Die Labour-Regierung gilt als Auslaufmodell
Nach 13 Jahren könnten in London wieder die Tories regieren
Von Ian King, London *
Erstmals seit 1974 könnte sich in Großbritannien am Donnerstag (6. Mai) wieder die Notwendigkeit einer Koalitionsregierung ergeben. Denn unmittelbar vor den Unterhauswahlen lagen die drei wichtigsten Parteien in der Wählergunst eng beieinander.
Die letzten Umfragen vor der britischen Parlamentswahl sahen mit 35 Prozent die Konservativen von David Cameron vorn. Labour und Liberale folgen mit jeweils etwa 28 Prozent. Damit könnte Tory-Chef Cameron zwar nächsten Premier werden - er würde jedoch die absolute Mehrheit verfehlen. Cameron wäre also auf Unterstützung durch die Liberalen angewiesen. Bei einem solchen Ergebnis hätten die Konservativen am Freitag 278 Mandate, Labour 261 und die Liberalen 82, kalkulieren Experten der BBC.
Während konservative und liberale Politiker aggressiv auf Stimmenfang gingen, bemühte sich die Labour-Prominenz um Schadensbegrenzung. Sie wollte die bis vor kurzem uneinnehmbaren Bastionen in letzter Stunde verteidigen. Doch bisher sind ihnen als Argumente nur Warnungen vor unverantwortlichen Kürzungen der Tories im Staatshaushalt eingefallen; positive Gründe zur Stimmabgabe für die amtierende Labour-Regierung blieben Mangelware.
Zu den Problemen eines unbeliebten Premiers Gordon Brown, der seinem Vorgänger Tony Blair ohne Wahlen im Amt folgte, und einer verbraucht wirkenden Regierung mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg kam Labours chaotische Wahlkampfführung. In den drei Fernsehdebatten schwankte Brown hilflos zwischen Oberlehrer und trotzigem Besserwisser, der die Zuschauer nervte. Im Umgang mit den Wählern kam es zu Patzern wie dem Gespräch mit der Rentnerin Gillian Duffy aus Rochdale bei Manchester. Nachdem sie Brown zu Studenten und lästigen EU-Ausländern zur Rede gestellt hatte, rief der Premier im Auto entgeistert, das Gespräch mit der »engstirnigen Fanatikerin« sei eine Katastrophe gewesen. Er hatte allerdings vergessen, sein Mikrofon zu entfernen, was die wahre Katastrophe bedeutete: Publikumsbeschimpfung zahlt sich für keinen Wahlkämpfer aus. Auch dass es bei der Präsentation eines neuen Labour-Plakats in Anwesenheit des halben Kabinetts zu einem Autounfall kam, schien fast symbolisch. Ein stoisch dreinblickender Premier mit dem Rücken zur Wand, der fürchten muss, weniger Stimmen zu bekommen als die normalerweise irrelevanten Liberalen - der schottische Pfarrersohn als Schmerzensmann.
Camerons wahrscheinlicher Sieg ist daher nichts Erstaunliches. Der aalglatte Börsenmaklersohn, Zögling von Eliteschule und -universität, hat sich nach eindeutigem Tory-Vorsprung in allen Herbstumfragen jedoch zu früh gefreut. Es reichte nicht, freundlich zu lächeln und den Modernisierungsprozess seiner Partei für erfolgreich beendet zu erklären. Denn das ist er mitnichten: Die meisten neuen Tory-Kandidaten stehen noch weiter rechts als ihre Vorgänger, hassen die EU und das Ausland überhaupt, eine Tatsache, die von der Rechtspresse unter den Teppich gekehrt wird. Doch trotz Spesenskandals im Unterhaus und Wählerwunsch nach Wechsel gelang es Cameron nach einer verpatzten ersten Fernsehdebatte nicht, sich als glaubhafte Verkörperung dieses Wechsels auszugeben, sondern er verlor die Rolle zumindest zeitweilig an den liberalen Sonnyboy Nick Clegg.
Clegg kündigt weiterhin arrogant an, Labour sei ein alter Hut, nur seine Partei und die Tories würden im Rennen bleiben. Doch das Zeug - und die Mandate - zum Premier hat der fotogene Liberale nicht, sondern nur die Begabung, nach einem neuen, seine Partei begünstigenden Wahlsystem zu rufen. Paradoxerweise hätte er im Falle eines taktischen Bündnisses mit Labour die Chance, eine Volksabstimmung zur Abschaffung des Mehrheitswahlrechts durchzuführen. Das aber würde nicht als Partner von Cameron geschehen, der ihn nach gewonnener Wahl gern wieder loswerden würde.
Den originellsten Wahlkampfbeitrag lieferte hingegen Zentralbankchef Mervyn King. Der Sieger dieser Wahl sei wegen der Wirtschaftskrise nicht zu beneiden, tönte es aus den heiligen Hallen der Bank of England. Denn die unausweichlichen Kürzungen und Steuererhöhungen würden so schmerzlich ausfallen, dass die Partei, die sie einbringe, nachher für eine Generation in der Opposition bleiben werde. Banker-Gerede oder Menetekel für Downing Street?
* Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2010
"Compass", "Respect", "TUSC" - die Linke ohne Chance?
Kleinere Oppositionsparteien und Kritiker innerhalb der Labour-Partei haben im Wahlkampf eine neue Dynamik entwickelt
Von Thomas Kachel **
Die politische Debatte in der britischen Öffentlichkeit kennt zur Zeit nur ein Thema: den scheinbaren
Durchbruch der scheinbaren politischen Alternativpartei, der Liberaldemokraten. Die Konservativen
führen zwar in den Umfragen, aber die »LibDems« liegen mit Labour nahezu gleichauf. Die Frage ist
angesichts dieser Einheitlichkeit oder Eintönigkeit der britischen Parteienlandschaft, ob es wirkliche
- linke - Alternativen in Parlamentswahlen überhaupt gibt.
Entscheidend für die Wahlaussichten linker Kandidaten ist zunächst das Wahlsystem, nach welchem
jeder Wahlkreis nur einen Kandidaten ins Unterhaus entsendet. Jahrzehntelang galt aus diesem
Grund für viele Linke die goldene Regel, dass in ihrem Wahlkreis der Labour-Kandidat zu
unterstützen sei, egal wie seine politischen Anschauungen waren. Doch spätestens seit der letzten
Wahl ist klar, dass New Labour die Wähler in Scharen weglaufen: Frühere bürgerliche Wähler
stimmen jetzt wieder für das konservative Original. Arbeiterklasse und »Unterschicht« verweigern zu
großen Teilen die Stimmabgabe, weil sie sich von New Labour verraten fühlen. Diese Entwicklung
trifft auch die Labour-Linke, die in der Partei gegen den neoliberalen Kurs der Bosse gekämpft hat.
So wird die Socialist Campaign Group (SCG), die Vereinigung linksgerichteter Labour-Abgeordneter,
die Zahl ihrer Mandate im Parlament nicht halten können. Auch ob der SCG-Vorsitzende John
McDonnell sein Mandat in seinem mittelenglischen Wahlkreis verteidigen kann, ist ungewiss.
Allerdings könnte der Labour-Linken aus der Mitte der Partei heraus Hilfe zuteil werden. Langsam
aber sicher gruppiert sich eine breite Mitte-Links-Strömung innerhalb Labours um das »Compass-
Projekt«. Unter der Führung des Parlamentsabgeordneten Jon Cruddas greift diese Strömung den
neoliberalen Dogmatismus New Labours an. Inwieweit diese linken Inhalte den innerparteilichen
Kampf um die Macht und die Posten nach dem Wahltag überleben, bleibt jedoch abzuwarten.
Mit seinem spektakulären Sieg im Wahlkreis Bethnal Green bei der Parlamentswahl 2005 gegen die
New-Labour-Politikerin Oona King wurde George Galloway der Held der außerparlamentarischen
Linken: Der erste Abgeordnete links von Labour, der seit 50 Jahren den Einzug ins Parlament
schaffte. Für seine Gegnerschaft zum Irak-Krieg aus der Labour Party ausgeschlossen, betreibt
Galloway seit 2004 den Aufbau von »Respect«, einer Bündnispartei, die sich bald in internen
Querelen verfing. Spätestens seit dem Wiederaustritt der trotzkistischen Socialist Workers Party
(SWP) aus der »Respect Coalition« konzentriert sich diese Partei auf die Vertretung der kulturellen
Belange der muslimischen Einwanderer, was von Anti-Rassismus-Aktivisten zwar gelobt, von
anderen Linken aber als Aufgabe des linken Gleichheitsgrundsatzes getadelt wird. Trotzdem hat
»Respect« nicht nur eine klare Ablehnung der bisherigen interventionistischen Außenpolitik im
Wahlprogramm. Im Angesicht der Krise ist sie von allen wahrnehmbaren Parteien diejenige, die am
klarsten die angekündigte Abwälzung der Krisenlasten auf Arbeiter, Angestellte und sozial
Schwache ablehnt, Umverteilung propagiert und eine gesetzliche Begrenzung der Exzesse der
Londoner Börse fordert.
George Galloway hat sich entschieden, zu dieser Wahl einen anderen, wesentlich schwieriger zu
erringenden Wahlkreis zu erobern, was viele als Fehler ansehen. Bessere Chancen als er hat Salma
Jaqoob, Stadträtin in Birmingham-Sparbrook. Schon der Erhalt eines Parlamentssitzes wäre für
»Respect« ein großer Erfolg.
Andere linke Parteien, wie die »TUSC Coalition«, gebildet von mehreren sozialistischen
Kleinparteien und unterstützt von RMT-Gewerkschaftschef Bob Crowe, haben hingegen keinerlei
Chancen.
Die meisten Aussichten auf ein Mandat links von Labour hat die Grüne Caroline Lucas im Wahlkreis
Brighton. Trotz des kürzlich eingeschlagenen Etablierungskurses der Grünen wären ihre Haltung
gegen den Krieg und ihre Gegnerschaft zum britischen Atomwaffenarsenal gewiss eine
Bereicherung für das Unterhaus.
Auch wenn der Ausgang dieser Parlamentswahlen insgesamt wohl eine Rechtsbewegung im
britischen politischen Spektrum bringen wird, ist dies auf der anderen Seite ein gute Gelegenheit,
sich auf der linken Seite zu besinnen und die organisatorischen Kräfte neu zu gruppieren.
Hoffnungsvoll stimmt die Dynamik, die vor den Wahlen ausgelöst wurde. Erstmals seit Jahren
fanden sich alle wesentlichen Teile der britischen Linken in der »Convention of the Left« zusammen,
vielleicht der Anfang einer übergreifenden strategischen Zusammenarbeit. Und obwohl auch die
Liberaldemokraten keine progressive Alternative bieten, wäre ihr möglicher Erfolg eine Chance nicht
nur für die britische Demokratie allgemein, sondern speziell für die britische Linke. Sollte sich
nämlich am 6. Mai herausstellen, dass entweder Camerons Konservative oder Browns Labour Party
auf die Bildung einer Koalition mit den Liberaldemokraten angewiesen sind, dürfte dies das Ende
des Mehrheitswahlrechts bedeuten. Diesen historischen Einschnitt zu nutzen, muss die britische
Linke dann in der Lage sein.
Eine ausführliche Analyse des Autors zur britischen Linken findet sich in der neuesten Ausgabe der
Studie »Die Linke in Europa«, die in diesen Tagen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erscheint.
** Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2010
Wahlsystem auf dem Prüfstand ***
Das Wahlsystem in Großbritannien ist vor dieser Wahl besonders unter Beschuss geraten. Denn auf den Inseln gilt das Mehrheitswahlrecht und nicht wie in Deutschland das personalisierte Verhältniswahlrecht. Das heißt: Gewählt ist der Kandidat, der die meisten Stimmen in seinem Wahlkreis erhält - ähnlich wie bei den Erststimmen in Deutschland. Die Stimmen der Gegner verfallen, egal wie viele sie gesammelt haben. Eine Zweitstimme für Parteilisten gibt es nicht.
Wer die Regierung bildet, hängt also davon ab, wer die meisten Wahlkreise gewonnen hat, und nicht davon, wer landesweit die meisten Stimmen erhielt. Viele finden das unfair, weil kleine Parteien durch das System benachteiligt werden. Kritik an dem System gibt es seit Jahrzehnten, reformiert wurde es jedoch nie.
Ein Beispiel: Hat Kandidat A 30 Prozent der Stimmen, Kandidat B auch 30 Prozent und Kandidat C 40 Prozent, dann zieht C ins Parlament - obwohl 60 Prozent der Wähler gegen ihn gestimmt haben. Die Stimmen für die anderen beiden Kandidaten werden nicht berücksichtigt. Das Wahlsystem führt quasi zu einem Zweiparteiensystem wie in den USA. Bisher waren fast immer die konservativen Tories oder die sozialdemokratische Labour-Partei an der Macht. Der Vorteil: Streit mit einem Koalitionspartner gibt es nicht, die Regierung ist stabil und handlungsfähig. Der Nachteil: Kleine und mittlere Parteien haben kaum Chancen, Wahlkreise und damit Sitze im Parlament zu gewinnen.
Das britische Mehrheitswahlrecht führt manchmal auch dazu, dass die Partei mit der landesweit höchsten Prozentzahl an Stimmen nicht unbedingt die meisten Sitze bekommt und also auch nicht die Regierung stellt. Im Gegenteil: Auch die Partei, die nach Wählerstimmen nur zweite oder dritte geworden ist, kann regieren. An die Regierung kommt, wer die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament hat. Bei der Wahl sind 650 Sitze zu vergeben, mindestens 326 Sitze sind für die Regierungsmehrheit erforderlich.
Es kommt ein weiteres Manko hinzu: Tories und Liberaldemokraten müssen prozentual mehr Stimmen gewinnen als Labour, um an die Macht zu kommen. Das liegt am speziellen Zuschnitt der Wahlkreise und an Stammwählertraditionen. Traditionell gewinnen die Tories mehr Stimmen auf dem Land, Labour mehr in den Städten. (dpa/ND)
*** Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2010
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