanischen Präsidenten, und auf der Mall, unweit von Kings Auftritt, befindet sich unter den Kirschbäumen am Tidal Basin das Martin Luther King jr. Memorial. Es ist hier das erste für einen Afroamerikaner – und höher als die Memorials für den 3. und den 16. Präsidenten, Jefferson und Lincoln.

Auch zu einem nationalen Feiertag hat es der beim Establishment einst verhassteste Bürgerrechtler gebracht. Auf Drängen des Musikers Stevie Wonder wird er seit 1986 an jedem dritten Januar-Montag zu Ehren des Friedensnobelpreisträgers von 1964 begangen. An anderen Verbeugungen fehlt es genauso wenig. Fast jede Stadt hat eine King-Straße oder - Schule. Manchmal geriet die Geste zum billigen Ersatz für unerfüllte Erwartungen aus »I have a dream«. Das »Time«-Magazin schrieb 1998: Dass die meisten der nach ihm benannten Straßen und Schulen in Schwarzen-Vierteln liegen, zeigt, wie sehr Kings Verdienste missverstanden werden: Noch immer sieht man in ihm nur den schwarzen Führer einer Schwarzen-Bewegung. Das wird ihm nicht gerecht. »Bei allem, was King tat, um Schwarze vom Joch der Rassentrennung zu befreien, die Weißen sollten ihm am dankbarsten sein, dass er sie von der Bürde von Amerikas jahrhundertealter Heuchelei in Rassenfragen befreite (…) Wären er sowie die Schwarzen und Weißen, die mit ihm gingen, gescheitert, wären große Teile der USA moralisch vom Südafrika der Apartheid nicht zu unterscheiden. Mit schlimmen Folgen für Amerikas internationalen Ruf. Wie hätte sich Amerika gegen den Iron Curtain (Eiserner Vorhang) stellen können, wenn ein ebenso unterdrückerischer Cotton Curtain (Baumwoll-Vorhang) über den Süden der USA gespannt geblieben wäre?«

Der bekannteste Satz in Kings Rede lautet: »Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages inmitten einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.« Hier ist vieles besser geworden, aber nicht gut. Selbst die Wahl des ersten nichtweißen Präsidenten erschwert – paradox – manche Fortschritte, etwa, weil Obama ängstlicher als mancher Amtsvorgänger darauf achtet, dem Vorwurf der Begünstigung seiner schwarzen Landsleute zu entgehen. Seine Wahlsiege sind die Erfolge eines langen Kampfes der Bürgerrechtsbewegung – und die Illusion eines Happy End.

Nicht nur blieb eine von Rassismus freie Gesellschaft aus. Vor allem der Kern von Kings Traum, dass die USA ein Land werden würden, wo jeder gleiche erzieherische, wirtschaftliche, kulturelle und politische Chancen hat, ist frommer Wunsch. Wo die Wohlstandskluft zwischen Weiß und Schwarz kleiner wurde, geschah dies, weil seit den 70er Jahren eine neue Armut zunehmend Weiße, besonders der Mittelschicht erfasst.

Klassische Hürden bestehen fort: Die Arbeitslosigkeit unter »Blacks« ist doppelt so hoch wie unter Weißen, letztere sind sechs Mal so vermögend wie erstere. Diskriminierung in der Haus- und Wohnungspolitik, bei Kreditvergaben oder Arbeitssuche herrscht weiter. Eine Studie der Brandeis University für 1984-2009 ermittelte, dass Afroamerikaner »doppelt so oft mit ungünstigen Immobilienhypotheken rechnen müssen wie Weiße ähnlicher Einkommenskategorie«.

Relativ neu ist, dass die »Negroes« 2013 nicht mehr nur schwarz sind, sondern alle Hautfarben haben können. Der 2010 verstorbene (weiße) Protestforscher Howard Zinn hatte kurz vor dem Tod auf die Frage nach den »Negern« von heute aufgezählt: »Die Immigranten, die Armen, Schwarze in New Orleans, Arbeiter, die ihre Jobs verloren haben, die 40 Millionen ohne Krankenversicherung«, aber angefügt: »Die Schwarzen werden nach wie vor am schlimmsten ausgebeutet. Sie haben den größten Anteil der Inhaftierten, die höchste Kindersterblichkeit, sie sind die Ärmsten und am meisten Vernachlässigten. Und sie haben keine starke politische Führung.«

Spätestens hier kommt King wieder in den Blick, ein kräftiger und selbstbewusster Führer. Im Jahr des »Marschs auf Washington« verband er die Forderung nach rassischer Gleichberechtigung stärker als zuvor mit der nach wirtschaftlicher Chancengleichheit, erlebte später aber auch, dass er mit seinem Schwur zur Gewaltlosigkeit unter vielen seiner radikalisierten schwarzen Landsleute Ansehen verlor.

Der schwarze Experte für Rassenfragen Shelby Steele beklagt den heutigen Führungsmangel und dass viele Afroamerikaner verzagt seien. Trotz des Sprungs in »Lebensqualität und Akzeptanz« seit Kings Rede wirkten hier 400 Jahre Unterdrückung fort. Die Probleme »haben mit den Verstörungen zu tun, die die einst Unterdrückten prägen. Wir müssen uns im wahrsten Sinne kulturell neu erfinden.«

Diese Auffassung teilt der Präsident. Er hat in seinem Arbeitszimmer im Weißen Haus das Programm des »Marschs auf Washington« eingerahmt und wird am Jahrestag der Rede an gleicher Stelle wie King sprechen, im Beisein seiner Amtsvorgänger Bill Clinton und Jimmy Carter. Zum Jubiläum der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP erklärte er: »Es liegt in eurer Hand.« Es gebe nach wie vor keine Chancengleichheit, doch am schlimmsten sei es, dass sich viele Schwarze als Bürger zweiter Klasse abgefunden und dies verinnerlicht hätten. »Wir brauchen eine neue Haltung.« Solche Position stößt bei vielen Blacks auf Widerspruch. King hätte sie begrüßt – und den Präsidenten aufgefordert, seinerseits Führungsstärke und Mut zu zeigen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 28. August 2013


Miese Noten für Obama von schwarzen Linken

Soziale Forderungen bleiben ausgeblendet

Von Max Böhnel, New York **


Der »March on Washington« hatte im Aufruf den Zusatz »for jobs and freedom« – aber die sozialen Forderungen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung bleiben heute undiskutiert. Selbst in der »Rassenfrage« erhält Barack Obama von schwarzen Linken schlechte Noten.

Präsident Barack Obama sei die Erfüllung von Martin Luther Kings Traum, sagten einige Redner unter großem Applaus von 100000 Menschen am Samstag in Washington. Zu den Versammelten sprachen unter anderem Regierungsmitglieder wie der schwarze Justizminister Eric Holder und die weiße Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Senat Nancy Pelosi. Gleichwohl wurden soziale Forderungen vorgetragen. Es gebe »noch viel zu tun«, ihr Tenor.

Barack Obama hatte tags zuvor ebenfalls daran erinnert. In einer Rede sagte er, Minderheiten hätten in den USA »enorme Fortschritte« gemacht. Aber selbst wenn jegliche Diskriminierung abgeschafft wäre, gäbe es nach wie vor eine Masse von armen Menschen »in zerrütteten Familien wegen des lang anhaltenden Erbes Armut«. Dass er am Mittwoch am Lincoln Memorial Konkreteres zu sagen hätte, schlossen Beobachter aus. Es wäre auf jeden Fall das erste Mal, dass Obama den Zusammenhang zwischen Rassismus und Armut anspräche. Genau dies aber entspräche dem Erbe Martin Luther Kings und seiner Rede.

Der Chefredakteur der linken afroamerikanischen Webseite www.blackagendareport.com, Glen Ford, kritisierte scharf, die Obama-Regierung begehe ein »Sakrileg«, wenn sie sich auch nur in die Nähe des Erbes von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung begebe. Er stellte rhetorische Fragen mit King-Zitaten: »Was würde Dr. King auf so einer Bühne heute sagen? Würde er die Obama-Regierung verdammen als den ›größten Gewaltverbrecher der Welt‹? Welche Akteure würde er verdammen für ihre ›Dreifachsünde‹ Militarismus, Rassismus und Materialismus? Und würde Dr. King heute überhaupt teilnehmen an einer symbolisch so wichtigen Veranstaltung mit dem Commander-in-Chief der USA als Ehrengast?«

Der linke Gewerkschafter Bill Fletcher, der am Washingtoner Institute for Policy Studies lehrt, erklärte, schon kurz nach dem Marsch vor 50 Jahren sei die wirtschaftliche Situation der Afroamerikaner von Washington »ausgeblendet« worden. Mitte der 70er Jahre habe die Krise katastrophale Ausmaße erreicht, die bis heute nachwirken. Die »Entkoppelung« der Forderung nach Bürgerrechten von der nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit sei leider gang und gäbe und finde sich sogar in Schulbüchern wieder.

Im nd-Gespräch am Rande einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York äußerte sich zu der Problematik der kalifornische Hiphop-Musiker und linke Aktivist Boots Riley. Die Hautfarbe und Herkunft des USA-Präsidenten spielten keine Rolle in der aktuellen Politik. Obama habe in der Gleichstellungspolitik so oder so nur zwei Möglichkeiten. Staatliche Programme, aus denen nur die Afroamerikaner Nutzen ziehen könnten, würden sofort zum Aufschrei von Weißen, zu Umfragetiefstwerten für den schwarzen Präsidenten und zu Übergriffen führen. Deshalb kämen sie für ihn nicht in Frage. Die eher durchsetzbare Reformvariante, Sozialprogramme zur Behebung der allgemeinen Armut, seien Obama nicht wichtig, meint Riley.

Das Hauptproblem macht der Aktivist, der zu den Hochzeiten der »Occupy«-Bewegung militante Hafenblockaden an der USA-Westküste mitorganisierte, in der Abwesenheit einer radikalen Bewegung aus. »Die müsste antirassistische und antikapitalistische Forderungen so laut auf die Straßen bringen, bis sie auch im Weißen Haus vernommen werden.«

Im amerikanischen Geschichtsunterricht heiße es bis heute, Martin Luther King sei es nur ums Wahlrecht gegangen, so Riley. »Das haben wir, die Schwarzen, mit der Bürgerrechtsbewegung erkämpft, und jetzt geht wählen« – darauf sei die Lehre für Millionen von USA-Schülern reduziert. Doch der Sänger will die jüngere Generation zu politischen Aktionen aufrütteln, um eine sozialrevolutionäre Bewegung aufzubauen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 28. August 2013

Hier geht es zur berühmten Rede von Martin Luther King (deutsch und englisch)

"Ich habe einen Traum" / "I have a dream"
Rede zum Marsch auf Washington am 28. August 1963 / The complete Address at March on Washington, 28 August 1963. Von Dr. Martin Luther King Jr.




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