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Angriff auf die Schwächsten

Großbritannien: Neues Gesetz sieht Kürzungen für Kranke und Behinderte vor

Von Christian Bunke, Manchester *

Am Samstag (28. Jan.) werden Aktivisten des Netzwerkes UK Uncut und der Gruppe »Disabled People Against Cuts« mit direkten Aktionen ihren Unmut gegen die »Welfare Reform Bill« in London auf die Straße tragen. Mit diesem Gesetz sollen wesentliche Teile des britischen Sozial­staates abgeschafft werden. In dem Aufruf zu den Protesten heißt es, mit den neuen Bestimmungen würden »essentielle Rettungsleinen« losgeschnitten werden, »auf die die verwundbarsten Menschen unserer Gesellschaft angewiesen sind«.

Die Vorlage sieht unter anderem vor, Behinderte auf ihre Arbeitsfähigkeit zu testen. Das soll zukünftig Voraussetzung für die etwaige Zahlung von Sozialhilfen sein. Die Tests sollen von dem Privatkonzern ATOS durchgeführt werden. Dessen Mitarbeiter können keinerlei medizinische Ausbildung vorweisen. Statt dessen haben sie detaillierte Zielvorgaben der Regierung, Menschen aus dem Sozialsystem herauszubefördern. Rund 3,2 Millionen Menschen sollen auf diese Weise getestet werden.

Laut Regierungsangaben ist der Sinn des Gesetzes, das britische Sozialsystem zu vereinfachen. Unterschiedliche Formen der Sozialhilfe sollen in einem System vereinheitlicht werden. Dadurch soll eine Reihe von Einsparungen erreicht werden. Die Organisation »The Hardest Hit«, eine Vereinigung mehrerer Wohlfahrtsorganisationen, rechnet mit rund neun Milliarden Pfund Kürzungen bei Beihilfen für Behinderte und Kranke. 700000 Menschen könnten ihre Unterstützung gekürzt oder ganz gestrichen werden. Dabei geht es um lebenswichtige Dinge. So sollen zum Beispiel Beihilfen wegfallen, mit denen Behinderte ihren Transport zur Arbeit oder zum Einkaufen bezahlen.

Die Vorlage ist in Großbritannien höchst umstritten. Die britische Staatskirche, die Church of England, lehnt sie in vielen Punkten ab. In den vergangenen Wochen wurden Teile des Gesetzes vom House of Lords, dem britischen Oberhaus, abgewiesen. In den Medien wurde dies als verheerende Niederlage für die Regierung dargestellt. Tatsächlich wird sie das Gesetz jedoch im Unterhaus in der von ihr gewünschten Form durchbringen.

Die Regierung kann sich dabei auf die Unterstützung durch die oppositionelle Labour-Partei stützen. Zwar stimmten Labour-Mitglieder im Oberhaus gegen einen Teil des geplanten Gesetzes. Dabei ging es um eine Obergrenze von Sozialbeihilfen für Familien, wodurch 67000 Familien mit drastischen Einschnitten rechnen müssen. Danach gab Labourchef Ed Miliband aber zu verstehen, daß er auch diesen im Oberhaus zu Fall gebrachten Teil des Gesetzes unterstütze. Gleichzeitig erklärte er, er könne nicht versprechen, Sparmaßnahmen der Regierung zurückzunehmen, sollte seine Partei in Zukunft die Regierung stellen.

Dies führte zu enttäuschten Äußerungen von den Gewerkschaften, die nach wie vor jährlich Millionenbeträge an Labour spenden. Der Generalsekretär der Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst (UNISON) erklärte: »Unsere Mitglieder brauchen Hoffnung und einen Grund, Labour zu wählen. Diese Hoffnung wurde ihnen entrissen.«

Die von der Regierungskoalition geplante »Reform des Wohlfahrtsstaates« ist ein Mammutprojekt. Für Lord Carey, den ehemaligen Bischof von Canterbury und Mitglied der Konservativen Partei im Oberhaus, ist das Gesetz eine Notwendigkeit, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Außerdem sei es eine Hilfe für Erwerbslose und Behinderte, ihr Leben zu verändern und Arbeit zu finden. Das sei ein Gebot christlicher Nächstenliebe, so Carey in einem Kommentar in der konservativen Daily Mail.

* Aus: junge Welt, 27. Januar 2012


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