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Wahlsieger IWF?

Nach dem Urnengang vom Wochenende drohen den Tunesiern »drei Jahre schmerzhafter Reformen« durch eine große Koalition – unter Aufsicht des Währungsfonds

Von Raoul Rigault *

Viel Auswahl hatten die Tunesier am Sonntag bei den ersten freien Parlamentswahlen nach dem Sturz des Langzeitdiktators Zine Al-Abidine Ben Ali im Januar 2011. Fünfzehntausend Kandidaten (per Gesetz die Hälfte davon Frauen) traten in den 33 Stimmbezirken gegeneinander an. Um das Präsidentenamt konkurrieren Ende November 27 Bewerber. Was die politische Substanz anbelangt, ist das Angebot allerdings sehr begrenzt. Die beiden wichtigsten Parteien, das heißt die Sammlungsbewegung der alten Eliten Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) des 88jährigen Béji Caid Essebsi sowie die moderat islamische Ennahda-Partei von Rashid Ghannouchi, liegen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht auf einer Linie. Da sich die kulturellen Spannungen zwischen Weltlichen und Religiösen nach dem Regierungsverzicht von Ennahda und der gemeinsamen Ausarbeitung einer neuen Verfassung deutlich verringert haben, rechnen viele mit einer großen Koalition. Beobachter im In- und Ausland halten eine solche angesichts der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten tiefen Einschnitte auf Kosten der Masse der Bevölkerung, geradezu für unumgänglich. Übergangskabinett aus »Technokraten«

Die künftigen Leitlinien vorgegeben hatte Mitte Oktober auf einer Pressekonferenz bereits der Chef des aus »Technokraten« bestehenden Übergangskabinetts Mehdi Jomaa. »Wir brauchen dringend Reformen, die eine Menge Mut erfordern, Steuerreformen und die Umstrukturierung des öffentlichen Dienstes, Subventionsreformen und Schritte zur Verbesserung des Investitionsklimas eingeschlossen.« Doch damit nicht genug: »Die nächste Regierung sollte außerdem die Energiereformen fortsetzen und den Finanzsektor durch die Umstrukturierung der öffentlichen Banken reformieren. Wir benötigen mindestens drei Jahre schmerzhafter Reformen, um die Wirtschaft wiederzubeleben.«

Zwar weist Tunesiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach dem Einbruch von 2011 wieder ein Plus auf, doch die Regierung rechnet in diesem Jahr nur mit einem Zuwachs von 2,3 bis 2,5 Prozent. Deutlich weniger als die durchschnittlich 4,4 Prozent des vorrevolutionären Jahrzehnts von 2000 bis 2010 und nur die Hälfte der mindestens fünf Prozent, die nach Ansicht von Analysten erforderlich sind, um die offiziell auf 16 Prozent geschätzte Massenarbeitslosigkeit zu reduzieren, die vor vier Jahren ein wichtiger Auslöser des Aufstandes war. Anhebung des Rentenalters

Hauptproblem des Landes ist das massive Handelsbilanzdefizit von zuletzt sechs Milliarden US-Dollar. Gut ein Viertel der Einfuhren waren nicht durch eigene Ausfuhren gedeckt. Selbst bei Nahrungsmitteln verzeichnete man ein deutliches Minus. Einzige Stärke bildet der Textil- und Bekleidungssektor. Doch selbst die verarbeitende Industrie wächst nur noch unterdurchschnittlich. Mechanische und Elektrobetriebe schrumpften 2013 gar um 1,5 Prozent. Folge ist ein immer größeres Loch im Staatshaushalt, dessen Defizit sich binnen zwölf Monaten von 4,6 auf 8,0 Prozent des BIP erhöhte. Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand legte von 46,2 auf 50,9 Prozent zu.

Im Vergleich zu den in der Euro-Zone üblichen Schuldenbergen ist das ein lächerlicher Wert, doch für einen instabilen, von den Beziehungen zur EU abhängigen Peripheriestaat eine gefährliche Last, wenn es darum geht, sich an den internationalen Finanzmärkten oder beim IWF das fehlende Geld zu leihen. Zumal Tunesien mit 7,8 Milliarden US-Dollar kaum über Reserven verfügt und der Dinar beständig an Wert verloren hat. Die Devisenbestände der Nationalbank reichen gerade mal, um vier Monate lang die Importe zu bezahlen. In puncto Bonität sank man daher unter 148 Ländern auf den 75., bei der Konkurrenzfähigkeit auf den 83. Rang.

Um zahlungsfähig zu bleiben, liehen sich die neoliberalen Technokraten in Tunis im letzten Jahr bereits 1,78 Milliarden Dollar beim IWF, selbstverständlich unter der Auflage, »ökonomische Reformen« durchzuführen. Zur Finanzierung des nächsten Haushalts haben bereits »neue Diskussionen mit dem IWF begonnen«. Im Zuge dessen wurden im Juli die Treibstoffsubventionen gekürzt, was zu einem Anstieg der Benzinpreise um 6,3 Prozent führte. Diesen Monat wurden neue Steuern erhoben. Doch das ist nur der Anfang. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Maßnahmen kündigte Wirtschaftsminister Nidhal Ouerfelli wenige Tage vor den Parlamentswahlen die Anhebung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre im kommenden Jahr an. Obwohl weniger als acht Prozent der Bevölkerung über 60 ist, könne sich Tunesien diesen Luxus nicht mehr leisten. Worte, die irgendwie bekannt vorkommen.

Offenkundig ist die Bereitschaft der herrschenden Klasse zu Zugeständnissen an die breite Masse nach dem Sturz der alten Ordnung vorbei. Die Aufstände des »arabischen Frühlings« hätten die Regierungen dazu veranlasst, die Staatsausgaben drastisch zu erhöhen, um sich sozialen Frieden zu erkaufen. Das habe die Budgetdefizite anschwellen lassen und das Vertrauen der Privatwirtschaft langfristig erschüttert, verkündete Noch-Ministerpräsident Jomaa am 13. Oktober gegenüber der Presse. Damit soll in der »Startup-Demokratie« nun Schluss sein. »Unter den wichtigsten politischen Parteien herrscht Übereinstimmung darüber, dass die wirtschaftlichen Reformen weitergehen müssen. In dieser Hinsicht sollte man keine Überraschungen erwarten.«

Der in Washington ansässige IWF ist sich da nicht so sicher. In einem Bericht vom September sorgt er sich um ein mögliches Wiederaufleben der Massenbewegung: »Wachsende soziale Spannungen – inklusive Streiks und Demonstrationen – könnten die Produktion weiter verlangsamen und die Durchsetzung der so dringend benötigten Reformen verzögern.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Oktober 2014


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