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Zeitenwende im Westen

USA bieten unbegrenzte Möglichkeiten – für ein Prozent der Bevölkerung. Immer krassere soziale Gegensätze zerstören altes Selbstverständnis

Von Rainer Rupp *

In den Vereinigten Staaten scheint sich ein Paradigmenwechsel anzubahnen. Der Mythos, daß jeder selbst für sein Glück verantwortlich ist, gilt seit Generationen als Konsens. Die Medien, inklusive der »Kulturfabriken« à la Hollywood, haben diesen Irrglauben maßgeblich gefördert. Und er schien Realität.

Der US-Kapitalismus bescherte seinen Arbeitern insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg den mit Abstand höchsten Lebensstandard der Welt. Das verstärkte die Strahlkraft des »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten«. Doch die einstige Wohlstandsproduktionsmaschine ist längst ins Stottern gekommen. Infolge der von Washington ausgegangenen neoliberalen Globalisierung wurden millionenfach früher gut bezahlte Arbeitsplätze in die sogenannte Dritte Welt verlagert. Das führte zu steigenden Profiten auf seiten des Kapitals, die Arbeiter mußten in den letzten drei Jahrzehnten zuerst eine Stagnation und dann eine sich beschleunigende Schrumpfung der Reallöhne hinnehmen.

Bis vor kurzem habe es die Bürger nie besonders berührt, »daß die Kluft zwischen Arm und Reich in den USA viel größer war als in anderen entwickelten Ländern«, schrieb jüngst die New York Times. Aber inzwischen habe sich etwas fundamental verändert. Selbst US-Präsident Obama habe in einer Rede in Osawatomie/Kansas im Dezember 2011 unterstrichen, daß es »weniger Möglichkeiten« gebe und daß die bisher wohlhabende »US-Mittelschicht geschrumpft« sei – was bedeutet, daß viele »Ehemalige« in prekäre Arbeitsverhältnisse oder in Arbeitslosigkeit und Armut gedrängt worden sind. Davon betroffen sind mittlerweile zwei Drittel der US-Bevölkerung.

Vor allem die Occupy-Bewegung hat die noch schneller als bisher wachsende Kluft zwischen den Superreichen und den einfachen Arbeitern/Angestellten angeprangert. Nun horcht auch die Politik auf. Das Thema ist im Wahlkampf von Obamas Demokratischer Partei zu einer wichtigen Waffe geworden. Dabei geht es den Strategen weniger um die Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeiten als vielmehr um die Warnung vor den politischen Gefahren dieser Entwicklung für das Überleben der derzeitigen Spielart des US-Kapitalismus. Die New York Times titelte: »Die Ungleichheit untergräbt die Demokratie.«

Laut Umfragen hat sich bei einer Mehrheit tatsächlich ein Umdenken vollzogen. 1952 glaubten noch 87 Prozent, daß jeder genügend Möglichkeiten hat, sein Glück (Vermögen) zu machen. Das Thema Umverteilung wurde gar nicht erst erwähnt. Im November 2011 meinten Gallup zufolge schon 17 Prozent der US-Amerikaner, es sei extrem wichtig, daß die Regierung die krassen Ungleichheiten in Einkommen und Vermögen verringert. 29 Prozent der Befragten erwarteten von Washington den Einsatz für mehr Chancengleichheit. 41 Prozent beklagten sogar, daß es im Land kaum noch Möglichkeiten gebe, sich Wohlstand zu erarbeiten. 1998 waren erst 17 Prozent dieser Meinung.

Inzwischen sind neue Untersuchungen veröffentlicht worden. Von 1993 bis 2010 wuchsen die Einkommen der Reichsten um 58 Prozent, während 99 Prozent der US-Amerikaner einen statistischen Nettozugewinn von 6,4 Prozent verzeichneten. Und auch von diesem Zuwachs profitierte lediglich einer von zehn Menschen – der Rest mußte Abstriche hinnehmen. Dies wird besonders in einem am 25. März in der New York Times veröffentlichten Artikel über eine Studie auf der Basis von Steuerdaten deutlich.

Demnach wurde der Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes, der sich 2010 auf 288 Milliarden Dollar belief, wie folgt verteilt: 93 Prozent, also 286 Milliarden Dollar gingen an ein Prozent der Steuerzahler. 37 Prozent davon (106 Milliarden) sackte das reichste Promille ein, etwa 15000 Leute mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen (nicht Vermögen) von 23,8 Millionen Dollar. Deren »Verdienst« stieg demnach 2010 pro Kopf um sieben Millionen Dollar. Die Masse der 317 Millionen US-Amerikaner aber verlor sogar Realeinkommen. Laut Studie schrumpfte dies für gelernte Arbeiter ohne Abitur in den letzten 32 Jahren um 25,7 Prozent, während die Gehälter für Menschen mit Universitätsabschluß im gleichen Zeitraum um nur 15,7 Prozent gestiegen sind – was eine reale Einkommensverbesserung von 0,5 Prozent pro Jahr ausmacht und somit weit unter der im Durchschnitt um zwei bis drei Prozent steigenden Arbeitsproduktivität liegt.

Einige Superreiche wie Warren Buffet, die eine soziale Explosion in den USA befürchten, fordern daher ihre »Kollegen« auf, freiwillig höhere Steuern zu zahlen. Damit soll der Staat entlastet und das vorhandene soziale Netz erhalten werden. Genau das aber wollen die Republikaner, angefeuert und bezahlt von einer Riege erzkonservativer superreicher Konzerchefs, nicht. Der renommierte US-Trendforscher Gerald Celente prophezeit inzwischen für die USA noch in diesem Jahrzehnt bürgerkriegsartige Zustände.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. April 2012


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