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Britischer Wahlsieger ohne eigene Mehrheit

Konservative vor Labour und Liberalen *

Die Parlamentswahlen in Großbritannien haben erstmals seit 36 Jahren keine eindeutigen Mehrheiten hervorgebracht. Die Konservativen unter David Cameron wurden zwar stärkste Kraft, verfehlten aber die zur alleinigen Regierungsbildung notwendigen 326 Mandate deutlich.

Eine starke konservative Partei, aber keine neue Regierung: Großbritannien steht vor einer völlig neuen politischen Konstellation und hat erstmals seit 36 Jahren keinen klaren Wahlsieger. Stattdessen zeichnet sich ein Tauziehen um die Macht ab. Die konservativen Tories von David Cameron konnten zwar die meisten Sitze gewinnen. Doch reichte es nicht zur absoluten Mehrheit. Die Labour-Partei von Premier Gordon Brown reklamiert weiter die Macht, die sie seit 13 Jahren hält. Für die britischen Grünen holte deren Parteichefin Caroline Lucas das erste Unterhausmandat überhaupt.

Die größte Enttäuschung mussten die Liberaldemokraten und ihr Chef Nick Clegg verkraften, die trotz des Höhenflugs im Wahlkampf abgeschlagen an dritter Stelle landeten. Dennoch könnten sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte mitentscheidend sein, da beide Großparteien die Liberaldemokraten zum Regieren brauchen. Clegg deutete am Freitag in London eine Präferenz seiner Partei zur Zusammenarbeit mit den Konservativen an. Er sagte, die Partei mit den meisten Stimmen und Sitzen habe das Recht zur Regierungsbildung. Das eigene Abschneiden bezeichnete er als enttäuschend.

Erstmals seit 1974 könnte es nun eine Koalition oder eine Minderheitsregierung geben. Ob dann Tory-Chef Cameron Premier ist oder Brown in der Downing Street bleibt, war gestern unklar. Die »Lib Dems« wollen parteiintern am heutigen Sonnabend darüber beraten, wie sie weiter vorgehen.

Brown erklärte am Freitag (7. Mai), es sei seine Pflicht als Premierminister, »alle Maßnahmen zu ergreifen, dass Großbritannien eine starke, stabile und prinzipientreue Regierung hat«. In Großbritannien hat der Premier das Recht und die Pflicht, so lange im Amt zu bleiben, bis feststeht, welche Partei oder Koalition die meiste Unterstützung im Parlament hat. Er darf als erster eine Regierungsbildung angehen. Labours Wirtschaftsminister Peter Mandelson sagte: »Die Regel bei einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse ist, dass nicht die Partei mit der größten Zahl der Sitze als erstes zum Zug kommt, sondern die amtierende Regierung.« Brown ist seit drei Jahren Premier.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2010


Parteien-Patt im Unterhaus

Erstmals seit 1974 gibt es keinen klaren Sieger bei britischen Parlamentswahlen / Labour wirbt um Liberale – die zieht es zu den Konservativen

Von Ian King, London **


Nach den Wahlen zum britischen Unterhaus ist offen, wer die künftige Regierung bildet.

»Das Volk hat gesprochen, aber noch ist unklar, was es gesagt hat.« Der ehemalige Liberalenführer Paddy Ashdown brachte das Ergebnis der britischen Wahl auf den Punkt: ein klarer Sieg der Konservativen, aber ohne absolute Mehrheit; eine deutliche Niederlage für Labour, aber nicht der erwartete Einbruch; ein respektables Ergebnis für die Liberalen, aber mit weniger Sitzen statt des erhofften Durchbruchs. Die Tories brachten es auf 36,1 Prozent (plus 4), Labour auf etwas über 29 (minus sechs), die Liberalen auf 23 Prozent (minus 1).

New Labour ist als Projekt an innerer Leere gescheitert. Als der vom Irak-Krieg diskreditierte Tony Blair als Regierungschef zurücktrat, gelang es dessen Nachfolger Gordon Brown nicht, der Leiche neues Leben einzuhauchen. Den vom Wähler nach Korruptions- und Finanzkrisen geforderten Weg zu neuen Ufern konnte er nicht verkörpern. Aber auch Konservativen-Chef David Cameron schaffte es nicht, die Bürger für sich zu begeistern; seine geplanten Horrorstreichungen im öffentlichen Dienst bei gleichzeitiger Befreiung vieler Wohlhabenden von der Erbschaftssteuer wurden als sozial unausgewogen gebrandmarkt. Zudem machte ihm Liberalen-Chef Nick Clegg die Rolle als Hoffnungsträger im Wahlkampf streitig.

So kommt es im Unterhaus zur Hängepartie ohne Gesamtsieger – das erste Mal seit 36 Jahren. Cameron hätte 326 Mandate gebraucht, um Regierungschef zu werden. Auch mit Hilfe der protestantischen Nordiren brächte es Cameron nur auf etwa 316 Mandate, zum Regieren gehören 326. Labour und Liberale kämen voraussichtlich mit nordirischen Sozialdemokraten auf 320, wären auf die Hilfe der Nationalisten aus Schottland und Wales angewiesen und Erpressungsversuchen ausgesetzt.

Die Lage ähnelt jener im Februar 1974, als der konservative Premier Edward Heath nach der Wahl ein Wochenende lang vergeblich eine Koalition mit den Liberalen zu schmieden versuchte. Aber die beiden hätten zusammen keine Mehrheit gehabt, Heath trat widerwillig ab. Labour liebäugelt jetzt ebenfalls mit einer Taktik des Aussitzens und Verhandelns, sieht programmatische Ähnlichkeiten mit den Liberalen im Finanz- und Sozialbereich, bietet als Köder eine Reform des Wahlrechts an, das die kleinen Parteien diskriminiert. Für Nick Clegg verlockend, andererseits hat er sich vor der Wahl festgelegt, mit den vom Wähler bevorzugten stärkeren Bataillonen zu marschieren. Und das sind nun einmal die Tories mit über 40 Sitzen mehr als Labour.

** Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2010


Parlament am Galgen

Kein klarer Sieger nach Unterhauswahlen in Großbritannien

Von Christian Bunke, Manchester ***


Die Briten lieben Wortspiele. Ein solches ist der Begriff »hung parliament«. Dies bezeichnet unklare Mehrheitsverhältnisse im britischen Unterhaus nach einer Wahl. Keine Partei kann für sich alleine die absolute Mehrheit beanspruchen. »Hung parliament« bezeichnet aber auch ein am Galgen hängendes Parlament. Folgt man den Aussagen britischer Kommentatoren, dann hängt das am Donnerstag (6. Mai) neu gewählte Parlament bereits am Galgen, bevor es überhaupt zu seiner ersten Sitzung zusammengekommen ist.

Nach Auszählung von 641 der 650 Wahlkreise entfielen mit Stand Freitag nachmittag 302 Mandate (plus 94) auf die Konservative Partei, 256 (minus 88) auf Labour und 56 (minus 5) auf die Liberaldemokraten. Kleinere Parteien, darunter auch die regionalen politischen Kräfte, stellen mindestens 27 Abgeordnete. Unter ihnen befindet sich Caroline Lucas von den Grünen aus Brighton. Erstmals in der Geschichte der britischen Grünen hat die Partei eine Abgeordnete im Unterhaus. Die extreme Rechte konnte nicht punkten. Nick Griffin, Parteichef der British National Party, wollte im Londoner Stadtteil Barking gewinnen, fiel aber durch.

Keine der großen bürgerlichen Parteien hat einen klaren Sieg gelandet. Einige Kommentatoren erwarteten einen Zuwachs der Liberaldemokraten. Statt dessen verloren sie fünf Sitze. Die Tories gewannen 94 Sitze hinzu, verfehlten aber die absolute Mehrheit. Labour hat 88 Sitze verloren, will nun aber trotzdem mit den Liberaldemokraten eine Koalition zusammenbasteln. Die Liberaldemokraten drehen weiter ihre Fahne im Wind und geben widersprüchliche Signale. Auf der einen Seite wird mit der Labour Partei verhandelt, auf der anderen Seite erklärt Parteichef Nick Clegg, es sei Aufgabe der Konservativen als stärkste Partei, eine Regierung zu formen.

Während der Wahlen am Donnerstag kam es vielerorts zu Unregelmäßigkeiten. Tausende britische Bürger konnten nicht wählen. Wahlbüros hatten nicht genug Wahlbögen, es kam zu langen Schlangen. Anfechtungen der Wahl werden bereits vorbereitet.

Die Märkte reagierten nervös auf den Wahlausgang. Die Aktienkurse führender britischer Banken verzeichneten am Vormittag Einbrüche, ebenso das britische Pfund. Die Beschäftigten von British Airways kündigten einen 20tägigen Streik bei BA an. In Großbritannien beginnt eine Periode der Unsicherheit, die sich bereits seit Monaten abgezeichnet hatte.

*** Aus: junge Welt, 8. Mai 2010


Gefangen im Korsett

Von Uwe Sattler ****

Nein, nicht allein Gordon Brown hat die Wiederwahl Labours verdorben. Sicher, der britische Premier versprüht nicht den aalglatten Charme seiner Konkurrenten. Unbestritten auch, dass er sich mit der Beschimpfung einer Wählerin einen folgenschweren Patzer leistete. Und die menschelnde Bemerkung von Frau Brown, ihr Mann schlafe halt gern, war ebenfalls nicht hilfreich. Aber Brown gilt als einer der wenigen Standhaften in der britischen Arbeitspartei, denen Worte wie Sozialpolitik oder Mindestlohn überhaupt noch über die Lippen kommen. Campact - Gesundheit

Brown hat einen großen Teil der Prügel abbekommen, die sich sein Vorgänger Tony Blair verdient hatte. Der Erfinder von New Labour hatte Partei und Regierung bis in die höchsten Ebenen mit seinen Gefolgsleuten durchsetzt und einen Scherbenhaufen sozialdemokratischer Politik hinterlassen. Diesen konnte Brown ebenso wenig wegräumen wie aus dem neoliberalen Korsett ausbrechen. Ob Labour, Tories oder Liberale – für viele Briten waren politische Unterschiede nicht mehr zu erkennen.

Daher ist es auch eher zweitrangig, welche Regierungskoalition nun gebildet wird. Eine Einigung auf die zentralen Programmpunkte ist wohl in jeder möglichen Konstellation schnell erreichbar. Zumindest eine einschneidende Änderung aber könnte eine Koalitionsbildung mit sich bringen: Das faktische Zwei-Parteien-System und das undemokratische Mehrheitswahlrecht in Großbritannien stünden vor ihrem Aus.

**** Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2010 (Kommentar)


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