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Imperium vor der Klippe

Jahresrückblick 2012. Heute: USA. Anhaltende Krise und Protestbewegungen führen zu Hegemonieverlust

Von Rainer Rupp *

Die in den USA inzwischen »Große Rezession« genannte Krise hat den Hauptpfeiler der US-amerikanischen Macht bis in die Fundamente erschüttert. Insbesondere die Finanzkrise hat zu schweren und dauerhaften wirtschaftlichen Verwerfungen geführt, welche die Handlungsspielräume der Regierung von Präsident Barack Obama bereits stark eingeengt haben. Zugleich mehren sich die Signale, daß der Dollar auch in den nächsten Jahren immer mehr von seinem Status als Weltwährungsreserve verlieren wird. Damit aber ist der Anfang vom Ende der globalen US-Hegemonie eingeläutet. Denn ohne den Dollar als weltweit akzeptierte Reserve zahlt das Ausland nicht mehr für die Kriege der USA, und das Land wird sich nicht länger Kanonen und Butter gleichzeitig leisten können.

Wenn der Rest der Welt seine Dollar-Überschüsse nicht mehr als Reserve für schlechte Tage in US-Schatzbriefen (T-Bonds) anlegt, müssen sich die US-Amerikaner ihre Kriege vom eigenen Mund absparen und dafür mit weniger Konsum und Investitionen für die zivile Wirtschaft bezahlen. Die letztes Jahr überall in den USA aufgeflammten Sozialproteste zeigen, daß die große Masse der seit über 20 Jahren zunehmend schneller verarmenden Mittelschicht dies nicht widerstandslos hinnehmen wird.

Es ist vor allem die »Occupy«-Bewegung, die seit Herbst 2011 die Aufmerksamkeit der Welt auf die soziale Katastrophe lenkt, welche in den USA seit Beginn der Krise 2007 sichtbar geworden ist. Die Bewegung steht für die »99 Prozent« der Bevölkerung, die vor allem von dem »einen Prozent« ganz oben, von den superreichen Finanzclans in Banken, Konzernen und Regierung Rechenschaft verlangen. Vor allem empört die »Occupy«-Aktivisten die erschreckend tiefe Kluft, die sich im Land der einst unbegrenzten Möglichkeiten heute zwischen denen auftut, die mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen und jenen, die sie ausbeuten und sogar mit kriminellen Machenschaften betrügen, und dafür nicht einmal ins Gefängnis gehen, weil sie von ihresgleichen in Politik und Justiz geschützt werden.

Auch Kriegsgegner und Globalisierungskritiker haben 2012 an Boden gewonnen. Letztere wenden sich insbesondere gegen die seit zwei Jahrzehnten rapide fortschreitende Deindustrialisierung der USA durch die Verlagerung ganzer Produktionszweige vorrangig nach China. Das Versprechen, daß dadurch mehr besserbezahlte und höherwertige Jobs in den USA entstehen würden, hat sich nicht erfüllt – im Gegenteil. Empirische Studien haben zeigt, daß immer mehr gut ausgebildete US-Bürger im eigenen Land keinen adäquaten Job mehr finden und mit hohen Schulden aus ihrer Studienzeit in Billigjobs im Dienstleistungsgewerbe enden.

Die Ingenieursjobs werden zum größten Teil nach Indien ausgelagert oder mit jährlich 60000 in Asien angeworbenen Facharbeitern gefüllt. So gibt es Berichte von großen Konzernen, die neben ihren Produktionsstätten in den USA bis zu 3000 indische Ingenieure in Plattenbauten kaserniert haben. Diese arbeiten dort für Löhne, zu denen kein US-Ingenieur bereit wäre, den Rechenschieber in die Hand zu nehmen.

Die Arbeitslosigkeit liegt bis zu drei Mal höher als die offiziellen Zahlen zeigen, da die von den Behörden gezählten 7,7 Prozent auf einer engen Definition beruhen. Hinzu kommt zunehmende Hoffnungslosigkeit, weil auch fünf Jahre nach Beginn der Krise keine Besserung in Sicht ist. Dies hat, zusammen mit dem millionenfachen Transfer von Arbeitsplätzen nach Indien und China, die Wut großer Teile der Bevölkerung auf die globalisierten Konzerne und die in ihrem Dienst stehenden Politiker enorm verschärft. Seit 2001, als die Unterstützung der US-Bürger für ihre Politiker mit einer Zustimmung von über 80 Prozent für die Arbeit des Kongresses einen Rekordstand erreicht hatte, ist die Stimmung inzwischen in Ablehnung und Verachtung umgeschlagen.

Laut Gallup-Umfrage liegt die Zustimmung zum US-Kongreß in der Gesamtbevölkerung bei nur noch 13 Prozent. Neun Prozent der parteipolitisch ungebundenen Menschen, welche die große Mehrheit der Bevölkerung darstellen, unterstützen die Arbeit der Gesetzgeber. 84 bzw. 86 Prozent lehnen deren Arbeit ab. Eine derartige Delegitimierung des politischen Establishments eines Staates bleibt in der Regel nicht ohne destabilisierende gesellschaftspolitische Folgen.

Diese Spannungen werden durch den derzeitigen Haushaltsstreit weiter verschärft. Dabei geht es vor allem um die »Fiskalklippe«. Ab 1. Januar 2013 wird ein Paket von Steuersenkungen und Konjunkturstützungsausgaben in Höhe von 500 Milliarden Dollar gestrichen, wodurch das Bruttoinlandsprodukt um bis zu vier Prozent schrumpfen und die US-Wirtschaft in eine neue Rezession stürzen könnte. Um die »Fiskalklippe« zu umschiffen, wäre eine parteiübergreifende Vereinbarung notwendig. Kurz danach wäre eine weitere erforderlich, um die Verschuldungsgrenze für die Obama-Administration von derzeit knapp über 16 auf etwa 17 Billionen Dollar anzuheben.

Allerdings wäre auch eine solche Einigung nur eine vorübergehende Notlösung, denn die wirtschaftlichen und fiskalischen Ungleichgewichte würden weiter wachsen, wenn auch etwas langsamer. Aber der US-Kongreß, in dessen Unterhaus die Republikaner, im Oberhaus hingegen die Demokraten die Mehrheit haben, ist ideologisch derart polarisiert, daß er nicht einmal zu einer solchen Minimallösung fähig scheint. Insbesondere die Republikanische Partei zerreißt sich seit ihrer jüngsten Wahlniederlage. Jeder Vorschlag aus ihren Reihen für einen überparteilichen Kompromiß wird als Verrat an den parteipolitischen Interessen bekämpft.

Egal wie der Streit um die »Fiskalklippe« ausgeht, der Haushalt der Obabma-Administration – und damit auch die Ausgaben für Rüstung und Kriege – steht in Zukunft unter enormem Kürzungszwang. Dieser wird durch die Tatsache verstärkt, daß es zur Deckung der Haushaltsdefizite kaum noch Käufer für die US-Schatzbriefe gibt. Laut einer Meldung der Wirtschaftsagentur Bloomberg vom 3. Dezember muß die US-Notenbank immer öfter einspringen. Im laufenden Jahr hat sie 90 Prozent der vom US-Finanzministerium herausgegebenen T-Bonds im Gesamtwert von 1,2 Billionen Dollar mit frischem Geld aus der Notenpresse aufgekauft. Das wird von den traditionellen US-Geldgebern wie China als schleichende Entwertung des Dollars angesehen, weshalb Peking in diesem Jahr seinen Bestand an US-T-Bonds bereits um 150 Milliarden Dollar verringert hat.

Aber es gibt noch weitere Signale dafür, daß der Dollar dabei ist, seine Rolle als Währungsreserve zu verlieren. Im Rahmen regionaler Vereinbarungen wird er zunehmend durch nationale Währungen als Zahlungsmittel beim Warenaustausch ersetzt. Auch die Entscheidung einer steigenden Zahl internationaler Notenbanken, einen Teil ihrer Reserven in Gold anzulegen, ist ein schlechtes Omen für US-T-Bonds. Zugleich sind sich alle Prognosen einig, daß die traditionellen Überschüsse Japans und Chinas in den nächsten Jahren geringer und im Fall von Japan womöglich ganz verschwinden werden, wodurch die Nachfrage für US-Schatzbriefe massiv zurück gehen wird.

Nur die Obama-Administration und der US-Kongreß scheinen mit ihrer expansiven und aggressiven Außenpolitik – etwa in Afghanistan, Pakistan, Libyen, Jemen, Syrien, aber auch mit der gegen China gerichteten Aufrüstung in Asien – noch nicht bemerkt zu haben, daß ihr Land eigentlich bankrott ist und keinen gottgegebenen Anspruch darauf hat, daß der Rest der Welt seine Kriege und seine exzessiven Konsum finanziert. Diese Weigerung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, ist aus der Psychiatrie als kognitive Dissonanz bekannt. Es ist dieser krankhafte Zustand, der die US-Politiker daran glauben läßt, auch diese Krise mit Bravour meistern zu können. Das aber wird die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise nur noch verschärfen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 21. Dezember 2012


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