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"Das ist nuklearer Wahnsinn" / "This is nuclear madness"

Großbritannien rüstet seine Trident-Atomflotte auf - 90 Labour-Abgeordnete stimmen gegen die eigene Regierung - Zwei Kommentare

dpa meldete am 14. März 2007: "Ungeachtet einer Rebellion von Labour-Abgeordneten gegen die eigene Regierung wird Großbritannien seine Atomwaffen modernisieren. Den Beschluss zur nuklearen Nachrüstung, den das Kabinett im Dezember gefasst hatte, bestätigte jetzt das Unterhaus in London. Die Ergebnis wird allerdings als heftige Schlappe für die Regierung von Tony Blair gewertet, weil mehr als 90 Abgeordnete seiner eigenen Partei gegen die Regierung votierten. Dafür wurde Blair fast geschlossen von der Konservativen Partei unterstützt."
In einem Kommentar im britischen Guardian ("This is nuclear madness") wurde die Entscheidung zur atomaren Aufrüstung als "illegal, unmoralisch, obszön, teuer und völlig irrelevant angesichts der wirklichen Sichertheitsrisiken, denen wir uns gegenüber sehen", beurteilt. Starke Worte, die von der Journalistin, Caroline Lucas, aber begründet werden. Die Entscheidung des Parlaments verstoße gegen die Verpflichtung, welche Großbritannien im Nichtverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag) eingegangen sei und sie lädt andere Staaten geradezu ein, den Vertrag ebenfalls zu brechen. Dies könne zu einer zunehmenden nuklearen Proliferation führen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass im Fall eines Krieges Atomwaffen auch eingesetzt werden. Mehr Atomwaffen vergrößere auch die Gefahr, dass sie in die falschen Hände, z.B. in die Hände von Terroristen fallen. Und schließlich koste die Trident-Modernisierung das Geld der Steuerzahler ("eine beschämende Verschwendung von Milliarden Pfund").
Wir dokumentieren im Folgenden den Kommentar von Caroline Lucas im (englischen) Wortlaut. Zuvor jedoch ein Kommentar aus der Feder von Xanthe Hall, der Atomwaffenexpertin der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs)).



England rüstet auf

Modernisierung bereits beschlossen

Von Xanthe Hall, IPPNW

Gegenüber einem nicht nennbaren Feind und mit der einzigen Begründung einer »ungewissen Welt« klammert sich England weiterhin an seine Fähigkeit, Menschenmassen durch Atomwaffen zu vernichten. Trotz vieler Proteste auch aus den eigenen Reihen hat Premierminister Blair wieder nach der Devise Faustrecht statt Völkerrecht entschieden. Nur einmal zuvor hatten so viele Labour-Abgeordnete gegen die eigene regierende Partei gestimmt: bei der Abstimmung um den Irakkrieg. Diesmal stimmten 161 gegen die neuen Atomwaffenträger, darunter 95 Labour-Abgeordnete. Dafür stimmten 409. Zwei Minister sind wegen des Ergebnisses zurück getreten.

Kurz vor der Entscheidung kam ans Licht, dass bereits in diesem Jahr heimlich die Trident-Rakete modernisiert werden sollte. Obwohl immer wieder beteuert wurde, dass noch keine Modernisierung der britischen Atomwaffen statt findet, gab jedoch das britische Verteidigungsministerium diese Woche zu, dass eine neue Vorrichtung auf der Trident-Rakete montiert wird, die Sprengkraft, Auswirkung und radioaktiven Niederschlag nach Zieloption verändern kann. Das neue AF&F-System (Arming, Fusing and Firing) wurde 2005 bestellt, in den USA entwickelt und wird voraussichtlich im September 2007 geliefert. Verteidigungsminister Les Browne übt semantische Akrobatik: Dies sei keine Modernisierung des Trident-Systems, sondern nur eine Verbesserung seiner Effizienz.

Die neue Vorrichtung bedeutet, dass die Anzahl der möglichen Ziele für den Einsatz von britischen Atomwaffen deutlich erhöht werden kann, weil die Sprengkraft und tödliche Wirkung angeblich damit verringert wird. Dazu hatte bereits im letzten Jahr die IPPNW in Großbritannien eine Studie zu den Folgen von Atomwaffen mit niedriger Sprengkraft veröffentlicht: Auch eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft von nur 1 Kilotonne (die Hiroshima-Bombe hatte 12,5 KT) würde katastrophale Auswirkungen für Mensch und Umwelt haben.

In der Debatte fokussierten Berichte auf den Ersatz der U-Boote, derer Betriebszeit in 15 Jahren ausläuft und die schon jetzt neu bestellt werden müssen, wenn England noch seegestützte Atomwaffen behalten will. Dennoch bedeutet die neueste Entscheidung in den USA, den Sprengkopf für US-Tridentraketen (W-76) im Rahmen des »Programms für zuverlässigen Sprengkopfersatz« (RRW = Reliable Replacement Warhead) durch einen Neuen zu ersetzen, dass auch in England eine Erneuerung des Sprengkopfs bevor steht. Da die britischen Atomwaffen eine fast genaue Kopie der US-Version sind, hängen diese Entscheidungen zusammen. Es läuft auf eine Modernisierung des kompletten Systems samt Atomsprengkopf hinaus.

Großbritannien ist Unterzeichnerstaat des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) und hat sich damit verpflichtet, sein Arsenal bis auf Null abzubauen. Mit diesen Modernisierungen verstößt Großbritannien deutlich gegen diese Verpflichtung. Die oben geschilderten Entwicklungen schreiben den Besitz von Atomwaffen für die nächsten 50 Jahre fort. Gleichzeitig behauptet Außenministerin Beckett in einer Antwort an die Menschen, die die Petition gegen den Tridentersatz unterzeichneten: »Wir spielen eine Vorreiterrolle bei den Fragen der Nichtverbreitung und Abrüstung« - eine Behauptung ohne jegliche Substanz. Weiter sagt sie: »Wir wissen, dass viele Menschen wollen, dass wir mehr machen. Aber es ist einfach nicht realistisch zu denken, dass, wenn wir unser Abschreckungspotenzial fallen lassen oder gar morgen komplett abrüsten würden, Iran oder Nordkorea dann nicht mehr Atomwaffen bauen würden...« Scheinbar hat sie die Ergebnisse der Gespräche mit Nordkorea nicht mitbekommen und hat schon entschieden, dass der Iran schuldig ist, bevor irgend ein Beweis gegen das Land gefunden wurde.

Zu erwarten ist, dass die Schotten die Entscheidung in England nicht so leicht annehmen werden. Wenn die Scottish National Party (SNP) im schottischen Parlament bei der nächsten Wahl die Mehrheit gewinnt, was sehr wahrscheinlich ist, will sie hohe Gebühren für die Stationierung und den Transport von Atomwaffen in Schottland abnehmen. Der Atomwaffenstützpunkt bei Faslane am Fluss Clyde ist bereits seit letztem Herbst unter Dauerblockade. Am 26. März reist aus Deutschland eine Gruppe AktivistInnen nach Schottland, die bei der Faslane 365-Aktion mitmacht.

15. März 2007

Quellen:
  • Guardian: Trident upgrade under way, MoD admits, 14. März 2007
  • Medact: Britain’s New Nuclear Weapons. Illegal, Indiscriminate, and
  • Catastrophic for Health, Dezember 2006


This is nuclear madness

The cost of yesterday's decision on Trident will be counted in lives lost as much as pounds squandered. by Caroline Lucas *

March 15, 2007

Yesterday's decision to replace the UK's Trident nuclear weapons system is illegal, immoral, obscenely expensive and utterly irrelevant to the real security threats we face today.

These are just the headlines: in fact it gets even worse. Replacing Trident won't just violate the UK's commitments under the UN nuclear non-proliferation treaty (of which we are, supposedly, a proud signatory) - it will undermine it by persuading other countries to breach it too.

That can only lead to increased nuclear proliferation, and boost the chances that nuclear weapons will be used in time of war (and we all know resource scarcity, the principle cause of war, is getting worse in almost every case). More nuclear weapons in the world will mean an increased chance that they will be acquired by terrorists or other non-state actors entirely outside the reach of the international community. In short, today's decision directly increases the risk that thousands will die as a result of nuclear weapons.

Voting in favour of replacing Trident is a shameful waste of billions of pounds of taxpayers' money and it sends out a deadly signal to the rest of the world: "we don't care about nuclear proliferation, so neither should you".

The non-proliferation treaty prohibits the development of new nuclear weapons, and calls for the progressive decommissioning of existing ones.

And if the UK is prepared to flout it, why - either morally or legally - shouldn't the Iranians, or anyone else?

Diplomatic efforts to persuade Iran to abandon plans to develop a nuclear programme are almost doomed to fail as long as we continue to develop ours, and as long as we encourage the use of nuclear energy in "responsible" states.

And this at a time when the European commission has warned that nuclear proliferation is the biggest security threat we face: yesterday's decision is truly nuclear madness.

The government's support for new nuclear weapons looks to be approved - but perhaps at the cost of the cohesion of the Labour party. The vote could only have been passed thanks to the support of pro-nuclear Tory MPs. The government endured Commons rebellion on an enormous scale, and the issue has already claimed more than one ministerial scalp.

Nuclear disarmament isn't the only 1997 pre-election promise Labour has ignored and then abandoned - but it's probably the most dangerous and wasteful.

Look at it another way: the government's support for Trident is yet another example of its failure to grasp the urgency of climate change too. Imagine if its anticipated £76bn costs were invested in energy conservation and renewable energy generation - we might actually have a chance of cutting CO2 levels sufficiently to stave off the worst impacts of climate change.

Instead, we are left with an obscenely expensive white elephant that is likely to make the world a more dangerous place - at best it is utterly irrelevant to the real security threats we face, chief among them climate change, and a missed opportunity to invest the resources in tackling them.

Whatever the historians end up saying, the immediate cost of this decision looks likely to be measured in lives lost as well as pounds squandered.

* The Guardian (online); http://commentisfree.guardian.co.uk


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