Washingtoner Schrumpftheater
Hintergrund. Barack Obamas jüngste Rede zur US-Militärstrategie erweist sich bei näherer Betrachtung als reine Propaganda. Statt der angekündigten Kürzung des Pentagon-Haushalts steht nun die Umrüstung der US-Streitkräfte für neue Kriege auf der Tagesordnung
Von Knut Mellenthin *
Falls man einem Hamburger Nachrichtenmagazin vertraut, will US-Präsident Barack Obama »Amerikas Militär schrumpfen« und ihm »ein hartes Sparprogramm verordnen«. Auch in diesem Fall erzählen die Kollegen vom Spiegel jedoch Unsinn. Und wieder einmal ist die Grenze zwischen mangelndem Sachverstand und bewußter Verbreitung von Unwahrheiten nicht eindeutig auszumachen.
Die 450 Milliarden Dollar, um die der Rüstungs- und Kriegsetat der Vereinigten Staaten angeblich im Verlauf der nächsten zehn Jahre gekürzt werden soll, sind eine reine Phantasiezahl. In Wirklichkeit ist beabsichtigt, die Ausgaben des Pentagon weiter kontinuierlich steigen zu lassen, nur etwas langsamer als bisher. Diesen Punkt hob Obama bei der Vorstellung seiner Pläne am Donnerstag ausdrücklich hervor. Wörtlich sagte er: »Ich denke, alle Amerikaner sollten sich daran erinnern, daß in den vergangenen zehn Jahren, seit dem 11. September, unsere Verteidigungsausgaben in einem außergewöhnlichen Tempo gestiegen sind. In den nächsten zehn Jahren wird das Verteidigungsbudget langsam wachsen, aber Tatsache ist: Es wird weiter wachsen, weil wir globale Verantwortungen haben, die unsere Führerschaft erfordern. Tatsächlich wird das Verteidigungsbudget weiterhin größer bleiben als es gegen Ende der Bush-Regierung war. Ich glaube fest daran, und ich denke, das amerikanische Volk versteht dies, daß wir unser Militär stark und unsere Nation sicher erhalten können mit einem Verteidigungshaushalt, der auch künftig größer sein wird als der der nächsten zehn Länder zusammengenommen.«
Vage ist jetzt die Rede davon, daß die USA weniger Soldaten als bisher benötigen werden. Konkrete Planzahlen liegen jedoch nicht vor. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Obama im Präsidentschaftswahlkampf 2007/2008 selbst eindringlich für eine Erhöhung der Personalzahl der US-Streitkräfte geworben hatte. Immer wieder betonte er damals die Bedeutung der Fähigkeit, »to put boots on the ground«, also Bodentruppen einzusetzen. Die Kriege in Afghanistan und im Irak hätten gezeigt, wie gefährlich es sei, die Zahl der erforderlichen Truppen für die gleichzeitige Kriegführung auf mehreren Schauplätzen zu unterschätzen. »Deshalb unterstütze ich ganz stark die Ausweitung unserer Bodentruppen durch zusätzliche 65000 Armeesoldaten und 27000 Marines«, erklärte Obama zum Beispiel am 23. April 2007 bei einer Wahlrede in Chicago.
Dieser Forderung, die eigentlich nur den Ankündigungen des amtierenden Präsidenten George W. Bush folgte, lag die reale Erfahrung zugrunde, daß die gleichzeitige Kriegführung auf zwei Schauplätzen, in Afghanistan und im Irak, die vorhandenen Personalkapazitäten in einem nicht dauerhaft erträglichen Ausmaß überstrapazierte.
Am Donnerstag (5. Jan.) vor der Presse sprach Obama allerdings wirklich davon, die »Sicherheit« der USA könne künftig »mit kleineren konventionellen Bodenkräften« gewährleistet werden. Zur Begründung sagte er: »Jetzt blättern wir die Seite eines Kriegsjahrzehnts um. Vor drei Jahren hatten wir im Irak und in Afghanistan etwa 180000 Soldaten. Heute haben wir diese Zahl auf die Hälfte reduziert. Und mit dem Fortschreiten des Übergangs in Afghanistan werden noch mehr von unseren Soldaten nach Hause kommen.«
Das ist jedoch unter mehreren Gesichtspunkten falsch. Erstens kommen schon jetzt viele Soldaten keineswegs »nach Hause«, sondern werden an anderen Standorten im Ausland, hauptsächlich in der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens und hier wiederum schwerpunktmäßig auf der arabischen Halbinsel und in den sie umgebenden Gewässern, stationiert. Zweitens ließ die Darstellung Obamas völlig den künftigen Truppenbedarf im durchaus nicht unwahrscheinlichen Fall eines Krieges gegen Iran außer acht. Der Name dieses Landes kam übrigens in seiner Ansprache nicht ein einziges Mal vor.
Dadurch klaffte in der Argumentation des Präsidenten unübersehbar eine riesige Lücke, die seine republikanischen Gegner weidlich ausnutzen werden. Sie werden ihm vermutlich auch seine eigenen Worte vorhalten: »Wir müssen uns an die Lehren der Geschichte erinnern. Wir können es uns nicht leisten, die Fehler zu wiederholen, die in der Vergangenheit begangen wurden – nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Vietnam – als unser Militär schlecht vorbereitet in die Zukunft entlassen wurde. Als Oberkommandierender werde ich nicht zulassen, daß das noch einmal passiert. Nicht in meiner Amtszeit.«
Konfrontation mit Islamabad
Über die Zukunft verlor Obama jedoch in seiner Ansprache am Donnerstag kein Wort. Er erwähnte nicht, daß ein militärischer Angriff auf den Iran, den sich der US-Präsident ständig als »Option« offen hält, völlig andere Folgen hätte als der Luftkrieg gegen Libyen. Bei diesem wurde aus sicherer Entfernung ein nicht zur Abwehr fähiger Gegner zusammengebombt und mit Raketen niedergeschossen, ohne daß eigene Verluste riskiert wurden. Im Gegensatz dazu würde ein Krieg gegen Iran nicht nur ein paar Monate, sondern eine nicht vorauszusagende Zahl von Jahren dauern. Die militärische Konfrontation würde sich vermutlich auf die gesamte Region einschließlich des Libanons, Israels und der arabischen Halbinsel, aber auch auf den Irak und Afghanistan ausdehnen. Die USA würden über kurz oder lang um den Einsatz einer großen Zahl von Bodentruppen nicht herumkommen. Tatsächlich sehen bekanntgewordene Pläne diesen zumindest zur weiträumigen Sicherung der Meerenge von Hormus schon bei Kriegsanfang vor.
Obama sprach in seiner Rede auch nicht vom »AfPak«-Kriegsschauplatz. Dabei hatte er diesen Begriff, der Pakistan mit Afghanistan zusammenfügt, selbst kreiert oder ihm zumindest zu seiner derzeitigen Bedeutung verholfen. In seiner Rede tat der Präsident so, als sei der Abzug der meisten US-Truppen aus Afghanistan bis 2014 oder 2015 bereits eine feststehende Tatsache. Das ist er jedoch in Wirklichkeit nicht, zumal wenn infolge eines militärischen Angriffs gegen Iran die gesamte Region in Mitleidenschaft gezogen würde. Ohnehin verfolgt die US-Regierung bisher eindeutig und offen die Absicht, in Afghanistan noch lange über 2015 hinaus militärisch mit Truppen und Stützpunkten präsent zu bleiben.
Ebenfalls unerwähnt blieb in Obamas Ansprache, daß er in den drei Jahren seiner Amtszeit die Beziehungen zu Pakistan, einstmals ein »strategischer Verbündeter« der USA und des Westens, auf den tiefsten Punkt in ihrer Geschichte gesteuert hat. Erreicht hat er das unter anderem, indem er die Frequenz der mörderischen Drohnenangriffe gegenüber seinem Vorgänger Bush auf das Vier- bis Fünffache steigern ließ. Zu Zwecken und Folgen dieser Operationen nimmt die US-Regierung grundsätzlich niemals Stellung. Die für diese Einsätze geltenden Regeln und Vorschriften werden geheimgehalten. Neben einfachen Stammeskriegern, von denen nicht einmal die Namen bekannt sind, wurden bei diesen Attacken auch Hunderte Frauen und Kinder getötet oder verletzt.
Seit am 26. November bei US-amerikanischen Luftangriffen gegen zwei pakistanische Stellungen an der Grenze zu Afghanistan 24 Soldaten getötet wurden, hat es keine weiteren Einsätze bewaffneter Drohnen gegen Pakistan mehr gegeben. Es gibt dazu jedoch keinerlei öffentliche Erklärung der US-Regierung und nichts spricht gegen die Annahme, daß die kriminellen Drohnen-Attacken jederzeit wieder aufgenommen werden könnten, sobald die Situation sich wieder »normalisiert« hätte. Vorerst allerdings liegen die Beziehungen zwischen Washington und Islamabad auf Eis, da Pakistan auf eine Entschuldigung für die Angriffe vom 26. November wartet, zu der Obama derzeit immer noch nicht bereit ist.
Unterdessen ist seit diesem Tag der durch Pakistan fließende Nachschub für den Krieg in Afghanistan gestoppt. Er machte bisher rund ein Drittel des Bedarfs der NATO-Besatzungstruppen aus. Ein weiteres Drittel kommt über die »Nordroute«, das heißt über Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Der Rest, hauptsächlich das sogenannte lethale Material, also Waffen und Munition, wird direkt nach Afghanistan eingeflogen.
Militärkosten als »Hilfe«
Ein Ausschuß des pakistanischen Parlaments hat dieser Tage seine Prüfung der Beziehungen zu den USA, insbesondere auch deren Grundlage in einer Reihe von bis jetzt geheim gehaltenen Verträgen und Vereinbarungen, sowie die Erarbeitung von Empfehlungen – 63 sollen es insgesamt sein – für deren künftige Gestaltung abgeschlossen. Diese sollen in den nächsten Tagen diskutiert werden. Presseberichten zufolge wurden diese Schlußfolgerungen im Konsens zwischen den wichtigsten Parteien des Landes beschlossen.
Unter anderem wird allgemein damit gerechnet, daß Pakistan die Beziehungen zu den USA und zur NATO künftig auf eine klare buchhalterische, abrechenbare Basis stellen will. Das heißt, daß der Westen dann für alle Dienstleistungen, vielleicht sogar einschließlich der militärischen Nutzung des pakistanischen Luftraums, bezahlen muß. Bisher werden entsprechende Finanzleistungen von den USA unverschämterweise als Teil der »Hilfe« für Pakistan deklariert, die folglich bei Gehorsamsverweigerung der Empfänger willkürlich zusammengestrichen werden können.
Viele Pakistanis, selbst in der politischen und militärischen Führung, sind ohnehin der Meinung, daß es für das Land sehr viel bekömmlicher wäre, auf die westliche »Hilfe« vollständig zu verzichten. Propagandistisch aufgeblähten Zahlen zufolge hat Pakistan seit 2001 mehr als 20 Milliarden Dollar von den USA »kassiert«. Tatsächlich aber hat das Land durch den ihm von den USA aufgenötigten Bürgerkrieg mindestens 60 Milliarden Dollar Kosten und Schäden gehabt. Die Bilanz ist also eindeutig negativ: per Saldo ein Verlust von mindestens 40 Milliarden Dollar oder mehr als 31 Milliarden Euro.
Die US-amerikanische Politik hat, freilich nicht ohne kräftige Unterstützung maßgeblicher einheimischer Kreise, aus Pakistan im vergangenen Jahrzehnt nahezu einen »failed state«, einen gescheiterten Staat, gemacht. So jedenfalls wird Pakistan in zahlreichen US-amerikanischen Veröffentlichungen beschrieben. Die Rede ist von einer stark anwachsenden Auslandsverschuldung, einer Wirtschaft am Rande des vollständigen Zusammenbruchs, 60 Prozent der Bevölkerung am Existenzminimum, einer Erwerbslosigkeit von 34 Prozent, ständigen massiven Problemen der Stromversorgung, Zerfall der staatlichen Strukturen und der Gefahr einer »Implosion« der Gesellschaft.
Falls es die Strategie des US-Imperialismus ist, in der Kette muslimischer Länder von Nordwestafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis Pakistan und Zentralasien immer neue »failed states« zu produzieren, die auf lange Zeit unregierbar und von der Auflösung in zerstrittene Teilstaaten bedroht sind, haben die Regierungen Bush und Obama bereits gute Arbeit geleistet. Die realen Ergebnisse in Afghanistan, im Irak, in Pakistan und Libyen, im Libanon, in Syrien und in Somalia deuten genau in diese Richtung.
Atommacht Pakistan
In Pakistan kommt aus US-amerikanischer Sicht hinzu, daß es das einzige muslimische Land ist, das Atomwaffen besitzt. Washington hatte das in den 1970er Jahren zunächst zu verhindern versucht, aber dann toleriert, nachdem Pakistan seit 1979/80 als Hinterland und Partner für die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetunion benötigt wurde. Israels Militär und Geheimdienste beschäftigten sich Anfang der 1980er Jahre damit, wie sie mit Hilfe Indiens die pakistanischen Atomanlagen zerstören könnten. Die indische Regierung unter Indira Gandhi war einer Zusammenarbeit anfangs nicht abgeneigt, stieg aber aus dem Unternehmen aus, als deutlich wurde, daß es den damaligen US-amerikanischen Interessen und Absichten widersprach. Damit waren die israelischen Angriffspläne für lange Zeit vom Tisch, denn zu ihrer Durchführung wäre wegen der großen Entfernung die Benutzung indischer Flughäfen und Stützpunkte erforderlich gewesen.
Die Frage, wie man – gerade vor dem Hintergrund einer gezielt vorangetriebenen oder zumindest in Kauf genommenen Destabilisierung Pakistans – dessen Atomwaffen ausschalten könnte, beschäftigt jedoch zunehmend die Planer im Pentagon und bei der CIA. Die genaue Zahl dieser Waffen, die mit Flugzeugen oder Raketen transportiert werden könnten, ist nicht bekannt. In einer Analyse des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses, die im Oktober 2011 veröffentlicht wurde, wird sie auf 90 bis 110 geschätzt. Pakistan arbeitet in einem Rüstungswettlauf mit Indien daran, nicht nur sein Arsenal zu vergrößern, sondern auch dessen theoretische Einsetzbarkeit zu erhöhen, indem es zusätzlich sogenannte taktische Nuklearwaffen produziert. All das macht Pakistan, jedenfalls wenn man die offizielle US-amerikanische und israelische Argumentation ernst nimmt, zu einer weitaus größeren Gefahr als Iran.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Obama bei einer Pressekonferenz im April 2009 unmißverständlich mit einer Doktrin der »beschränkten Souveränität« drohte. Er sagte nämlich, nachdem er das pakistanische Atomwaffenarsenal als derzeit »sicher« bezeichnet hatte: »Wir wollen ihre Souveränität respektieren. Aber wir erkennen zugleich, daß wir riesige strategische Interessen, riesige Interessen unserer nationalen Sicherheit daran haben, daß Pakistan stabil bleibt und daß wir es nicht am Ende mit einem atomar bewaffneten militanten Staat zu tun haben.«
Mindestens ebenso wie für den Iran gilt aber auch für Pakistan, daß man sich realistischerweise einen Angriff auf seine Atomanlagen nicht als Luftkrieg oder Kommandounternehmen von ein paar Tagen vorstellen darf. Um nachhaltige Ergebnisse zu erreichen und zu sichern, müßten die USA gegen Pakistan Bodentruppen einsetzen und, soweit wie möglich im Bündnis mit einheimischen Kollaborateuren, ein mehrjähriges Besatzungsregime errichten. Was das in einem Land mit rund 180 Millionen Einwohnern – mehr als Iran, Irak und Afghanistan zusammengenommen – bedeuten würde, liegt auf der Hand.
Auch darüber sprach Obama am 5. Januar 2012 nicht. Nun war das freilich eine außergewöhnlich kurze Rede. Sie diente im wesentlichen dazu, ein achtseitiges Strategiepapier des Pentagon vorzustellen. Dieses trägt den Titel »Sustaining U.S. Global Leadership. Priorities for 21st Century Defense«, also ungefähr: »Aufrechterhaltung der globalen Führungsrolle der USA. Prioritäten für die Verteidigungspolitik im 21. Jahrhundert«. Aber dieses Papier leistet in Wirklichkeit kaum mehr als die Ansprache des Präsidenten. Iran zum Beispiel kommt darin nur in einem Halbsatz vor, in dem die Absicht kundgetan wird, »zu verhindern, daß Iran eine Atomwaffenfähigkeit entwickelt, und seiner destabilisierenden Politik entgegenzutreten«. Über die damit verbundenen Konsequenzen für Personalanforderungen und Ausgaben steht in dem Papier kein Wort. Afghanistan wird, ebenso wie Irak, lediglich ganz kurz in dem Sinne erwähnt, daß der Interventionskrieg dort kurz vor dem Ende stehe.
Eine klare, allerdings auch nicht näher konkretisierte Aussage des Pentagon-Papiers ist, daß sich die USA auf militärische Konfrontationen mit China vorbereiten. Dazu heißt es dort: »Auf lange Sicht enthält Chinas Aufstieg zu einer Regionalmacht das Potential, die US-Wirtschaft und unsere Sicherheit in mehrfacher Hinsicht zu beeinflussen. (…) Die Vereinigten Staaten werden auch weiterhin die erforderlichen Investitionen vornehmen, um sicherzustellen, daß wir den Zugang zur Region und die Fähigkeit zum freien Operieren im Rahmen unserer vertraglichen Verpflichtungen und des internationalen Rechts behalten.« – Gemeint ist damit vor allem der Anspruch der USA, in den Gewässern rund um China militärische Präsenz zu demonstrieren.
Die Einkreisungsstrategie gegen China wird im Pentagon-Papier mit den Worten beschrieben: »Die wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen der USA sind unlösbar verbunden mit den Entwicklungen im Bogen, der sich vom westlichen Pazifik und Ostasien bis in den Indischen Ozean und Südasien spannt, was eine Mischung von sich entwickelnden Herausforderungen und Chancen schafft. (…) Wir betonen unsere bestehenden Bündnisse, die eine existentielle Grundlage für die Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum darstellen. Wir werden unsere Kooperationsnetzwerke mit Partnern in diesem gesamten Raum ausweiten, um die kollektive Fähigkeit und Kapazität für die Sicherstellung gemeinsamer Interessen zu gewährleisten.« – Auch hier fehlen jedoch Hinweise auf die praktischen Konsequenzen dieser strategischen Zielstellung für die militärischen Anforderungen und Ausgaben.
Krieg ohne Grenzen
Ebenfalls nur ganz kurz wird die Möglichkeit der Schaffung neuer Schauplätze im weltweiten »Krieg gegen den Terror« angedeutet: »Während wir die US-Streitkräfte in Afghanistan herunterfahren, werden sich unsere Anstrengungen zur Terrorismusbekämpfung auf einen weiteren Raum verteilen und von einer Mischung aus direkter Aktion und Unterstützung (ausländischer) Sicherheitskräfte gekennzeichnet sein.« Ausdrücklich genannt als Länder, in denen »Al-Qaida und ihre Ableger« immer noch aktiv seien, werden im Pentagon-Papier Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia. Mit den Worten »und anderswo« wird angedeutet, daß es selbst damit noch nicht sein Bewenden haben soll. Die »vorrangigen Schauplätze dieser Bedrohungen« seien Südasien – das umfaßt neben Pakistan auch Indien – und der Nahe/Mittlere Osten.
Nimmt man alle diese Punkte zusammen – die Ausweitung des »Kriegs gegen den Terror«, die möglicherweise schon in naher Zukunft zu realisierende »Option« einer Kriegseröffnung gegen Iran, die unvermindert fortbestehenden Probleme auf dem »AfPak-Schauplatz« und schließlich der langfristig gemeinte militärische Aufbau gegen China –, so ist absolut eindeutig, daß die »Herausforderungen« an die US-amerikanischen Streitkräfte künftig nicht etwa geringer, sondern noch sehr viel umfangreicher sein werden als gegenwärtig. Wenn Verteidigungsminister Leon Panetta im Vorwort zum Pentagon-Papier behauptet, die geplante Expansion der militärischen Aufgaben sei mit »kleineren und schlankeren« Streitkräften als bisher zu verwirklichen, ist das allenfalls Unsinn, wahrscheinlicher aber nur eine Propagandalüge.
Das Schrumpftheater dürfte indessen seine politischen Zwecke verfehlen, da die inneren Widersprüche der Argumentation allzu offensichtlich sind. Obamas republikanische und neokonservative Gegner werden die angekündigten Scheinkürzungen am Pentagon-Haushalt und an der Personalzahl der Streitkräfte ausnutzen, um dem Präsidenten vorzuhalten, er setze die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Soldaten aufs Spiel. Sie werden es dabei leicht haben, denn sie brauchen sich nur auf die von Obama selbst ausgemalten angeblichen Bedrohungen – Iran, Terrorismus, China – zu stützen.
* Aus: junge Welt, 7. Januar 2012
Weitere Pressestimmen zur neuen Verteidigungsstrategie der USA
Unter dem Titel "Obamas Diät" nimmt Olaf Standke im "neuen deutschland" die US-Strategie auf's Korn:
Wirtschaftskrise, Schuldenberg, zwei fiskalisch desaströse Kriege: Die neue »Verteidigungsstrategie« der USA ist auch durch die Kassenlage definiert. 450 Milliarden Dollar soll das Militär einsparen - gestreckt auf die nächsten zehn Jahre. So werden die Vereinigten Staaten auch mit Obamas Diät künftig mehr für ihre Streitkräfte ausgeben als die meisten anderen Staaten zusammen. Oder um den Präsidenten zu zitieren: »Wir werden schlanker, bleiben aber überlegen.«
Das neue Strategiepapier modifiziert Prioritäten, wenn es etwa die geostrategischen Interessen noch stärker auf die asiatisch-pazifische Region ausrichtet. Eine Änderung des Führungsanspruchs der USA und der Rolle des Militärs bei seiner Durchsetzung ist es nicht. Geplante Truppenreduzierungen zum Beispiel will man durch die Konzentration auf Eliteeinheiten und modernisierte Waffensysteme kompensieren, wofür sich allerdings nicht alle von der mächtigen Rüstungslobby einst angeschobenen Projekte eignen. Meist aber wird die Einführung neuer U-Boote oder Kampfflugzeuge einfach nach hinten verschoben. Und während für künftige Bedrohungsszenarien ohnehin untaugliche Atombomben aus den Arsenalen entfernt werden, arbeitet man längst an einer neuen Generation nuklearer Massenvernichtungswaffen. Hier wird bei allen Klagen und Warnungen des Pentagons oder der Republikaner weniger ab- als vielmehr umgerüstet. »Wir werden immer in der Lage sein, mehr als eine Sache zu tun«, beruhigte Generalstabschef Martin Dempsey denn auch alle, die Sorge haben, die USA könnten künftig wirklich nur noch einen Krieg führen.
Im selben Blatt vermutet Andreas Landwehr (dpa), die USA würden ihr Hauptaugenmerk auf den asiatisch-pazifischen Raum richten und daher vor allem China "ins Visier" nehmen:
(...) Militärexperten sind davon überzeugt, dass Chinas Volksbefreiungsarmee die US-amerikanische Pazifik-Flotte heute viel leichter aus ihren Küstengewässern verdrängen, ihren Aktionsradius empfindlich stören und insgesamt leichter auf Armlänge halten könnte.
Die USA zielten mit ihrer neuen Strategie auch auf diese verbesserten Fähigkeiten Chinas, den amerikanischen Streitkräften durch Störmanöver den Zugang in verschiedenen Regionen zu verwehren, stellte die »Global Times« fest. Darauf müsse China antworten, sein militärisches Können noch weiter verbessern und seine Abschreckung ausbauen. »Die USA müssen begreifen, dass sie den Aufstieg Chinas nicht stoppen können und dass es in ihrem größten Interesse ist, sich China gegenüber freundlich zu verhalten«, schrieb das Blatt. (...)
In der Deutschen Welle kommentiert Christina Bergmann, Washington, die neue Strategie voller transatlantischer Zuversicht:
Dass die Amerikaner ihre Truppenpräsenz in Europa weiter verringern wollen und ihr Augenmerk auf den asiatisch-pazifischen Raum lenken, ist kein Zeichen der Vernachlässigung, als die die Europäer die veränderte Ausrichtung der Amerikaner in letzter Zeit so oft bejammert haben. Es ist vielmehr ein Vertrauensbeweis, der sich in der neuen Strategie in dem Satz ausdrückt, der sinngemäß heißt: "Die meisten europäischen Länder sind nun selbst Garanten von Sicherheit, statt nur Nutznießer zu sein." In den Augen der Amerikaner ist Europa erwachsen geworden und kann nicht nur auf sich selbst sondern auch noch auf andere aufpassen. Es kann und muss mehr Verantwortung übernehmen. Darauf verlassen sich die Amerikaner jetzt.
(...) Allen finanziellen Kürzungen zum Trotz bleiben die USA die größte Militärmacht der Welt. Und Europa ihr "erster Partner in dem Bestreben nach globaler und wirtschaftlicher Sicherheit". Und das, so heißt es in dem Strategiepapier weiter, "wird auf absehbare Zeit so bleiben". Europa kann mit der neuen Verteidigungsstrategie der USA sehr zufrieden sein.
Im Hamburger Abendblatt meint Ansgar Graw:
Die letzte Supermacht ist mit ihrer traditionellen Kriegsführung bei den Versuchen gescheitert, im Irak eine stabile Ordnung zu errichten und in Afghanistan die Fundamentalisten dauerhaft in die Defensive zu drängen. Schon vor 2001 hatte der damalige Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld eine Neuausrichtung der Verteidigungsstrategie angekündigt, die Obamas Plan ähnelt.
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