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Cameron verärgert Brüssel

Denkanstöße des britischen Premiers zur EU von Partnern als Affront aufgefaßt *

Großbritanniens Premierminister David Cameron will sein Volk über den Verbleib in der EU abstimmen lassen – und bekommt dafür aus Brüssel und der EU-Provinz Ratschläge, Belehrungen und verbale Ohrfeigen. Cameron hat am Mittwoch die bereits für vergangene Woche vorgesehene Rede gehalten, mit der er Reformen der EU einforderte und zugleich Konsequenzen andeutete, sollten diese nicht gewünscht sein. Darin versprach er den Briten nach der Wiederwahl, also spätestens Ende 2017, ein Referendum darüber, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht.

»Wenn diese neue Übereinkunft erreicht ist, geben wir dem britischen Volk ein Referendum mit der ganz einfachen Wahl: rein oder raus«, kündigte Cameron in seiner mit Spannung erwarteten europapolitischen Grundsatzrede an. Entweder könne Großbritannien dann »zu diesen neuen Bedingungen in der EU bleiben – oder ganz austreten«.

Die Ernüchterung über die EU habe ein »Allzeithoch« erreicht, begründete der Premier. Die Zustimmung zum Verbund sei inzwischen nur noch sehr schwach. Ginge es nach ihm, sollte die »neue« Europäische Union deshalb auf fünf Säulen ruhen: Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität, Rückgabe politischer Kompetenzen von Brüssel an die Hauptstädte, demokratische Kontrolle und Fairneß. »Länder sind verschieden«, sagte Cameron. Er wandte sich zudem gegen Denkverbote, wenn es um Vorschläge für die Zukunft der Gemeinschaft gehe.

Dies ist nicht aus der Luft gegriffen, das bewies am Mittwoch der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. Der Brite wage »ein gefährliches Spiel aus taktischen, innenpolitischen Gründen«, so der SPD-Mann. Wer sich aus den EU-Verträgen ein individuelles Menü zusammenstelle, schaffe damit einen riskanten Präzedenzfall, der zum Zerfall der Union führen könne.

Auch die Bundesregierung ließ Skepsis gegenüber Camerons Plänen verbreiten. Europa sei mehr als eine bloße Bündelung nationaler Interessen, nämlich eine »Schicksalsgemeinschaft«, behauptete Außenminister Guido Westerwelle (FDP) forsch. »Rosinenpickerei ist keine Option«, setzte er hinzu.

Der französische Außenminister Laurent Fabius griff zu einem sportlichen Vergleich: »Wenn man einem Fußballverein beitritt, kann man nicht sagen, daß man Rugby spielen möchte«, sagte er dem Radiosender France-Info.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Januar 2013


Camerons Albtraum heißt Farage

Rechte Anti-EU-Partei profitiert vom Kurs des britischen Premiers

Von Ian King, London **


Mittwoch wird Premier David Cameron seinen Landsleuten eine Volksabstimmung über den britischen Verbleib in der EU in der nächsten Legislaturperiode versprechen.

In seiner vertagten Europa-Rede - ursprünglich wollte er sie schon am vergangenen Freitag halten - will Cameron von der EU Rechte in der Einwanderungs- und Rechtspolitik sowie im sozialen Bereich zurückfordern und drohen, die europäische Zusammenarbeit zur Verbrechensbekämpfung zu beenden. Damit riskiert er eine Brüskierung seiner Partner und einen Investitionsstopp der Unternehmen, die ihre Autos im Lande herstellen lassen, weil Großbritannien der EU angehört. Warum diese Vabanque-Politik?

Man sollte auf die Wenn-Sätze des Premiers aufpassen: »Wenn ich 2017 einer konservativen Mehrheitsregierung vorstehe ...« - Unwahrscheinlich. Nach neuesten Umfragen genießt Labour einen Vorsprung zwischen fünf und 13 Prozentpunkten. Aber gesetzt den Fall - würde es ein wiedergewählter Cameron wagen, Minimalkonzessionen seiner Partner als ausreichend für einen EU-Verbleib zu verkaufen? Denn Berlin, Paris, gar Athen haben andere Sorgen und lassen sich von Camerons Geschrei, andernfalls sich selbst zu erschießen, nicht beeindrucken. Dabei sieht sich der britische Regierungschef als Streiter für und nicht gegen die EU-Mitgliedschaft. Denn es gibt daheim noch eindeutigere Anti-Europäer.

Gemeint ist die Rupert-Murdoch-Presse, die einen infamen Propagandafeldzug gegen Brüssel führt. Die schrille Ablehnung alles Fremdartigen, das kein Englisch spricht, bleibt nicht ohne Wirkung auf einen verblendeten Teil der Bevölkerung. Als Cameron beim EU-Gipfel gegen die Pläne zur Rettung der Eurozone ein wirkungsloses Veto einlegte, fanden über 80 Mitglieder der Tory-Fraktion dies nicht ausreichend und stimmten gegen den Parteichef und für den EU-Austritt.

Hier zeigen sich sowohl Labour-Opposition als auch der liberale Koalitionspartner staatstragend. Ed Miliband will sich als zukünftiger Premier nicht durch das Versprechen einer Abstimmung von den wichtigeren Wirtschafts- und Sozialproblemen ablenken lassen; Nick Cleggs Liberale galten immer als europafreundlich. Die Profiteure der Anti-Europa-Stimmung finden sich vor allem in der United Kingdom Independence Party (UKIP) unter Nigel Farage, einem rechten Wolf, der Kreide fressen kann. Bei der letzten Europawahl wurde die populistische, fremdenfeindliche UKIP mit 17 Prozent vor Labour zweitstärkste Partei. Zur Zeit liegen die Rechten bei zwölf Prozent, das ist mehr als die Liberalen haben. Farage kommt die Tatsache zugute, dass er sich, anders als die ebenfalls im Europäischen Parlament vertretene faschistische British National Party, als Normalo geben kann, dem man nicht sofort am Tresen ausweicht. Wenn Cameron seinem Rivalen vorwirft, nicht alle Tassen im Schrank zu haben, lächelt Farage süffisant und die Beschimpfung fällt auf den Urheber zurück. Gegen farbige Einwanderer und die Homo-Ehe sind leider viele Briten, Farage spricht für sie. Wenn Cameron nachts nicht schlafen kann, sorgt dafür er, weniger Miliband.

Dabei wird die UKIP bei der Parlamentswahl 2015 keinen Blumentopf gewinnen. Im britischen Mehrheitswahlrecht müssen sich die Anhänger kleiner Parteien auf bestimmte Wahlkreise und Regionen konzentrieren, was der Farage-Partei, anders als den keltischen Nationalisten, schwer fällt. Aber wer nicht selber gewinnen kann, ist trotzdem imstande, dem Tory-Rivalen zu schaden. Jeder Rechtswähler, der nicht für die Konservativen stimmt, ist in hart umkämpften Wahlkreisen eine halbe Stimme für Miliband. Darum beschimpft Cameron Farage, darum auch die Volksabstimmung. Es dürfte dem Premier nichts nutzen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Januar 2013


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