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London versucht zu "deradikalisieren"

Nach verheerenden Terroranschlägen hat die britische Regierung eine Strategie gegen den gewalttätigen Islamismus ersonnen

Von Matthias Becker *

Die britische Regierung will den Einfluss islamistischer Gruppen zurückdrängen, um terroristischen Anschlägen vorzubeugen. Aber ihre sogenannte »Deradikalisierungsstrategie« geht am Problem vorbei: Seitdem Britannien in Irak und in Afghanistan Krieg führt, grassiert unter muslimischen Einwanderern ein religiöser Separatismus.

Upper Edmonton am nördlichen Stadtrand Londons ist ein Viertel, wie es hier viele gibt: scheinbar endlose Reihen eng stehender Einfamilienhäuser, nur unterbrochen von billigen Schnellimbissläden und riesigen heruntergekommenen Wohnblöcken. »Sozialwohnungsland« sagen die Engländer, die den sozialen Status der Einheimischen exakt nach dem Zustand der Immobilien bestimmen.

Gegen den Terror oder gegen den Islam?

Im schmucklosen Keller eines städtischen Bürgerhauses warten dreißig Männer geduldig auf den Beginn des Vortrags. Das Thema: »Besteht die Scharia nur aus Strafen?« Organisiert wird die Veranstaltung von Hizb ut-Tahrir, arabisch für »Partei der Befreiung«. Aber zunächst geht es nicht um die Scharia, das traditionelle muslimische Recht, sondern der Redner erinnert seine Zuhörer daran, dass westliche Zeitungen ungestraft den Propheten Mohammed verspotten. Er sieht eine weltweite Kampagne gegen die Muslime und ihre Religion: »Wir haben es begriffen: Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen den Islam!«

Hizb ut-Tahrir ist weltweit aktiv, lehnt Nationalstaaten ab und propagiert stattdessen die Einigung aller Muslime unter der Führung eines Kalifen, dessen Herrschaft im Koran begründet sei. In Deutschland ist die Organisation verboten, in Großbritannien kann sie offen auftreten. In manchen Gegenden hat sich Hizb ut-Tahrir regelrecht festgesetzt.

Das weiß auch Neil Gerrard, Parlamentsabgeordneter für den Bezirk Walthamstow, direkt neben Upper Edmonton. »Sie tauchen überall auf, sogar bei meinen eigenen Wahlkampfveranstaltungen«, erzählt er. Gerrard, Vertreter des linken Flügels der Labour Party, betont jedoch, dass es sich um eine kleine Minderheit handle, die außerdem in den örtlichen Moscheen keine Unterstützung finde. »Wir müssen die Auseinandersetzung mit ihnen führen, sie politisch besiegen, nicht polizeilich.«

2006 verhaftete die Polizei in Walthamstow acht Männer und warf ihnen vor, Sprengstoffanschläge auf Passagierflugzeuge geplant zu haben. Alle waren in Großbritannien geboren und Anfang bis Mitte der Zwanziger. Nach Angaben der britischen Polizei gehörte das sogenannte »Flugzeugkomplott« zu einer ganzen Reihe geplanter Anschläge. Der Inlandsgeheimdienst MI5 behauptet, ihm seien 2000 »potenzielle Terroristen« bekannt. Seit Beginn des Irakkriegs im Jahre 2003 sei deren Zahl um 300 Prozent gewachsen.

Besonders in den Gefängnissen haben die Islamisten Zulauf. Die Behörden reagieren darauf unter anderem mit speziellen Programmen: Imame betreiben mit »radikalisierten« Gefangenen Koranstudien, um sie vom Weg des Terrorismus abzubringen. Wer zum Ausstieg bereit ist, wird finanziell und bei der Suche nach Arbeit unterstützt. Ehemalige Aktivisten werden zu Sozialarbeitern ausgebildet und arbeiten in sozialen Brennpunkten mit Jugendlichen.

In Großbritannien werden die verschiedenen Strömungen der islamistischen Bewegung üblicherweise als »politischer Islam« zusammengefasst: ein Spektrum, das von Al Qaida bis zum puristischen und politisierten Islam reicht, wie ihn die ägyptischen Muslimbrüder vertreten. Mit Ausnahme Al Qaidas haben die Islamisten an Stärke gewonnen. Es sind nicht nur die Kriege in Afghanistan und in Irak, die ihnen Argumente liefern. Sie profitieren auch von einer weit verbreiteten Lagermentalität. Während in den britischen Medien über die Gefährlichkeit des Islams und der Muslime debattiert wird, registriert die Polizei so viele rassistische Übergriffe wie niemals zuvor. Die extreme Rechte, besonders die faschistische British National Party, richtet ihre Hetze mittlerweile bevorzugt gegen Muslime und deren angebliche Unwilligkeit oder Unfähigkeit zur Integration in die britische Gesellschaft.

»Sie hatten auf alles eine Antwort«

In Vierteln wie Walthamstow sind die Beziehungen zwischen migrantischem Proletariat und Polizei ohnehin von Misstrauen und Gewalt geprägt. Aber Terror und Terrorabwehr verschärfen die Situation. Nach offiziellen Statistiken werden Briten asiatischer Herkunft siebenmal häufiger von der Polizei angehalten und durchsucht als der Durchschnitt der Bevölkerung.

»Die Mehrheit der britischen Muslime steht nicht hinter diesen Bewegungen. Aber es gibt immer mehr Separatismus. Viele glauben, die Muslime sollten besser unter sich bleiben und ihre eigenen Institutionen haben«, sagt Rashad Ali. Bis vor zwei Jahren war er leitendes Mitglied von Hizb ut-Tahrir. Aber es mehrten sich Zweifel – besonders weil die Parteiführung ihre religiöse Interpretation immer dann änderte, wenn es ihr politisch opportun schien. Mittlerweile tritt Rashad Ali öffentlich gegen seine ehemaligen Kameraden an.

Hizb ut-Tahrir rekrutiert seine Mitglieder vor allem an den höheren Schulen und Universitäten. Auch Rashad trat ihr bei, als er an der Universität Sheffield Wirtschaftswissenschaften studierte, beeindruckt von der Konsequenz und dem umfassenden Theoriegebäude der Partei: »Sie hatten auf alles, wirklich auf alles eine Antwort. Und die konnten sie auch noch mit den heiligen Schriften begründen.« Rashad ist ein junger Mann, sorgfältig gekleidet, mit sanfter Stimme, aber festen Überzeugungen. Wer sich mit ihm unterhält, merkt schnell, wie sehr die allgemeine Darstellung der islamistischen Bewegung von Vorurteilen und Klischees geprägt ist. »Die Religion hat mich nicht hineingetrieben, sie hat mich da rausgeholt!«, erklärt er. Rashads Aktivität wurzelte nicht in religiösem Glauben, sondern in der Kritik an der westlichen Gesellschaft. Aber mindestens ebenso sehr richtete sie sich gegen den traditionellen Islam seiner Eltern.

Wie gewinnt man Herzen und Köpfe?

Politiker und Medien betonen immer wieder die Notwendigkeit, im Interesse der Terrorbekämpfung die Herzen und Überzeugungen der Menschen zu gewinnen. »Winning hearts and minds« lautet das englische Schlagwort. »Wir müssen die Leute von vornherein davon abhalten, in den gewalttätigen Extremismus abzurutschen«, sagte Innenministerin Jacqui Smith, als sie eine »nationale Deradikalisierungsstrategie« vorstellte. Sie soll gleich mehrere Zwecke erfüllen: gezielt radikalisierte Jugendliche identifizieren, sie vom Islamismus abbringen und die Gegner der Islamisten stärken.

Allein von Mitte 2008 bis Mitte 2009 stellt die britische Regierung umgerechnet rund 16 Millionen Euro für die »Extremismusbekämpfung« zur Verfügung. Sozialarbeiter in Jugendzentren oder Bewährungshelfer sollen eng mit der Polizei kooperieren, auf lokaler Ebene wurden Gesprächskreise eingerichtet, um frühzeitig eingreifen zu können, »wenn Radikalisierung stattfindet«, formulierte Jacqui Smith. Obwohl das Programm bei vielen Stadtverwaltungen und Kommunen unpopulär ist, weil sie ihre Aktivitäten nicht vordergründig unters Motto der Terrorabwehr stellen wollen, erhalten mittlerweile über 70 von ihnen Zahlungen für entsprechende Projekte. Einige unterstützen mit den Geldern nun Jugendzentren und Sportvereine. Zum Programm »Gewalttätigem Extremismus vorbeugen« gehören außerdem die Vernetzung von Polizei, örtlichen Sozialeinrichtungen und muslimischen Organisationen und die Unterstützung von Verbänden, die zwar klerikal orientiert sind, sich aber vom Terrorismus distanzieren.

Bisher hat der staatliche Kampf gegen den Extremismus allerdings wenig erreicht. Mitte September wurde der Presse ein Memorandum zugespielt, in dem die Innenministerin warnt, dass die sich verschärfende Wirtschaftskrise zu Spannungen zwischen Alteingesessenen und Einwanderern führen wird, womöglich auch zu einer Welle terroristischer Aktionen.

Die Bewohner von Walthamstow in London wird die Krise besonders hart treffen. Die Arbeitslosigkeit ist ohnehin beträchtlich, sogar nach den geschönten offiziellen Zahlen – aber unter Einwanderern aus Pakistan und Bangladesch ist sie doppelt so hoch wie unter weißen Engländern.

* Aus: Neues Deutschland, 19. September 2008


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