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Alte Garde greift nach der Macht

In Tunesien gewinnen Parteigänger des geschassten Präsidenten die meisten Sitze

Von Mirco Keilberth, Tunis *

Bei der Parlamentswahl in Tunesien ist die säkulare Partei Nidaa Tounès allem Anschein nach auf den ersten Platz gekommen. Die islamische Ennahda gestand ihre Niederlage ein.

Die Nutzer sozialer Medien wussten es zuerst. »Wir haben gewonnen, lang lebe Tunesien«, verkündete die säkulare Partei Nidaa Tounès am Montag auf ihrer Facebook-Seite. Ersten belastbaren Prognosen zufolge kommt Nidaa Tounès auf 83 Sitze im Parlament und wird damit zur stärksten Kraft. Die nach den ersten freien Wahlen vor drei Jahren regierende islamische Partei Ennahda liegt mit 65 Sitzen an zweiter Stelle im 217 Sitze-Parlament.

Ennahda-Sprecher Loftfi Zitoun beglückwünschte Nidaa Tounès zum Wahlsieg und forderte ihn gleichzeitig auf, Ennahda nicht von der Regierung auszuschließen.

Nach der Verabschiedung der neuen Verfassung im Januar war die Wahl vom vergangenen Sonntag für das nordafrikanische Land ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie. Erstmals seit dem Sturz von Machthaber Zine el Abidine Ben Ali Anfang 2011 wurden die Parlamentarier für volle fünf Jahre gewählt. Die Beteiligung lag bei über 60 Prozent, aber vor allem junge Leute blieben den Wahlurnen fern.

»Wie viele meiner Freunde habe ich für eine kleine Partei gestimmt«, sagt die Studentin Hend Hassassi enttäuscht. »Sie haben allesamt schlecht abgeschnitten und wieder bestimmen nur alte Herren über unsere Zukunft.«

Für Tunesien ist das Ergebnis eine Kehrtwende. Nach dem Sturz Ben Alis hatte die islamische Ennahda zwei Jahre lang die Regierung angeführt, bis sie Ende 2013 einvernehmlich von einem Technokraten-Kabinett abgelöst wurden, das die Neuwahlen vorbereiten sollte. Die Regierungszeit von Ennahda war gezeichnet von steigender Inflation, einer schwächelnden Wirtschaft und wachsender Gewalt durch Extremisten der mittlerweile verbotenen Ansar-Scharia-Miliz.

Nidaa Tounès gehören Wirtschaftstreibende, Gewerkschafter und viele Politiker aus der Regierungszeit Ben Alis an. Stabilität durch ihre Regierungserfahrung unter Ben Ali war den Wählern wohl wichtiger als die Versprechen der anderen Parteien im recht inhaltsleeren Wahlkampf.

Ausländische Wahlbeobachter lobten die demokratischen Fortschritte Tunesiens und würdigten den friedlichen Verlauf der Abstimmung, die von über 60 000 Sicherheitskräften bewacht wurde. Vorab waren Anschläge islamistischer Terroristen befürchtet worden.

Er vertritt die typisch tunesische französisch geprägte Moderne, die der erste Präsident der Republik, Habib Bourguiba, dem Land nach der Unabhängigkeit 1956 verordnet hatte. Essebsi war unter Bourguiba Innenminister und inszeniert sich als dessen Erbe, inklusive Sonnenbrillen im Bourguiba-Stil. Was seine Partei eint, ist ein offener Antiislamismus und Angst vor libyschen oder syrischen Verhältnissen.

Mit über mehr als 4000 Kämpfern bilden die Tunesier bei der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) in Syrien eine der stärksten Gruppen. Im Südwesten Tunesiens leiden vor allem junge Männer unter der hohen Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent, die Netzwerken die Rekrutierung für den Dschihad in Syrien leicht macht.

»Viele glauben, nur die Wahl zwischen IS und der Flucht nach Europa zu haben«, sagt Walid Hadouk, ein politischer Analyst. »Egal, wie die Regierungskoalition aussehen wird, es werden harte Entscheidungen getroffen werden müssen. Ennahda wird insgeheim froh sein, nicht wie 2011 alleine regieren zu müssen«, schätzt Hadouk.

Enttäuscht zeigen sich viele Vertreter der Zivilgesellschaft. Sie befürchten, im Kampf zwischen Polizei und Extremisten zwischen die Fronten zu geraten. Aus Syrien freiwillig zurückkehrende Islamisten werden in den Gefängnissen wie zu Regimezeiten oft gefoltert. »Wer sich für ihre Bürgerrechte einsetzt, läuft Gefahr, ebenfalls ins Visier der Polizei zu geraten«, sagt Mohamed Sabsi von der Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Er befürchtet, das brutale Vorgehen der Uniformierten treibe immer mehr Jugendliche in die Arme der Islamisten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Oktober 2014


Richtung Koalitionsregierung

Tunesien: Säkulare "Nidaa Tounes" gewinnt Parlamentswahl. Linke Volksfront viertstärkste Kraft

Von Sofian Philip Naceur **


Bei der Parlamentswahl in Tunesien am vergangenen Sonntag musste die islamisch-konservative »Ennahda«-Partei eine empfindliche Niederlage einstecken. Mit rund 31 Prozent der Stimmen landete sie auf Platz zwei hinter der erst 2012 gegründeten Partei »Nidaa Tounes« (Ruf Tunesiens), die auf Anhieb rund 37 Prozent erreichte. Damit kann »Nidaa Tounes« mit 83 Sitzen in der neuen 217köpfigen Abgeordnetenkammer rechnen, »Ennahda« mit maximal 68 Sitzen. Offizielle Endergebnisse werden Ende der Woche erwartet. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 62 Prozent höher als bei der Legislativwahl 2011. Von den rund 7,8 Millionen Wahlberechtigten hatten sich jedoch nur 5,3 Millionen für die jüngste Abstimmung registrieren lassen. Etwas mehr als drei Millionen Menschen waren am Sonntag zu den Urnen gezogen.

»Ennahda«-Chef Rachid Ghannouchi gestand nach Bekanntwerden erster Hochrechnungen die Niederlage seiner Partei ein und rief zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit auf. Eine Koalition mit »Nidaa Tounes« bleibt für »Ennahda« die einzige Möglichkeit, auch weiterhin an der Regierung beteiligt zu sein. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im Herbst 2011, die seither als Übergangsparlament fungiert, erreichte »Ennahda« noch selbst rund 37 Prozent der Stimmen. Nach dem Urnengang hatte sie eine Koalition mit zwei kleineren Parteien gebildet, der sozialdemokratischen Partei »Ettakatol« und dem zentristischen »Kongress für die Republik« (CPR) des amtierenden Präsidenten Moncef Marzouki. Diese zerbrach 2013 nach den Morden an den Linkspolitikern Mohammed Brahmi und Chokri Belaïd, beide aus den Reihen der Volksfront.

Die ehemaligen Bündnispartner von »Ennahda« erlitten in der jüngsten Abstimmung herbe Verluste. Während die CPR noch mit vier Sitzen rechnen kann, bleibt der Einzug von »Ettakatol« ins neue Abgeordnetenhaus unwahrscheinlich. Beide hatten seit 2011 mit dem sogenannten »Floor crossing«, dem Wechsel von gewählten Abgeordneten zu anderen Parteien, zu kämpfen. Während »Ettakatol« zehn seiner 20 Abgeordneten im Übergangsparlament an andere Parteien verlor, schlossen sich gar 17 von 29 Abgeordneten von Marzoukis CPR anderen Gruppierungen wie der neugegründeten »Nidaa Tounes« an oder gründeten eine neue, eigene Partei.

Drittstärkste Kraft wurde am Sonntag die wirtschaftsliberale antiislamistische »Freie Patriotische Union« des Oligarchen Slim Riahi mit 17 Sitzen. Die Volksfront, ein Bündnis zahlreicher linker Parteien, wird mit insgesamt zwölf Abgeordneten ins neue Parlament einziehen. 2011 hatten noch drei verschiedene Parteien aus den Reihen der Allianz insgesamt sechs Sitze im provisorischen Abgeordnetenhaus erhalten. Die neoliberale rechtsorientierte »Afek Tounes« kommt auf neun, die dem alten Regime nahestehende »Al-Moubadara« (Die Initiative) auf vier Sitze. Die verbleibenden 20 Sitze entfallen auf unabhängige Kandidaten und kleinere Parteien.

Damit steuert Tunesien tatsächlich auf eine Koalitionsregierung zu. »Nidaa Tounes«, ein Sammelbecken für ehemalige Funktionäre der »Konstitutionellen Demokratischen Sammlung« (RCD), der aufgelösten Regimepartei Ben Alis, braucht für eine Mehrheit in der Kammer ganze 109 Mandate und damit mindestens zwei Koalitionspartner. Die »Freie Patriotische Union«, »Afek Tounes« und »Al-Moubadara« haben beste Chancen auf Verhandlungen mit Béji Caïd Al-Sebsi, dem Parteichef von »Nidaa Tounes«. Schließlich finden sich in den Reihen der genannten Parteien ehemalige Vertreter von Ben Alis RCD. Während Riahis »Freie Patriotische Union« als Königsmacher in den anstehenden Koalitionsverhandlungen fungieren könnte, gilt ein Eintreten der Volksfront von Hamma Hammami in eine von »Nidaa Tounes« geführte Regierung als unwahrscheinlich. Das massiv gestärkt aus der Abstimmung hervorgegangene Linksbündnis versteht sich als dritte politische Kraft neben »Ennahda« und den Ben Ali nahestehenden Parteien. Während die Wahlkommission derweil weiter Stimmen auszählt, bereitet sich Tunesien bereits auf den nächsten Urnengang vor. Am 23. November wird ein neuer Präsident gewählt.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. Oktober 2014

Ban hails Tunisian vote as critical step as country continues transition to democracy

27 October 2014 – United Nations Secretary-General Ban Ki-moon today congratulated the Tunisian people on the legislative elections held in the North African country on 26 October, welcoming the polls as a “crucial step for the country’s future” and a “decisive milestone in the transition to democracy.”

“Just as this moment comes with a great deal of hope, there remain a number of crucial tasks ahead for the next Government,” Mr. Ban added in a statement issued by his spokesperson. “The United Nations stands ready to support Tunisia in this respect.”

The Secretary-General visited Tunisia in mid-October, meeting with President Moncef Marzouki and pledging the Organization’s full support for the North African nation as it continues along the road to democracy.

Last January, Tunisia’s Parliament adopted the constitution, the country’s first since massive public demonstrations ousted President Zine El Abidine Ben Ali in early 2011, the first regime to be toppled in the so-called Arab Spring.

In his statement, Mr. Ban also extended his congratulations to the Tunisian electoral authorities for their efforts in organizing the polling and for their continued work on the presidential elections scheduled for next month.

UN-News Centre, 27 October 2014; http://www.un.org/




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