Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tunesien im Visier des IS

Attentäter von Tunis sollen in Lagern der Terrormiliz in Libyen gedrillt worden sein. Sicherheitsvorkehrungen verschärft

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Nach dem Anschlag auf das Nationalmuseum von Bardo in Tunis am vergangenen Mittwoch stehen Tunesien unruhige Zeiten bevor. Die Regierung verstärkte nach dem Attentat, bei dem 20 ausländische Touristen und drei Tunesier getötet wurden, die Sicherheitsvorkehrungen im Land. Vor Regierungsgebäuden und touristischen Einrichtungen wurden zusätzliche Einsatzkräfte stationiert und die mit der Terrorismusbekämpfung betrauten Institutionen in Alarmbereitschaft versetzt. Kulturministerin Latifa Lakhdhar kündigte derweil die Wiedereröffnung des Museums unter strengen Sicherheitsvorkehrungen für kommende Woche an.

Die Regierung bestätigte inzwischen die Identität der beiden Geiselnehmer, die sich nach ihrem Angriff auf vor dem Bardo stehende Touristenbusse im Inneren des Museums verschanzt hatten und bei der Stürmung des Gebäudes durch Spezialeinheiten der Polizei getötet wurden. Die Attentäter Yassine Abidi und Hatem Khachnaoui seien tunesische Staatsbürger, in tunesischen Moscheen von radikalislamistischen Gruppen für den Krieg im Nachbarland Libyen rekrutiert und dort in Lagern des libyschen Ablegers der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) ausgebildet worden. Der IS bekannte sich am Donnerstag zu dem Anschlag. Tunesiens Regierungschef Habib Essid betonte, Abidi sei vom Geheimdienst nach seiner Rückkehr nach Tunesien überwacht worden, konkrete Anhaltspunkte für eine von ihm ausgehende Gefahr habe es jedoch nicht gegeben. Eine der größten in Tunesien und Libyen operierenden Terrorgruppen, Ansar Al-Scharia, hatte sich im Herbst dem IS angeschlossen. Die Gruppe sendete zuletzt jedoch widersprüchliche Signale bezüglich ihres Bündnisses mit der hauptsächlich im Irak und in Syrien wütenden Terrormiliz.

Bereits zwei Tage vor dem Anschlag war das tunesische Innenministerium am Montag gegen mehrere angebliche Terrorzellen im Land vorgegangen und hatten mindestens 22 Menschen verhaftet. Nach offiziellen Angaben seien zudem weitere zehn Tunesier bei dem Versuch festgesetzt worden nach Libyen auszureisen, um sich islamistischen Milizen anzuschließen. In einer Stellungnahme des Ministeriums hieß es, libysche Terrornetzwerke würden eng mit tunesischen Terroristen kooperieren und mehrere Ausbildungscamps in Libyen unterhalten. In den Medien kursieren erschreckende Angaben über die Anzahl der Tunesier, die sich dem IS angeschlossen haben sollen. Insgesamt 3.000 sollen es sein. Tunesische Behörden gehen aktuell von rund 500 Rückkehrern aus.

Bislang konzentrierten sich die Anschläge von Ansar Al-Scharia in Tunesien jedoch auf staatliche Einrichtungen im Süden des Landes. Anschläge auf Touristen sind für derartige Gruppen allerdings nicht neu, sie beabsichtigen damit, Regierungen politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren und in der Folge ihre Rekrutierungsmöglichkeiten zu erweitern. Tunesien ist stark vom Tourismus abhängig, der mit rund zwölf Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt. Zudem könnte der Konkurrenzkampf zwischen dem IS und dem Terrornetzwerk Al-Qaida bei dem Anschlag am Mittwoch eine Rolle gespielt haben. Nachdem er jüngst seinen Einfluss in Libyen gesteigert hat, kann der IS nun auch einen öffentlichkeitswirksamen Anschlag im Herzen Tunesien für sich verbuchen – und kommt damit seinem Ziel, Al-Qaida in Nordafrika den Rang abzulaufen, einen Schritt näher.

Derweil bleibt fraglich, ob die tunesische Regierung der nationalen Einheit Bestand haben wird. Die dem 2011 gestürzten Regime von Zine Al-Abidine Ben Ali nahestehende Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) hatte die Parlamentswahl im Herbst vergangenen Jahres zwar gewonnen, sich jedoch zu einer Koalition mit der islamistischen Ennahda-Partei durchgerungen. Tunesiens Präsident Béji Caïd Al-Sebsi, Mitbegründer von Nidaa Tounes, warf der Ennahda nun vor, in der Phase vor den jüngsten Wahlen nicht entschieden genug gegen den islamistischen Extremismus im Land vorgegangen zu sein, als die Partei Regierung und Parlament dominiert hatte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. März 2015


Zurück zur Tunesien-Seite

Zur Tunesien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Terrorismus-Seite

Zur Terrorismus-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage