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Rigide Etatkürzungen, steigende Erwerbslosigkeit, ein großer Teil der Jugend ohne Perspektive: Großbritanniens Klassengesellschaft steckt tief in der Krise

Von Christian Bunke *

Noch bis vor wenigen Tagen versprach die britische Regierung, daß der private Sektor den Stellenabbau im öffentlichen Dienst auffangen würde. Doch dann kamen die neuen Erwerbslosenstatistiken. Und die belegten so ziemlich das Gegenteil. Gleichzeitig erschienen die »A-Levels«-Ergebnisse, das britische Gegenstück zum Abitur. Daraus geht hervor, daß nun eine Rekordzahl junger Menschen an die Universitäten strebt, während es durch Budgetkürzungen noch nie so wenig Plätze gab wie derzeit.

Die amtliche Arbeitslosenrate des vergangenen Quartals wird mit 7,9 Prozent angegeben. 2,49 Millionen Menschen sind demnach ohne Erwerbsjob. 23,2 Prozent aller 16- bis 64jährigen, also insgesamt 9,3 Millionen Briten, gelten als »ökonomisch inaktiv«. Die Zahl der Erwerbslosen ist in den zurückliegenden drei Monaten um 38000 Personen gestiegen. 1,23 Millionen Menschen hatten auch nach sechs Monaten Erwerbslosigkeit keinen neuen Job gefunden, das waren 66000 mehr als im Vorquartal. Laut Angaben des britischen Statistikbüros ist dies der höchste Quartalsanstieg seit Juni 2009. Im Vereinigten Königreich wird Arbeitslosen nur eine Unterstützung gezahlt, die unabhängig vom vorherigen Gehalt ist (derzeit rund 67,50 Pfund pro Woche (etwa 78 Euro) für eine alleinstehende Person und 105,95 Pfund für Paare). Damit kann man im Grunde nicht auskommen. Nach Angaben der amtlichen Statistiker ist die Zahl der zur Verfügung stehenden Jobs ist im vergangenen Quartal um 22000 Stellen gesunken. Zugleich verloren 154000 Menschen ihren Arbeitsplatz, 32000 mehr als im esten Quartal. Am stärksten betroffen waren Frauen. 1,05 Millionen von ihnen sind inzwischen erwerbslos, soviele wie seit 23 Jahren nicht mehr. Hier wird der Zusammenhang mit dem rigiden Stellenabbau im öffentlichen Sektor deutlich: 65 Prozent aller dort Beschäftigten sind Frauen.

Nach den aktuellen Unruhen in vielen Städten Großbritanniens richten sich die Blicke verstärkt auf die Entwicklung der Jugenderwerbslosigkeit. Offiziell liegt die Rate bei 16- bis 24jährigen Briten bei 20,2 Prozent. Das sind 949000 junge Menschen ohne Job. Auch diese Zahl ist im Quartalsvergleich gestiegen (plus 15000), doch eine weitaus drastischere Erhöhung wird es wohl in den kommenden Monaten geben. Grund ist das Chaos im Bildungsbereich.

Britische Universitäten müssen mit Budgetkürzungen von bis zu 80 Prozent umgehen. Deshalb haben viele ihr Kursangebot zusammengestrichen und gleichzeitig die Studiengebühren erhöht. Ab 2012 werden die meisten Hochschulen 9000 Pfund pro Jahr und Studierenden verlangen. Das bedeutet zugleich, daß in diesem Jahr ein noch nie dagewesener Run auf die Universitäten stattfindet. »A Level«-Absolventen dieses Jahrgangs verzichten auf die sonst übliche Auszeit des »Gap-Jahres« und versuchen aus finanziellen Gründen lieber sofort bei einer Universität unterzukommen. Sie treffen dort auf die Studierwilligen aus dem Abschlußjahrgang 2010, die ihr »Pausenjahr« genommen hatten oder damals keinen Studienplatz bekommen haben und es nun wieder probieren.

Wegen der dramatisch angewachsenen Nachfrage haben viele Universitäten Zugangsbeschränkungen eingeführt. Nur jene Absolventen mit Bestnoten haben eine Chance auf einen Studienplatz. Hier kommt der krasse Klassengegensatz des britischen Bildungssystems ins Spiel. 30 Prozent der Spitzenergebnisse bei den Level-A-Abschlüssen wurden in teuren Privatschulen erzielt. Diese unterrichten nur 6,5 Prozent aller Kinder Großbritanniens, und lediglich 13,4 Prozent der »Abiturienten« kommen von einer Privatschule.

189992 junge Menschen mit dem Befähigungsnachweis für ein Hochschulstudium wollen dieses jetzt auch in Angriff nehmen. Dem stehen aber nur 29000 freie Studienplätze gegenüber. Britische Universitäten dürften demnach ab diesem Jahr so oberschichtlastig sein wie seit dem viktorianischen Zeitalter nicht mehr. Für jene, die keinen Studienplatz abbekommen, gibt es kaum alternative Möglichkeiten. Das belegen nicht zuletzt die aktuellen Statistiken. Die Wirtschaft stagniert, sie kann und will arbeitsuchende Jugendliche nicht auffangen.

Konservative Politiker reden gern davon, Erwerbslosen Anreize schaffen zu wollen, damit sie Arbeit finden. Deshalb dürften Sozialleistungen nicht höher sein als Löhne. Damit werden zukünftige Kürzungen im Sozialbereich legitimiert. Dem steht gegenüber, daß derzeit immer noch 172000 Menschen mehr erwerbslos sind als zu Beginn der Wirtschaftskrise 2007. Hinzu kommt die steigende Zahl von Working poor, arbeitenden Menschen, die unfreiwillig schlecht bezahlte Teilzeit- oder temporäre Beschäftigungen annehmen, obwohl sie Vollzeitjobs suchen. Die Zahl der »unfreiwilligen« Teilzeitjobber wird mit 1,264 Millionen angegeben.

Großbritannien fällt in Zustände zurück, wie man sie aus dem 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert kennt –der »Manchester-Kapitalismus« erlangte traurige Berühmtheit. Der neue Schub der globalen Wirtschaftskrise wird dazu weiter beitragen. Es ist deshalb kein Wunder, daß manche jungen Menschen sich an Kämpfe aus diesen Zeiten erinnern. Vor 75 Jahren führten 75 Erwerbslose aus der nordenglischen Kleinstadt Jarrow einen vielbeachteten Hungermarsch nach London durch, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Ab dem 1. Oktober wird die »Youth Fight for Jobs«-Kampagne diesen Marsch wieder neu auflegen. Und am 2. Oktober wird der Parteitag der Konservativen in Manchester eröffnet. Bereits jetzt werden Zehntausende erwartet, die die Gelegenheit nutzen werden, sich bei ihrer Regierung zu »bedanken«.

* Aus: junge Welt, 20. August 2011


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