No, we can't
Jahresrückblick 2009. Heute: USA. Jahrhundertprojekt Gesundheitsreform in der Klemme. Steigende Arbeitslosigkeit. Obamas ernüchternde innenpolitische Bilanzen
Von Philipp Schläger, New York *
Hope, Progress, Change - Hoffnung, Fortschritt und Wechsel. Unter diesen
Schlagworten entscheidet Barack Obama den Präsidentschaftswahlkampf 2008
für sich. Nach Jahren des Bush-Regimes ersehnen viele Amerikaner eine
Kehrtwende. Eine Abkehr von den Lügen und Manipulationen der
Bush-Administration, den Abzug der Truppen aus dem Irak, die Schließung
des Gefangenenlagers auf dem US-Stützpunkt Guantánamo in Kuba, das Ende
von Krieg, Folter und Geheimgefängnissen.
Business as usual
Das Thema, das Obama in der Schlußphase des Wahlkampfs den Sieg sichert
und das erste Jahr seiner Amtsperiode beherrscht, ist allerdings die
Wirtschaft. Und mit der größten Krise seit der Großen Depression rückt
ein weiteres innenpolitisches Thema auf einen der obersten Plätze der
Regierungsagenda: das marode Gesundheitssystem, zu dem Millionen
Menschen keinen Zugang haben, das Tausende Familien in den Ruin treibt
und gleichzeitig den privaten Versicherungskonzernen Millionenprofite
beschert. Keine leichte Aufgabe für den 44. Präsidenten der Vereinigten
Staaten.
Dagegen muten seine ersten Fehltritte bei der Besetzung der
Ministerposten harmlos an. Der Kandidat für das Wirtschaftsministerium,
Bill Richardson, muß wegen dubioser Beraterverträge abtreten. Sein
designierter Nachfolger, der Republikaner Judd Gregg, überlegt es sich
anders und tritt ebenfalls ab. Und der Demokrat Tom Daschle schafft es
wegen Steuerschulden nicht an die Spitze des Gesundheitsressorts. »Ich
hab's vermasselt«, bekennt Obama ehrlich und erntet Applaus für den
ungewohnt offenen Stil. Schon bald geht es aber um mehr als um
Stilfragen. Das internationale Kreditsystem steht vor dem Zusammenbruch
und droht, die Wirtschaft mitzureißen. Obama sagt der Krise den Kampf
an. Nach wochenlangen Diskussionen und dem Versuch, die Republikaner
einzubinden, beschließen die Demokraten schließlich im Februar ein
gigantisches Konjunkturpaket in Höhe von 790 Milliarden Dollar. Nur drei
Republikaner stimmen im Senat für das Gesetz, im Repräsentantenhaus ist
es kein einziger. An mehrere Wall-Street-Banken gehen Milliardensummen.
Bald schon heißt es dort wieder »business as usual«. Das gleiche gilt
für Millionen-Boni, die das Vorkrisenniveau erreichen. Gleichzeitig
steigt die Staatsverschuldung, und die Arbeitslosenquote wächst auf über
zehn Prozent. Anfang Dezember 2008 kündigt Obama ein neues
Milliardenprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit an. Auch einen
Gesetzentwurf für eine Gesundheitsreform, die er als sein wichtigstes
innenpolitisches Projekt bezeichnet, fordert er noch vor der
Sommerpause. Rund 46 Millionen Menschen in den USA sind gar nicht,
Millionen mehr sind unterversichert.
Doch die Diskussionen gestalten sich schwieriger als erhofft. Um jeden
Reformversuch zu verhindern, verstärken Versicherungskonzerne ihre
Lobbyarbeit in Washington und geben ab Mitte des Jahres dafür täglich
mindestens 1,5 Millionen Dollar aus. Im Sommer erreicht der
Propagandakrieg auch auf der Straße einen Höhepunkt. Rechte
Organisationen machen gezielt Stimmung gegen die Reform. Ihre Anhänger
stören Versammlungen, vergleichen Obama auf landesweiten Kundgebungen
mit Hitler und das Reformprojekt mit dem Holocaust, während das
politische Washington eine Sommerpause einlegt.
Im Herbst gewinnt Obama mit einer großangelegten PR-Offensive in den
Medien einigen Boden zurück, und die Öffentlichkeit verfolgt gespannt,
wie der einflußreiche Finanzausschuß des Senats einen Entwurf mit
Unterstützung einer republikanischen Senatorin verabschiedet -
allerdings ohne eine staatliche Krankenversicherung (»public option«).
Eine staatliche Versicherung gibt es derzeit nur für Rentner
(»Medicare«) und Arme (»Medicaid«).Mit dem Ausschußentwurf scheint
dennoch eine erste wichtige Hürde genommen. Im November verabschiedet
zudem die demokratische Mehrheitsfraktion im Repräsentantenhaus, der
zweiten Kammer im Kongreß, einen ersten Gesetzentwurf zur Reform des
Gesundheitswesens. Neben 176 Republikanern stimmen auch 36 demokratische
Abgeordnete vom zentristischen Flügel der Demokraten gegen den Entwurf.
Einer der Kernpunkte ist die »public option«, die als Alternative zu den
privaten Versicherern für bessere Versorgung und niedrigere Preise
sorgen soll. Der Entwurf sieht zudem eine allgemeine
Versicherungspflicht vor, die mit Strafandrohungen und staatlichen
Subventionen durchgesetzt werden soll.
Absturz in Umfragen
Präsident Obama lobt die Abstimmung als »historisch«. Er gehe davon aus,
daß auch der Senat ein ähnliches Reformpaket schnüren werde. Nach dem
dann anstehenden Vermittlungsverfahren könne bis Ende des Jahres ein
unterschriftsreifes Gesetz vorliegen, sagt Obama.
Anders als im Repräsentantenhaus reicht allerdings im Senat eine
einfache Mehrheit nicht, um den Entwurf in das Vermittlungsverfahren zu
befördern. Vielmehr müßten die Demokraten hier 60 der 100 Senatoren auf
ihre Seite bringen, um den Abschluß der Debatte zu erreichen und einen
Gesetzentwurf gegen den Widerstand der Republikaner zu verabschieden.
Dabei sind sie auch auf die Stimmen von unabhängigen Senatoren
angewiesen, die gewöhnlich mit den Demokraten stimmen. Verhandlungen
führen zur Eliminierung der »public option« im Entwurf des Senats.
Schließlich stellt sich Joseph Lieberman, der unabhängige Senator aus
Connecticut, gegen einen weiteren Vorschlag, der die Linke mit dem
Reformpaket versöhnen sollte und den Lieberman noch vor einiger Zeit
selber unterstützte: Die Ausweitung von »Medicare« auf Menschen ab 55.
Mit Streichung dieser Kernelemente erwägen nun zahlreiche progressive
Demokraten, das Projekt in dieser Form nicht mehr zu unterstützen. Sie
sehen darin eine Verschlechterung des maroden Gesundheitssystems.
Millionen Menschen würden den Versicherungen zwangsweise zugeführt, was
nichts anderes als ein riesiges Subventionsprogramm für die
Versicherungskonzerne sei, argumentieren sie. Obwohl Versicherungen auch
nach dem Senatsentwurf niemanden wegen einer bestimmten
Krankheitsgeschichte ablehnen dürfen, könnten sie den Beitrag um ein
Vielfaches erhöhen.
Letzte Meldung
Senat machte Weg für eine Verabschiedung noch vor Weihnachten frei
Der US-Senat hat mit einer Abstimmung den Weg für eine Verabschiedung
der Gesundheitsreform noch vor Weihnachten frei gemacht. Am 21. Dez.
stimmten 60 der 100 Senatoren dafür, die Debatten über das
Reformvorhaben abzuschließen, um endgültig über die Verabschiedung des
Gesetzes abzustimmen. Damit wurde deutlich, dass Mehrheitsführer Harry
Reid genügend Stimmen für die Reform zusammenbekommen hat. Im Senat
verfügen die Demokraten von US-Präsident Barack Obama über 58 Sitze,
zudem sind 40 Republikaner und zwei Unabhängige in der Parlamentskammer
vertreten. Zwei Senatoren aus dem Nicht-Regierungslager konnten also
offenbar für das Reformvorhaben gewonnen werden. An diesem Dienstag und
Mittwoch sollten zwei weitere Senatsabstimmungen folgen. Die
Schlussabstimmung über die Reform könnte dann am 24. Dez. kommen.
Die notwendige Mehrheit von 60 Stimmen zeichnete sich ab, nachdem ein
weitgehendes Verbot der Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen
durch den Staat in den Gesetzesentwurf aufgenommen worden war.
Quelle: Agenturen, ND, 21./22. Dez. 2009
Mit dem Widerstand von links droht den Demokraten nun eine erste große
Niederlage, die sich auch auf die Kongreßwahlen im kommenden Jahr
auswirken könnte. Und Obama schweigt. Seine Anhänger sind zunehmend
frustriert über die Amtsführung des Präsidenten, der sich viel vornimmt
und wenig erreicht. Nach einer jüngsten Umfrage von NBC und dem Wall
Street Journal ist eine solide Mehrheit beispielsweise für die »public
option« und die Ausweitung von »Medicare«. Die Beliebtheit Obamas ist
nach der Umfrage dagegen im Dezember 2009 auf einen neuen Tiefstand
gefallen. Während kurz nach Amtsantritt nahezu 70 Prozent der Amerikaner
mit seiner Arbeit zufrieden waren, sind es im Dezember gerade noch 47
Prozent. Hoffnung, Fortschritt und Wechsel sehen anders aus.
* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2009
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