Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tödliche Reise

Tunesien: Studentin aus Bonn an Straßensperre erschossen

Von Gerrit Hoekman *

Die Polizisten an der Straßensperre auf einer staubigen, kleinen Landstraße in Tunesien hatten gerade eine besorgniserregende Nachricht erhalten: Auf der schmalen Wüstenpiste sei mitten in der Nacht ein Auto unterwegs, das Terroristen an Bord habe. Bald darauf näherte sich tatsächlich ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit und raste durch die Sperre. Nach Warnschüssen eröffneten die Beamten das Feuer und erschossen zwei Insassen. Das ist zumindest die Version des tunesischen Innenministeriums.

Angesichts des täglichen Gemetzels in der arabischen Welt hätte es der Zwischenfall, der sich am Samstag vor einer Woche in der Nähe der algerischen Grenze ereignete, hierzulande kaum in die Medien geschafft. Doch eines der beiden Opfer war eine deutsche Jurastudentin aus Bonn. Die 21jährige Ahlam, die auch einen tunesischen Paß besaß, besuchte Verwandte in Kasserine, einer Provinzhauptstadt mit 80000 Einwohnern. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester und einigen Cousinen war sie auf dem Nachhauseweg von einer Feier. Als der mit sieben Personen besetzte PKW die Straßensperre erreichte, seien plötzlich bewaffnete Männer in Zivil aus einem Gebüsch gesprungen, so die Fahrerin Soudos Dalhoumi. Aus Angst vor einem Überfall gab sie Gas. Daraufhin eröffneten die Polizisten das Feuer auf den Wagen. Ahlam und eine 18jährige Cousine waren auf der Stelle tot.

Wußten die jungen Frauen aus Deutschland nicht, wie prekär die Lage in der Gegend um Kasserine ist? »Vor Reisen in die Gebirgsregionen nahe der algerischen Grenze sollte abgesehen werden«, warnt die Bundesregierung schon seit geraumer Zeit. Seit Monaten liefern sich hier radikale Islamisten regelmäßig Gefechte mit den tunesischen Sicherheitskräften. Es ist ein aufmüpfiger Landstrich. Nur hundert Kilometer entfernt, in Sidi Bouzid, steckte sich vor vier Jahren der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi aus Protest gegen eine Behördenentscheidung selbst in Brand und löste damit den sogenannten Arabischen Frühling aus. In Kasserine gingen daraufhin die Leute auf die Straße, um gegen den autoritären Präsidenten Ben Ali zu demonstrieren. Nach dem Sturz des Machthabers galt Tunesien lange als Musterland für einen friedlichen Übergang, doch inzwischen droht auch der kleine Staat am Mittelmeer in den blutigen Kampf zwischen Säkularismus und Religion hineinzuschlittern. In Tunis regiert die islamisch-konservative Ennahda-Partei. Manche Fundamentalisten werfen ihr vor, bei der Umsetzung der Scharia zu lasch vorzugehen, während die säkulare Opposition ihr vorhält, zuwenig gegen die Terroristen zu unternehmen.

Ende Mai griffen in Kasserine rund 20 bewaffnete Rebellen das Haus des tunesischen Innenministers an. Bei dem Gefecht, das mehr als eine halbe Stunde dauerte, starben vier Wachen, die Frau und Kind des Ministers beschützten. Zu dem Anschlag bekannte sich eine Gruppe namens »Islamischer Staat«, berichten tunesische Tageszeitungen. Inwieweit sie mit der gleichnamigen Terrororganisation in Syrien und im Irak in Verbindung steht, ist unklar. Die Polizei geht davon aus, daß die Täter zu den Ansar Al-Scharia (Partisanen der Scharia) gehören, die mit der Al-Qaida verbandelt sind und in Nordafrika und dem Jemen operieren.

Angesichts des gemeinsamen Feindes, der über die Staatsgrenzen hinweg agiert, haben Algier und Tunis eine engere militärische Zusammenarbeit vereinbart. Ende Oktober wählt Tunesien ein neues Parlament, einen Monat später den Staatspräsidenten. Viel Hoffnung auf eine Verbesserung der Sicherheitslage besteht nicht, denn den Gotteskriegern sind Wahlergebnisse herzlich egal. Sie lehnen den Parlamentarismus ab.

* Aus: junge Welt, Montag 1. September 2014


Zurück zur Tunesien-Seite

Zur Tunesien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage