Der gefesselte Riese
Barack Obama, ein Jahr nach der Wahl
Von Lotta Suter *
«Yes we can», skandierte die Welt angesichts der Wahl des ersten
schwarzen Präsidenten der USA. Aber was hat er, was haben wir
tatsächlich geschafft?
«Es kommt selten vor, dass eine einzelne Person es in dem Masse wie
Barack Obama schafft, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen und
den Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben.» Mit diesen
Worten begründete die norwegische Jury die Verleihung des
Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten. Vor einem Jahr wurde der
charismatische Hoffnungsträger von den US-AmerikanerInnen glanzvoll
gewählt und von der ganzen Welt bejubelt, weil die USA und die Welt
angesichts von Klimawandel, Wirtschaftskrise und Krieg im Nahen Osten
dringend etwas Hoffnung brauchten. Heute steht fest: Barack Obama als
Hoffnungsträger war mehrheitsfähig. Die Erfüllung der Hoffnungen ist es
nicht.
Enttäuschte Obama-Fans mögen immerhin bedenken: Es ist für die USA des
21. Jahrhunderts wichtig, dass der neueste Präsident nicht (wieder)
weiss und weisshaarig ist, sondern schon in seiner Person die
multikulturelle und verhältnismässig junge Nation repräsentiert.
Ausserdem hat die Obama-Wahl mehrere Millionen neue Wählerinnen und
Wähler zu mobilisieren vermocht. Auch bleibt bedeutsam, dass im Herbst
2008 - zu Beginn der schweren Wirtschaftskrise - die Hoffnung über die
Angst gesiegt hat. Denn die Furcht vor tatsächlichen und vermeintlichen
Bedrohungen, die «dunkle Seite der Macht», mit der das
Bush-Cheney-Regime acht Jahre lang operierte, hat in den USA zu einer
unglaublichen Verluderung des Rechtsstaats, zu Folter und Korruption und
zu einer quasidiktatorischen Interpretation der Exekutivgewalt geführt.
Barack Obama versprach ein «besseres Amerika», eine Rückkehr zu
demokratischen und zivilen Idealen - Versprechungen, die er vor kurzem
in seiner Dankesrede in Oslo wiederholte.
Der viel zitierte «Change» kann jedoch beim besten Willen (den wir ihm
vorderhand mal zugestehen) nicht von einem Tag auf den andern
herbeiregiert werden. Wohl ist der Präsident in den USA eine Symbolfigur
mit gigantischen Ausmassen. Und auch seine tatsächliche Exekutivmacht
ist heute grösser denn je. Aber der Präsident der USA ist trotz allem
ein gebundener Riese. Als Barack Obama aus dem Siegestaumel erwachte,
merkte er wie damals Gulliver bei den Zwergen, dass seine
Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt war - und immer noch ist.
Die Widerstände gegen linksliberale Reformen sind in den USA enorm. Die
politische Opposition - ein seltsames Bündnis von Reichen und Rechten,
von Neoliberalen und Fundamentalisten - ist stark, entschieden und gut
organisiert. Und sie foutiert sich zunehmend um demokratische
Verhaltensregeln. Republikanische ParlamentarierInnen verbünden sich
zuweilen offen mit paranoiden und zuweilen sogar bewaffneten Wirrköpfen,
die Obama mit Hitler vergleichen und seine Politik mit dem
Nationalsozialismus. Zweifellos hat die Rassenzugehörigkeit des neuen
Präsidenten das Potenzial für diese paranoide Politik beträchtlich
vergrössert.
Der real existierende Rechtspopulismus erklärt und entschuldigt aber
nicht Obamas lange Mängelliste der unerfüllten Hoffnungen: Stimulus für
die Banken statt für die BürgerInnen. Wenig Einsatz für eine universale
Krankenversicherung und ein gewerkschaftsfreundliches Arbeitsrecht.
Verzögerung des militärischen Rückzugs aus dem Irak. Neue
Kriegsoffensive in Afghanistan und insgesamt mehr US-Truppen und Söldner
im Einsatz als auf dem Höhepunkt des Irakkrieges. Weiterführung der
gesetzlosen Inhaftierungen in Guantánamo und anderswo. Zögerliche
Untersuchung und Aufklärung der unter Präsident George Bush begangenen
Kriegsverbrechen. Mickrige Arbeitsbeschaffungsprogramme - dabei brauchte
es zehn Millionen neue Arbeitsstellen, bloss um die US-Arbeitslosenquote
auf das Vorkrisenniveau zurückzubringen.
Ob Klimapolitik, Afghanistan oder Gesundheitsreform: Barack Obamas
grösster Fehler ist es, dass er seine eigenen Hoffungen auf die falschen
AkteurInnen setzt. Ausgerechnet in den beiden wichtigen Bereichen
Finanzwirtschaft und Militär lässt er sich statt von reformfreudigen
AktivistInnen von machtbewussten VerteidigerInnen des Status quo
beraten. Das ist kein Zufall, denn Wall Street und Pentagon sind mehr
als bloss zwei weitere lästige Zwerge im Obama-Land. Sie haben - oft mit
vereinten Kräften - in den USA ein eigentliches Schattenimperium
aufbauen können, das sich nun jeder demokratischen Einmischung und
natürlich jeder Demontage heftig widersetzt.
Am reformresistentesten scheint dabei der auch ökonomisch mächtige
Sicherheitsapparat der USA zu sein. George Bush hat diesen Staat im
Staat aber nicht erst erfunden. Die Verschiebung der Macht zur Exekutive
hin und die Entdemokratisierung des politischen Systems durch faktisches
Notstandsrecht sind Bestandteil der US-Geschichte, seit der Zweite
Weltkrieg in den Kalten Krieg überging und der Kalte Krieg in den Krieg
gegen den Terrorismus. Der jahrzehntelange Ausnahmezustand in den USA
hat «das Abnormale normal gemacht», wie sich der Historiker Gary Wills
ausdrückt. Das Normale gibt es vorderhand - und bestenfalls - als Hoffnung.
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. Dezember 2009
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