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Hemmschuh der Märkte

Konkurrenz ausschalten, Gesetze zurechtbasteln, den Herrscherclan bereichern: Das globale Kapital hat meist wenig Sympathien für Kleptokraten

Von Georges Hallermayer *

Ausbeutung geht okay, aber bitte mit Maß. So oder ähnlich könnte die Botschaft lauten, wenn sich imperiale Leitmedien wie die Washington Post über Kleptokraten auslassen – Leuten, die sich lange der wohlwollenden Duldung Washingtons gewiß sein konnten. »Tunesiens goldenes Zeitalter kapitalistischer Vetternwirtschaft« lautete die Schlagzeile am 27. März. Die Zeitung bezog sich auf eine Untersuchung, die die Weltbank am selben Tag (Nummer WPS 6810) veröffentlicht hatte. Titel: »All in the family: state capture in Tunesia« (sinngemäß: »Alles gehört der Familie: Gekaperter Staat in Tunesien«). Dieser Bericht machte nochmals deutlich, wie der frühere Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali (er »regierte« von 1987 bis 2011) und sein Clan staatliche Institutionen manipulierten und regulierten, um sich die Taschen zu füllen. Das Ausmaß war selbst für Leute, die einiges gewöhnt sind, beträchtlich: Nach dem Volksaufstand 2011 in Tunesien beschlagnahmten die Behörden 550 Grundstücke, 48 Boote und Jachten, 40 Aktienportfolios, 367 Bankkonten und annähernd 400 Unternehmen. Die zuständige Regierungskommission schätzte den Gesamtwert dieses Besitzes, vermutlich des gesamten »Hab und Guts« der Ben-Ali-Familie, auf umgerechnet mindestens 13 Milliarden US-Dollar (9,4 Milliarden Euro). Das entspricht etwa einem Viertel des tunesischen Bruttoinlandsprodukts 2010. Unglaubliche 21 Prozent des Gewinns des gesamten privatwirtschaftlichen Sektors Tunesiens – so errechnete die Autorengruppe der Weltbank – heimsten etwa 220 Unternehmen ein, die dem Präsidenten und seiner Großfamilie gehörten.

Wie konnten diese Firmen ihre Profite in solch astronomische Höhen treiben? Die Antwort ist kurz und bündig: Man nutzt die Investitionsgesetze beziehungsweise paßte sie dem eigenen Vorteil an. Protektionistische Regulierungen werden normalerweise zum Schutz der heimischen Wirtschaft gegen übermächtige internationale Konkurrenz erlassen. Ben Alis Familie boten sie indes privilegierten Zugang in stark regulierten Sektoren wie der Telekommunikationsbranche, der Luft- und Schiffstransportgeschäfte, Banken, den Handel mit Grundbesitz und der Hotellerie. Sie nutzten Zugangsbeschränkungen für höhere Preise, erreichten größere Marktanteile für die Unternehmen des Clans. Im Extremfall hieß es für Konkurrenten »Ben Ali oder Pleite«. So mußte selbst McDonalds seinen verpatzten Eintritt in den tunesischen Markt reparieren, nachdem die Regierung die Betriebserlaubnis verweigert hatte. Konsequenz: Die globalen Boulettenkönige mußten sich dem örtliche Fürsten beugen und die »falschen Franchise-Partner« auswechseln. Wenn bestehende Regulierungen nicht ausreichten, die Familienbelange vor Konkurrenz zu bewahren, schuf der Präsident neue. Ben Ali unterschrieb den Untersuchungen zufolge in einem Zeitraum von 16 Jahren 25 Dekrete, die in 45 verschiedenen Sektoren neue Zulassungsbedingungen setzten, und in 28 Sektoren neue Beschränkungen für ausländische Investitionen einführten. Es überrascht nicht, daß seine Familienbande und deren Unternehmen überdurchschnittlich davon profitierten.

Tunesien ist ein Fall von vielen. Erinnert sei nur an den »Löwen von Zaire«, den langjährig herrschenden Präsidenten der heutigen Demokratischen Republik Kongo, Mobuto Sese Seko. Mehr als 20 Milliarden Dollar soll dessen Clan in seiner »Amtszeit« ergaunert und dann großteils auf Schweizer Banken gebunkert haben. Oder Imelda Marcos auf den Philippinen, der Kommunistenfresser Suharto in Indonesien. Auch im angeblich so hochzivilisierten »westlichen Werten« unterworfenen Italien hat zuletzt der reichste Mensch der Landes mehr als zehn Jahre die Politik dominiert.

Heute sind – bei aller Vorsicht – derartige Extrembereicherungstendenzen der »herrschenden« Familien vielerorts zu sichten. In Angola beispielsweise, wo Isabel Dos Santos, die Tochter des amtierenden Staatspräsidenten und ehemaligen »Sozialisten« auf Platz zwei der reichsten Frauen Afrikas aufgestiegen ist. Oder Platzt drei, den »Mama« Ngina Kenyatta, Witwe des früheren Staatspräsidenten Jomo Kenyatta und Mutter des amtierenden Präsidenten Uhuru Kenyatta einnimmt. Hinzu kommen die Öl- und rohstoffreichen früheren Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Turkmenien, deren Staatschefs ebenfalls der Meinung sind, ihnen gehöre das Land persönlich. Eine Ausnahme scheinen die mittelalterlich geprägten Dynastien am arabischen Golf zu bilden, angeführt von den »Halsabschneidern« Saudi-Arabiens. Sie gelten dem westlichen Kapital und seinen Medien aus geostrategischen Gründen immer noch als weitgehend sakrosankt. Die »Prinzengarde« der Scheichtümer zählt übrigens in vielen Westkonzernen zu den umtriebigsten und einflußreichsten »Investoren«.

Der »tunesische Frühling« hat 2011 mit dem System von Ben Ali und seinem Clan Schluß gemacht. Das kapitalistische System, das mit der privaten Aneignung des geschaffenen Mehrwerts steht und fällt, besteht nicht nur weiter, sondern die Produktivkräfte wurde quasi von den Fesseln des kleptokratischen Subjektivismus befreit. Jetzt regieren die »Märkte«. Von der Stärke der tunesischen Opposition wird abhängen, wie weit der Kampf gegen Korruption und gegen Vetternwirtschaft tatsächlich getrieben wird und Investitionsentscheidungen zugunsten der Bevölkerung umgesteuert werden können. Ansonsten könnte Ben Alis abstoßendes Beispiel als Vorwand dienen, dem politisch-ökonomischen Einfluß des internationalen Finanzkapitals Tür und Tor zu öffnen.

(Mitarbeit: Dieter Schubert)

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. April 2014


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