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EU-Rammbock Cameron

Weniger Macht für Brüssel: Britischer Premier stemmt sich trotz heftiger Anfeindungen gegen zentralistische Union. Grundsatzrede soll Richtung weisen

Von Klaus Fischer *

Am heutigen Freitag (18. Jan.) will David Cameron sagen, wo es langgeht. In der Konsequenz geht es darum, ob das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland in der EU verbleibt, und wenn ja, zu welchen Konditionen. Das Vorgehen des Premierministers polarisiert die Inselbevölkerung und verursacht erhebliche Aufregung unter den Befürwortern des angestrebten Superstaates Europa auf dem Festland.

Doch »the Speech« wird nicht nur eine Verbeugung Camerons vor den 56 Prozent der Briten, die ihr Land möglichst schnell aus der Europäischen Union verabschieden möchten. Der Regierungschef muß vor allem die Interessen des heimischen Kapitals im Blick behalten, wenn sein Kampf um die Wahrung britischer Interessen am Ende auf ein »Cheerio, Brüssel« hinauslaufen sollte.

Mit einem »Brexit« würde das selbsternannte »Europa«, gemeint ist immer die EU, einen ihrer drei wichtigsten Steine aus dem Fundament verlieren. Je nach Berechnungsvariante ist Großbritannien die zweit- bzw, drittstärkste Wirtschaftsmacht der Union. Trotz zuletzt dramatisch krisenhafter Entwicklung repräsentiert London mit seinen Partnerstaaten im Commonwealth zudem einen seine Wirtschaftskraft weit übersteigenden globalen Einflußfaktor. Dank der Bedeutung seiner Landessprache für die allgemeine globale Kommunikation, Technologie, Wissenschaft und Entertainment bestimmt das alte Empire auch heute noch maßgeblich die globale kulturelle Entwicklung. Kurz, ohne London ist Brüssel nur Residenz einer zerfallenen Monarchie und Vorposten der allgemeinen Kapitalinteressen des Festlandes.

Keine echte Option

Allerdings kann die Insel der EU nicht einfach den Rücken kehren. Zwar würde das in London dominierende globale Finanzkapital den zaghaften Brüsseler Regulierungsversuchen entgehen. Aber die Fonds und Broker, Banken und Investmentvehikel der City verlören womöglich einen gigantische Markt. Auch die allmählich wieder im Aufbau befindliche Industrie könnte einen Britain Exit wohl schwer verkraften – und das aus mehr als einem Grund: Traditionell starke Branchen wie die Rüstungs- und Pharmaindustrie könnten einen erheblichen Wettbewerbsnachteil erleiden. Vermutlich würden Investoren aus Asien, die verlängerte Werkbänke auf der Insel unterhalten, abwandern und neue Werke in Polen, Irland oder Tsche­chien hochziehen. Beispielsweise japanische Autobauer und Elektronikkonzerne. Die prekäre Lage auf dem britischen Arbeitsmarkt würde das nicht verbessern.

Mittlerweile sind die Ökonomien von Insel und Teilkontinent eng miteinander verbunden. »Mehr als die Hälfte der britischen Exporte gehen in die EU, wir verkaufen mehr nach Nordrhein-Westfalen als nach In­dien«, räumte Schatzkanzler George Osborne gegenüber der Tageszeitung Die Welt ein. Eine Empfehlung für den Austritt aus der EU ist das alles nicht. Trotz markiger Worte und stabiler Umfrageergebnisse wissen das auch viele Brexit-Anhänger.

Das tatsächliche Problem liegt eher in der Verfaßtheit der Union, ihrem Selbstverständnis als Staats- und Wirtschaftssubjekt. Die Briten haben einschlägige Erfahrungen mit der Bürokratie gesammelt (das Parkinsonsche Gesetz fußt nicht zufällig auf der Analyse der britischen Admiralität und der Royal Navy zu seligen Weltherrschaftszeiten). Deshalb gelten die Brüsseler Heerscharen von Beamten, Generaldirektoren und Kommissaren auf der Insel (nicht zu Unrecht) als Synonym für Ineffizienz, Geldverschwendung und Regulierungswut. Cameron will »ein Europa, das besser zu uns paßt«. Dazu versucht er, die Vertragsgrundlagen der EU zu ändern, will so nationale Kompetenzen zu Lasten der EU-Bürokratie stärken. Er präferiert im Grunde ein Modell nach Vorbild der alten EG, nicht die Errichtung eines Verbotenen Palastes in der belgischen Hauptstadt.

In der EU-Kommission gilt der Briten-Premier inzwischen als Schreckgespenst. Das ist aus Sicht der dortigen Statthalter diverser nationaler und supranationaler Interessen nachvollziehbar. Die sorgen sich vermutlich mehr um ihrer Pfründe, als um die Menschen in Europa. Aber auch im Lande gibt es parteipolitisch und interessenbedingt Widerstand.

Camerons Vize Nick Clegg von den verbündeten Liberalen meldete am Donnerstag nochmals Bedenken an: »Ich denke nicht, daß es im britischen Interesse ist und drei Millionen von Europa abhängende Jobs geschützt werden, wenn man irgendwie nahelegt, daß man sich in Richtung eines Austritts bewegt«, sagte er dem Radiosender LBC. Oppositionsführer Ed Miliband von Labour warf Cameron in der BBC vor, Großbritanniens Wirtschaft zu gefährden. »Ich befürchte, daß die Strategie des Premierministers uns zum Austritt führt, was unserer Wirtschaft erheblich schaden würde.«

Merkel auf »standby«

Eher ambivalent scheint die Haltung des offiziellen Deutschland zu sein. Zwar irrlichtete der Bundesaußenminister wie üblich mit diversen Statements durch die Medien, aber klare Kante gab es weder von der Bundeskanzlerin noch von ihrem Superminister und Großeuropa-Fan Wolfgang Schäuble. Wer den Geist aus der Flasche lasse, laufe Gefahr, ihn »nicht wieder in die Flasche hineinzubekommen«, so Guido Westerwelle. Dennoch dürfte die Bundesregierung eher ein Interesse haben, sich Cameron anzunähern, statt ihn zu verdammen. Denn auch in Kanzleramt und Finanzministerium wird angekommen sein, daß der Versuch, die EU und vor allem die Euro-Länder, unter deutsche Fuchtel zu zwingen, gescheitert ist. Die EZB macht, was sie will, in Brüssel grinst man, wenn Merkel mal wieder einen Europa-Top-Job für sich reklamiert und die Regierungen der »Peripherie« sind weiterhin nicht ernsthaft gewillt, dem Austeritätsdiktat aus Deutschland zu folgen. Außer, daß sie ein Viertel der Gesamtzeche zu zahlen hat, kann die Bundesrepublik kaum etwas als Ergebnis ihres Vorstoßes vermelden. Da ist es womöglich angeraten, sich mit London zu verbünden.

Den linken Gegnern eines Kapital- und konzerngesteuerten Zentraleuropa erweist der Brite im Grunde auch einen Dienst: Er verlangsamt zumindest den schleichenden Staatsstreich, mit dem Eurokraten und Großlobbyisten an Verfassungen und Wählern vorbei Fakten schaffen wollen. Cameron ist so unfreiwillig der Rammbock, der die bereits vermauerten EU-Tore aufbrechen und frischen Geist in die Burg dringen lassen könnte – auch wenn er persönlich das gar nicht beabsichtigt. Das Handelsblatt drückte es am Donnerstag so aus: »Auch wenn Europa es anders sieht: In dieser Debatte ist Cameron der Pro-Europäer, der aber, anders als die Labour Party, den Kopf nicht in den Sand steckt. Er will nicht nur einen britischen EU-Austritt verhindern, sondern eine 40jährige Beziehung von Haßliebe, Mißtrauen, Widerstand und doch immer wieder auch produktivem Engagement mit der EU auf eine nachhaltigere Grundlage stellen, damit sich die Briten ›wohl in Europa fühlen‹. Hätte er Erfolg, würde ganz Europa profitieren.«

* Aus: junge Welt, Freitag, 18. Januar 2013


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