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Miliband – und Gabriel?

Von Thomas Kachel *

Von Thomas Kachel *

»We were wrong«. – Wir hatten unrecht. Ein Satz, der gerade Geschichte gemacht hat. Gesagt hat ihn Ed Miliband, der frisch gekürte Vorsitzende der Labour Party in Großbritannien, in seiner Antrittsrede auf dem Labour-Parteitag. Gemeint hat Miliband den Irak-Krieg und die britische Beteiligung daran. Sein eigener Bruder, der Blair-Protegé, und Blairs gesamte alte Führungsriege heulten wütend auf, die rechte Presse sowieso, aber viele Briten, und viele Europäer mit ihnen, waren erleichtert, so wie Kate Hudson von der britischen Friedensbewegung: »Wir haben seit sieben Jahren darauf gewartet, dass ein Labour-Vorsitzender endlich zugibt, dass Irak ein Fehler war.«

So lange hat es gedauert. Es brauchte den Newcomer, um das Tabu zu brechen, um die offene Wunde, das Symbol des Scheiterns von New Labour beim Namen zu nennen, und er gewann damit schließlich innerparteiliche Mehrheiten. Spät, aber er schaffte es.

Bedeutsam ist Milibands Satz nicht nur, weil es das erste Mal sein dürfte, dass das Eingeständnis eines Fehlers einem Politiker den Weg zum Parteivorsitz geebnet hat. Er macht auch Geschichte, weil er demonstriert, wie sich Mehrheitsauffassungen der Wählerschaft, und auch der Basis der sozialdemokratischen Parteien Europas, endlich wieder Gehör verschaffen. Die Mehrheit der Mitglieder der Labour Party, und erst recht ihrer Wähler, war immer schon gegen den Irak-Krieg gewesen. Sie wurden nur nie gefragt. Genauso verhält es sich mit dem bisherigen antisozialen Kurs der europäischen Sozialdemokratien. Wo immer sozialdemokratische Parteien in Europa mitdereguliert und mitgekürzt haben, haben sie gegen ihre eigenen Mehrheiten regiert. Ein Blick in den Sozialreport von Eurobarometer 2009 reicht aus, um das zu erkennen: Trotz 20 Jahren neoliberaler Dauerberieselung sind solidarisch-sozialstaatliche Mehrheiten in der Wählerschaft der EU ungebrochen. Sie beharren z.B. auf einer staatlichen Garantie von Gesundheitsfürsorge, Schulbildung und sozialer Sicherung – und zwar selbst dann, wenn sie das mehr Steuern kostet – 63 Prozent der Befragten. Und sie bestehen auf der Verantwortlichkeit des Staates, nicht des Einzelnen, im Kampf gegen Armut (55 Prozent). Aber selbst verlorene Wahlen ändern am sozialdemokratischen Suizid-Kurs nichts – noch nicht.

Und so ist das andere ermutigende Zeichen, das von der gewonnenen Kampfkandidatur des jüngeren Miliband ausgeht: Die sozialdemokratischen Parteien, diese großen trägen Tanker, sind eben doch von der Stelle zu bewegen – und zwar nach links. Politischer Wandel kann durchaus mit personellem Wechsel beginnen. Die Frage ist nur, ob z.B. in der SPD dieser Prozess überhaupt schon begonnen hat. Eine neue Generation von Politikern ist da, aber bislang bringt auch Gabriel es nicht über sich, das SPD-Symbol des Scheiterns beim Namen zu nennen und sich bei den Opfern zu entschuldigen: Hartz IV.

Damit dieses Eingeständnis der Fehler der europäischen Sozialdemokratie in den letzten Jahren sagbar wird, muss unter anderem auch die Europäische Linke ihren Forderungsdruck aufrecht erhalten. Ohne solchen Druck kein Eingeständnis, und ohne dieses Eingeständnis ist der entscheidende makroökonomische Paradigmenwechsel innerhalb der europäischen Sozialdemokratie, wieder hin zur Reichtums- und Verteilungsfrage, nicht zu erreichen. Ist Gabriel der deutsche Miliband? Wir werden sehen.

* Der Autor studierte Europawissenschaften in Cambridge und ist Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der sächsischen Linken.

Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2010 ("Brüsseler Spitzen")



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