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Anarchy in the UK

Unruhen in London und anderen Städten Großbritanniens eskalieren. Exbürgermeister Livingstone macht Kürzungen für "Riots" verantwortlich

Von Christian Bunke, Manchester *

In Großbritannien haben sich die durch den Tod eines von Polizeikugeln getroffenen Familienvaters in London ausgelösten Unruhen in der Nacht zum Dienstag (9. Aug.) ausgeweitet. Sie erreichten mittlerweile auch Birmingham, Nottingham, Liverpool und Bristol. Mehrfach wurden Polizeiwachen attackiert, ganze Einkaufsstraßen verwandelten sich in Schlachtfelder. Ein 26jähriger wurde inmitten der Ausschreitungen in einem Auto erschossen, teilte die Polizei am Dienstag mit. Premierminister David Cameron brach seinen Urlaub ab, kehrte gestern mittag nach London zurück und berief für Donnerstag (11. Aug.) eine Sondersitzung des Parlaments ein. Die Londoner Polizei soll ab sofort mit 16000 Beamten im Einsatz sein, jeder Urlaub für sie ist gestrichen. Das für den heutigen Mittwoch geplante Fußball-Länderspiel England gegen Niederlande wurde abgesagt, ebenso Spiele im Ligapokal – und das ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen in London. In Berlin rief das Auswärtige Amt bei Reisen in die betroffenen Städte angesichts der »Riots« zu »besonderer Vorsicht« auf.

Britische Politiker und Medien forderten einen Einsatz des Militärs. Die konservative Innenministerin Theresa May weist zwar bislang Rufe nach der Armee zurück, die auch aus ihrer eigenen Partei erhoben werden. Die Polizei setzt mittlerweile allerdings zum ersten Mal außerhalb Nord­irlands gepanzerte Fahrzeuge ein. Bis Dienstag mittag zählte die BBC 525 Festnahmen. »Wer alt genug ist, Verbrechen zu begehen, ist auch alt genug, die ganze Macht des Gesetzes zu spüren«, sagte Regierungschef Cameron. Von seinem Stellvertreter Nick Clegg und Oppositionsführer Ed Miliband war ähnliches zu hören. Nur der frühere Londoner Bürgermeister Ken Livingstone brachte die Unruhen mit den Sparpaketen der Regierung in Verbindung. Daraufhin wurde ihm von konservativer Seite sofort zynischer Populismus vorgeworfen.

Unterstützt wurde Livingstone hingegen von dem Fußballfanzine A Fine Lung aus Manchester, das die Lage kommentierte: »Nimm eine Gesellschaft, in der Geld der einzige Weg ist, um voranzukommen. Nimm eine Gesellschaft, in der das reichste Prozent der Bevölkerung 20 Prozent des Reichtums besitzt, und die ärmsten 50 Prozent nur sieben Prozent. Du nimmst der Jugend die Beihilfe weg, so daß sie nicht mehr aufs College kann. Du sagst ihnen, daß sie 30000 Pfund Schulden für einen Universitätsabschluß machen müssen, der ihnen nicht mal einen Job garantiert. Du kürzt lokale öffentliche Dienstleistungen und streichst die Jobs ihrer Eltern. Du kriminalisierst sie dafür, daß sie sich in Gruppen zusammentun und nennst es antisozial. Und wenn sie dann aus den Vierteln herauskommen, in die du sie eingesperrt hast, um sich auf Straßen, die ihnen von der Polizei verweigert werden, aus Läden, die ihnen den Eintritt verweigern, die Waren zu holen, die sie sich nicht leisten können, dann ist alles was du sagst: Das ist reine Kriminalität.«

In Großbritannien verhängt die Polizei Platzverweise, die speziell dazu dienen, Jugendliche von der Straße zu vertreiben. Sie werden systematisch aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Nun setzen die Kürzungen noch eins drauf. In Haringey, dem Stadtteil in dem alles begann, wurden die Mittel für Jugendarbeit um 75 Prozent gekürzt.

* Aus: junge Welt, 10. August 2011


Londons Funke springt über

Unruhen breiten sich von der Hauptstadt nach Liverpool, Birmingham und Bristol aus **

Nach den dreitägigen Unruhen in London soll ein massives Polizeiaufgebot weitere Krawalle in der Hauptstadt verhindern. Auch in Birmingham, Liverpool und Bristol gab es Unruhen. In London forderte der Aufstand den ersten Toten.

Die Lage in Großbritannien ist ernst. Zumindest so ernst, dass Premierminister David Cameron seinen Urlaub in der Toskana nun doch abbrechen musste. Drei Tage Krawalle auf Londoner Straßen, die am Montag (8. Aug.) auch auf Liverpool, Birmingham und Bristol übergriffen, bewogen Cameron zur Rückkehr auf die Insel, wo er am Dienstag eine Krisensitzung anberaumte. Die Zahl der Polizeibeamten in London werde von 6000 auf 16 000 erhöht, kündigte der Premierminister danach an. »Wir werden alles Notwendige tun, um die Ordnung in den Straßen wiederherzustellen«, versicherte der Konservative. Gleichzeitig berief er für Donnerstag (11. Aug.) eine Sondersitzung des Parlaments ein. Die Ausschreitungen verurteilte Cameron als »widerwärtig«. Es handele sich um »Kriminalität pur«. Den meist jugendlichen Randalierern drohte er harte Strafen an: »Wenn ihr alt genug seid, um diese Verbrechen zu begehen, dann seid ihr auch alt genug für eine Strafe.«

In London hatte es am Montagnachmittag (8. Aug.) weitere Unruhen im Stadtteil Hackney im Osten der Stadt gegeben, die sich in der Nacht zum Dienstag auf weitere Stadtteile ausweiteten. In Croydon brannte ein ganzer Häuserblock. Dort erlitt am Montag ein 26-Jähriger eine Schussverletzung und starb laut Polizei später im Krankenhaus. Durch wen er verletzt wurde, war zunächst unklar.

Nach Angaben von Innenministerin Theresa May wurden allein in London 450 Menschen festgenommen, darunter drei wegen versuchten Mordes an Polizisten. Sämtliche Arrestzellen in London seien inzwischen belegt. May verurteilte die Krawalle als »Verbrechen«. In einem BBC-Interview erkannte zumindest Camerons liberaler Stellvertreter Nick Clegg, dass das fehlende Wirtschaftswachstum ein Problem darstellt, wollte aber nicht zugeben, dass die Kürzungen seiner Regierung die Lage verschlimmern. Londons früherer Labour-OB Ken Livingstone, der 2012 noch einmal antritt, sieht hingegen den Zusammenhang zwischen der Jugendarbeitslosigkeit in den Armenvierteln und Kurzschlussreaktionen wie in den letzten drei Nächten. Aber »der rote Ken« und die schwarzen Labour-Abgeordneten David Lammy und Chuka Umunna, die die Wahlkreise Tottenham und Brixton vertreten, wissen und sagen deutlich: Plündern ist keine Lösung.

Auslöser der Unruhen war der Tod eines Mannes, der am Donnerstag bei einem Polizeieinsatz im Stadtteil Tottenham erschossen worden war. Der vierfache Familienvater Mark Duggan wurde durch einen Schuss in die Brust getötet, wie aus einer am Dienstag vorgestellten Untersuchung hervorgeht. Die Untersuchung der genauen Todesumstände dauerte an.

Der englische Fußballverband sagte unterdessen das für Mittwoch (10. Aug.) geplante Fußball-Freundschaftsspiel zwischen England und den Niederlanden im Londoner Wembley-Stadion ab. Die Polizei sei wegen des Kampfes gegen die Krawalle nicht in der Lage, die Sicherheit der 70 000 Zuschauer zu garantieren.

** Aus: Neues Deutschland, 10. August 2011


Entfesselte Wut

Von Ian King ***

Die Wut greift um sich: Der Funke der Krawalle ist von London nach Liverpool, Birmingham und Bristol übergesprungen. Die üblichen Verdächtigen, giftete Tory-Innenministerin Theresa May und gab die Lösungsformel aus: Kriminelle, wir fangen sie alle und lochen sie ein! Zweifellos: Da geschehen unentschuldbare Delikte. In Armenvierteln werden die Armen geschädigt, verlieren Haus und Hof, Kleinladen oder Auto – das Wenige, was sie besitzen.

Die weit verbreitete Wut sollte dennoch nachdenklich stimmen. Eine tragisch misslungene Polizeiaktion in Tottenham, eine grundlose Durchsuchung in Hackney waren nur die Funken, die das Pulverfass zum Explodieren brachten. Das Misstrauen der – vor allem, aber nicht nur – Jugendlichen mit karibischem Hintergrund hat auch mit Diskriminierung zu tun. Und mit einer Hoffnungslosigkeit, die von weißen Gleichaltrigen geteilt wird. Die früheren Hilfsarbeiterjobs am Fließband in der Fabrik sind im deindustrialisierten Britannien kaum mehr vorhanden, auch bei Bussen und Bahnen kürzen die Tories. Die Urenkelkinder der Migranten haben – von ein paar Ausnahmen abgesehen – noch weniger Chancen als ihre Vorfahren.

Der Zusammenhang zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Wutausbrüchen wie in den letzten Nächten ist offensichtlich. Freilich ist Plündern keine Lösung, so schwer sich bei manchen die soziale Frage stellen mag. Gefordert ist die Politik.

*** Aus: Neues Deutschland, 10. August 2011 (Kommentar)


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