Verhinderter Aufbruch
Am 28. August 1963 fand der »Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit« statt
Von Jürgen Heiser *
Die Demonstranten reisten am Mittwoch, dem 28. August 1963, in Sonderzügen, klimatisierten Bussen und gecharterten Flugzeugen an. Viele kamen auch in klapprigen Pickups oder per Anhalter. Schätzungsweise eine Viertelmillion Menschen, 80 Prozent davon Afroamerikaner, nahmen an dem Sternmarsch in der US-Hauptstadt Washington D.C. teil. Sie versammelten sich zu einer Massenkundgebung im Park der National Mall zwischen dem Lincoln Memorial und dem Washington Monument. Aufgerufen war zum »Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit«.
Das Datum selbst ruft heute auch in den USA kaum spontane Assoziationen hervor. Fügt man aber den Satz »I have a dream – Ich habe einen Traum« hinzu, wissen viele Zeitgenossen sofort, daß es um die Rede des afroamerikanischen Bürgerrechtlers Reverend Martin Luther King jr. geht. Seine mit biblischer Symbolik gespickte
Ansprache, in der er den zitierten Ausspruch mehrfach wiederholte (siehe jW-Wochenendbeilage), hielt er als Hauptredner an jenem Augusttag, der sich am kommenden Mittwoch zum 50. Mal jährt. US-Präsident Barack Obama will dann nach einem Gottesdienst im Rahmen einer großen Feier am selben Ort eine Rede zu Kings Ehren halten.
Schwarze Wut
1963 brach sich die Unzufriedenheit in der schwarzen Bevölkerung über die Fortdauer ihrer Benachteiligung und Unterdrückung unter dem alltäglichen und institutionellen Rassismus Bahn. Protest und Widerstand griffen um sich und führten zu Gewaltreaktionen unter weißen US-Amerikanern gegen friedliche Bürgerrechtler. Allein im Lauf eines Vierteljahres des Sommers 1963 fanden in rund zweihundert Städten an die tausend Demonstrationen statt.
Hier geht es zur berühmten Rede von Martin Luther King (deutsch und englisch)
"Ich habe einen Traum" / "I have a dream"
Rede zum Marsch auf Washington am 28. August 1963 / The complete Address at March on Washington, 28 August 1963. Von Dr. Martin Luther King Jr.
Die Medien stellten in ihrer Berichterstattung die »Big Six« heraus, die sechs größten schwarzen Bürgerrechtsorganisationen, darunter die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) mit ihrem Präsidenten Martin Luther King jr. Sie waren jedoch nur ein Teil dieser aufkeimenden Massenbewegung und hatten nicht wirklich die führende Rolle, die ihnen von der offiziellen bürgerlichen Historie zugeschrieben wird.
Ein wichtiger Zeitzeuge dazu ist El-Hajj Malik El-Shabazz alias Malcolm X. In seiner Autobiographie hatte der unerschrockene Kämpfer für die internationale Anerkennung der Menschenrechte für das schwarze Amerika Vorgeschichte und Verlauf des Marsches noch kritisch betrachtet (siehe unten), bevor er im Februar 1965 während einer Rede in New York erschossen wurde.
Die Idee, eine große Masse von Schwarzen sternförmig in Washingtons Zentrum hineinmarschieren zu lassen, stamme ursprünglich von Asa Philip Randolphs von der Gewerkschaft der Schlafwagenschaffner. Sie sei schon zwanzig Jahre lang unter Schwarzen kursiert, leitet Malcolm X seine eigenen Beobachtungen ein.
Durch den Aufschwung der Bürgerrechtsbewegung habe »diese Vorstellung spontan gegriffen«. Die Basis in den schwarzen Gemeinden habe sich »ein brüderliches Heer Tausender Schwarzer« vorgestellt. In einer mächtigen Aufbruchstimmung habe man gemeinsam von überall her nach Washington strömen wollen. Nicht Proklamation, sondern direkte Aktion sei das Ziel gewesen: Sitzblockaden auf Straßen, Rollbahnen der Flughäfen, Rasenflächen vor den Regierungsgebäuden, »um so vom Kongreß und vom Weißen Haus konkretes Handeln in Sachen Bürgerrechte zu fordern«. Vor allem unter jungen Afroamerikanern, zumeist »unorganisiert und führungslos«, habe große Verbitterung, aber auch Entschlossenheit und Militanzbereitschaft geherrscht. »Sie hatten es einfach satt, den Stiefel des weißen Mannes im Nacken zu spüren.« Grund genug für die weiße Elite, nervös zu werden bei der Vorstellung, Tausende zornige Schwarze zögen durch Washingtons Straßen. Ein Funke hätte gereicht, und die Stadt wäre in einem Aufstand explodiert.
Weiße Vereinnahmung
Malcolm X erlebte nun »ein Meisterstück dessen, wie die Bewegung der Schwarzen durch ›Integration‹ geschwächt werden kann«. Das Weiße Haus rief die führenden Köpfe der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu sich und forderte sie auf, den Marsch abzublasen. US-Präsident John F. Kennedy mußte sich jedoch sagen lassen, daß diese »Führer« gar nicht die Initiatoren waren, sondern der Marsch von ganz unten, von der Basis organisiert werde. Da habe man es mit einer Eigendynamik zu tun, die sich der Kontrolle der »Großen Sechs« entzöge. Der Versuch einer Demobilisierung könne ein Pulverfaß entzünden.
Das Weiße Haus vollzog daraufhin eine taktische Kehrtwende. Flankiert von einer Medienkampagne, verbreitete das Präsidialamt, es »genehmige, billige und begrüße« den Marsch. Parallel lancierte die New York Times einen hinter den Kulissen brodelnden Zwist unter den Bürgerrechtsorganisationen über ungleich verteilte Spendengelder. »Es war wie im Kino«, beschreibt Malcolm X das Ränkespiel. Kurz darauf wurden die »Großen Sechs« zu einem vertraulichen Gespräch mit dem Vorsitzenden einer großen New Yorker Wohltätigkeitsstiftung eingeladen. Eine erste Spende von 800000 US-Dollar floß, eine weitere wurde für einen Zeitpunkt nach dem Marsch in Aussicht gestellt.
Die Medien stellten nun die »Großen Sechs« als Anführer des »Marsches auf Washington« heraus. Das Weiße Haus lud vier bekannte Persönlichkeiten ein, sich am Marsch zu beteiligen – »ein Katholik, ein Jude, ein Protestant und ein Gewerkschaftsboß«, beschreibt Malcolm X den nächsten Schritt der Umfunktionierung der Massenaktion. Fortan redeten die Medien nur noch von den »Großen Zehn«, die »die Zielrichtung des Marsches bestimmen«. Weiße, die den Marsch zuvor beunruhigend fanden, verkündeten nun, es sei »demokratisch«, sich daran zu beteiligen. Wie eine »elektrische Initialzündung« habe das die schwarze Mittel- und Oberschicht erfaßt. Der Marsch der »zornigen Schwarzen«, so Malcolm X, hatte sich in etwas verwandelt, das man »schick« finden konnte wie einen Ausflug. Von der ursprünglichen »Flutwelle lange unterdrückter Wut« blieb ein »sanftes Wogen«, wie es eine britische Zeitung ausdrückte.
Nichts überließen die »Großen Zehn« dem Zufall: Eigene Transparente sollten zu Hause bleiben, einheitliche wurden gestellt. »We shall overcome« sollte die Einheitshymne sein. Wie, wann und wo man ankommen und welcher Route man folgen sollte, war festgelegt, und »frühzeitig« sollte man wieder abreisen. Sitzblockaden, Straßensperren, belagerte Regierungsgebäude? No go!
Vom »Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit« blieb nur die Legende. Und
Martin Luther Kings »Traum«? Der scheiterte an der Fortdauer der Apartheid in den USA. Der Völkermord in Vietnam und die Habgier des Kapitalismus radikalisierten den zuvor immer auf Ausgleich orientierten King in seinen letzten Lebensjahren. Seine Ermordung am 4. April 1968, nur drei Jahre nach Malcolm X, lag in der Logik des Systems. Heute, so Cornel West am 3. August 2013 in der jungen Welt, würde King selbst zu der vom Weißen Haus organisierten Feier zum 50. Jubiläum des »Marsches auf Washington« nicht mehr eingeladen werden, weil er dort öffentlich über Obamas Drohnenkrieg reden würde.
* Aus: junge Welt, Samstag, 24. August 2013
Quelle: »Eine gigantische Farce«
Ja, auch ich war dort. Ich habe mir diesen Zirkus angesehen. Wer hat jemals von zornigen Revolutionären gehört, die in trauter Harmonie »We shall overcome (…) so-o-o-me day (…)« singen, während sie genau mit den Leuten, gegen die sie angeblich revoltieren, Arm in Arm die Straßen entlanglatschen? Wer hat jemals von zornigen Revolutionären gehört, die gemeinsam mit ihren Unterdrückern im Park ihre nackten Füße in Seerosenteiche baumeln lassen und Gospelgesängen und Gitarrenmusik und Reden wie Kings »Ich habe einen Traum« lauschen? Während gleichzeitig die schwarzen Massen in Amerika in einem Alptraum leben?
Hollywood hätte diese Inszenierung nicht übertreffen können. Die Tatsache, daß Millionen Schwarze und Weiße an diese gigantische Farce glaubten, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr dieses Land dazu neigt, sich mit oberflächlichem Glanz, Ausflüchten und Äußerlichkeiten zufriedenzugeben, anstatt sich wirklich mit seinen tiefverwurzelten Problemen zu beschäftigen.
Dieser Marsch auf Washington erreichte tatsächlich nur, die Schwarzen für eine Weile einzuschläfern. Aber es war unausweichlich, daß es den schwarzen Massen früher oder später dämmern würde, einmal mehr vom weißen Mann zum Narren gehalten worden zu sein. Und genauso unausweichlich loderte der Zorn der Schwarzen erneut auf, heftiger als je zuvor. Im »langen, heißen Sommer« von 1964 brachen in verschiedenen Städten beispiellose Rassenkonflikte aus.
Aus: Alex Haley (Hg.): Malcolm X. Die Autobiographie. Bremen 2003, S. 306f.
Zurück zur USA-Seite
Zur Menschenrechts-Seite
Zurück zur Homepage